Frau hebt Hände schützend vor Gesicht
Gewalt gegen Frauen ist keine Seltenheit. Nach der Gewaltschutzstudie des sächsischen Justizministerium ist ein Drittel der Frauen schon einmal zu sexuellen Handlungen gezwungen worden. Bildrechte: IMAGO / Wirestock

Gewalt gegen Frauen Betroffene: "Wir sprechen von institutioneller Gewalt und Kindeswohlgefährdung"

21. November 2023, 05:00 Uhr

Bettina Schneider hat als Frau selbst Gewalt erfahren und musste mit ansehen, wie ihre Tochter im Streit um ihr Kind zerbrach. Nachdem sie ihren Enkel bei sich aufnahm, klagte der Vater, nahm das Kind zu sich und isolierte es von Mutter und Großmutter. Neben der körperlichen ist auch die institutionelle Gewalt eine große Gefahr, warnt die Dresdnerin. Sie hat die Bundesinitiative Gewaltschutz mitgegründet und schreibt gerade an einem Buch, um über Gewalt gegen Frauen aufzuklären.

Frau Schneider, Sie schreiben an einem Buch, das sich mit Gewalt beschäftigt. Wie wird es heißen?

Das kann ich natürlich noch nicht definitiv sagen. Doch es hat den Arbeitstitel: "Zerstörungswut: Kinder zwischen Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung".

Das klingt hart!

Es ist auch hart. Es ist sogar ganz schlimm, ich hätte mir das vor fünf Jahren auch nicht vorstellen können. Doch je tiefer ich eintauche, desto schlimmer wird es. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass das alles in einem Rechtsstaat möglich ist.

Was meinen Sie damit?

Tagtäglich finden in Deutschland Menschenrechtsverletzungen durch Familiengerichte und Jugendämter statt. In dem Augenblick, in dem Frauen Gewalt anzeigen, findet im Gerichtssaal eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Frauen werden als bindungsintolerant, psychisch instabil, suizidgefährdet, entfremdend oder in anderer Weise für nicht fähig befunden. Alles frauenfeindliche Narrative, die wissenschaftlich überhaupt nicht haltbar sind. Die beteiligten Professionen wie Gutachter, Sachbearbeiter der Jugendämter und Verfahrensbeistände fühlen sich ganz schnell berufen, irgendwelche Diagnosen in den Raum zu werfen. Das dürfen sie gar nicht, das kann nur ein Facharzt. Der Schutz der Täter steht über dem Wohl des Kindes. Es reicht lediglich die Äußerung des Vaters und schon steht die Polizei vor der Tür.

Sie übertreiben, so einfach ist das nicht!

Leider doch. Oft reichen einfache Äußerungen aus. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Vor etwa einem Jahr stürmte die Polizei eine Mutter-Kind-Einrichtung in Königshain bei Görlitz. Dort hatte eine 31-Jährige eine Obhut gesucht. Die Polizei entrissen ihr – vor den Augen aller – den fünf Wochen alten Säugling, um ihn dem Vater zu übergeben. Die Frau erfuhr kurz nach der Trennung aus ihrer gewaltvollen Beziehung von ihrer Schwangerschaft. Der Vater hatte dann einfach behauptet, seine Frau plane einen erweiterten Suizid. Das Familiengericht folgte seinen Ausführungen und ging von akuter Kindeswohlgefährdung aus. Natürlich muss man Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung nachgehen. Doch reicht dafür ein einziger Hinweis von einem Ex-Partner, der gekränkt und wütend ist? Warum kommt man nicht der Pflicht zur Amtsermittlung nach, man hätte die Betreuungsperson in der Einrichtung befragen können.

(Anmerkung der Redaktion: Nach der Veröffentlichung wendete sich der Vater des Kindes an den MDR und widerspricht der Darstellung. Wie es sich tatsächlich zugetragen hat, wissen wir nicht. Wer am Ende Recht behält, muss die Justiz klären. Nach Angaben der ermittelnden Staatsanwaltschaft sind von beiden Parteien wechselseitig mehrere Strafanzeigen eingegangen, die überwiegend eingestellt worden sind. Der von Frau Schneider beschriebene Polizeieinsatz in Königshain erfolgte laut Polizei auf Grundlage eines Herausgabebeschlusses eines Familiengerichts in Bayern.)

Hilfe für Frauen Von Gewalt betroffene Frauen* aus Leipzig und Umgebung, die nach einem Platz in einer Frauen- und Kinderschutzeinrichtung suchen, können sich an die Zentrale Sofortaufnahme der Frauen*-und Kinderschutzhäuser Leipzig unter der zentralen Rufnummer 0341/550104-20 wenden.

Bei dem Einsatz gab es auch viel Kritik an der Polizei!

Ja. Doch ich weigere mich, den schwarzen Peter den Polizeibeamten und den Beamtinnen in die Schuhe zu schieben. Polizistinnen und Polizisten sind ja selbst oft Mütter und Väter. Da muss man differenzieren, solche Einsätze traumatisieren sie auch. Deswegen gibt es ja seit Jahren Forderungen, Kinderpsychologen bei solchen Einsätzen dabei zu haben. In Königshain gab es diesen auch nicht.

Wie geht es der Mutter heute?

Sie steht kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen zur Juristin und hat jetzt Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Ihre Beschwerde wurde angenommen.

Doch in dieser Tragik handelt es sich doch bestimmt um einen Einzelfall?

Nein, es sind eben keine Einzelfälle. Man mag das vermuten in einem Rechtsstaat, doch das ist leider nicht der Fall. Wir haben im Dezember 2022 mit der Bundesinitiative für Gewaltschutz über 60 Fälle dem UN-Hochkommissariat übergeben. Sie fanden Eingang in den Bericht der UN-Sonderbotschafterin Reem Alsalem, der diesem Sommer dem Menschenrechtsrat in Genf übermittelt wurde.

Was sagt der Menschenrechtsrat in Genf?

Alle von uns eingereichten Fälle wurden als Menschenrechtsverletzung deklariert. Das scheinen hier nur wenige zu verstehen. Insgesamt 80 Staaten haben diesen Bericht und die darin deklarierten Menschenrechtsverletzungen anerkannt. Deutschland schweigt. Die Sonderbotschafterin Reem Alsalem konnte es überhaupt nicht fassen und erklärte: "Wie können Familiengerichte Schauplatz solch' ungeheuerlicher Formen von Gewalt gegen Mütter und Kinder sein, und das ungestraft?"

Sie wollen hier etwas ändern?

Ja, natürlich. Deswegen habe ich die Bundesinitiative für Gewaltschutz mitbegründet. Zusammen mit den Mias - der Mütterinitiative für Alleinerziehende - fordern wir die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Hier ist ganz besonders Artikel 31 wichtig. Gewalt gegen Frauen und Kinder muss zwingend bei Familiengerichten berücksichtigt werden.

Wir fordern die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Gewalt gegen Frauen und Kinder muss bei Familiengerichten berücksichtigt werden.

Bettina Schneider Bundesinitiative für Gewaltschutz und Betroffene

Die Istanbul-Konvention wurde von Deutschland doch bereits 2017 ratifiziert?

Ja, das ist richtig. Doch sie findet leider bis heute keine Anwendung. Das ist jetzt auch unserem Bundesjustizminister Buschmann aufgefallen. Auf Anfrage der Linken im Bundestag teilte er mit, er wolle sich überlegen, ob und wie die Istanbul-Konvention in familiengerichtlichen Verfahren umgesetzt werden kann.

Was sind konkret Ihre Vorwürfe?

Wir sprechen hier von institutioneller Gewalt und institutioneller Kindeswohlgefährdung. Unsere Vorwürfe von der Bundesinitiative für Gewaltschutz richten sich an Familiengerichte, JugendamtsmitarbeiterInnen, Verfahrensbeistände und GutachterInnen. Sie betreiben eine Täter-Opfer-Umkehr und folgen Narrativen wie der Bindungsintoleranz von Frauen. Betroffen sind auch besonders kluge und selbstständige Frauen wie Professorinnen, Journalistinnen, Kinderärztinnen, Lehrerinnen. Nochmal schlimmer wird institutionelle Gewalt, wenn es sich um Frauen mit einem migrantischen Hintergrund dreht.

Wir sprechen hier von institutioneller Gewalt und institutioneller Kindeswohlgefährdung.

Das ist ziemlich pauschal und lässt sich schwer greifen? Es gibt doch eine gesetzliche Grundlage, die wird doch nicht ausgehebelt?

Gott sei Dank gibt es viele normale Verfahren, die gut laufen. Uns geht es auch nicht darum, dass Väter kein Recht auf ihre Kinder haben. Uns geht es darum, dass Gewaltanwendung bei der Beurteilung familiärer Situationen nicht berücksichtigt wird. Im Gegenteil, Frauen müssen sich rechtfertigen und werden diffamiert, wenn sie Gewalt gegenüber sich und ihrem Kind anzeigen. Schlimmer noch: Anwälte raten mittlerweile von einer Anzeige ab, um den Entzug des Sorgerechts nicht zu riskieren.

Das verstehe ich nicht?

Erleben Kinder Gewalt gegen sich und/oder die Mutter verweigern sie oft den Umgang mit dem Vater. Eine Umgangsverweigerung zum Vater sieht man aber als Kindeswohlgefährdung an. Das gilt aber nur, solange die Kinder bei der Mutter leben. Werden sie – oft mit Gewalt und gegen ihren ausdrücklichen Willen dem gewalttätigen Vater übergeben, werden die Mütter oft ganz schnell aus dem Leben ihrer Kinder geworfen und sehen sie manchmal jahrelang nicht mehr. In der Kinderpsychologie gibt es einen ganz wichtigen Satz: die Annahme des guten Grundes. Ein Kind, welches Gewalt erlebt oder den Vater gar nicht kennt, hat einen guten Grund, den Umgang zu verweigern. Das findet überhaupt keine Beachtung.

Das wird nicht berücksichtigt?

Wenn die Väter von den Kindern abgelehnt werden, schieben sie den Müttern die Schuld in die Schuhe. Je nach Verfassung und Ressourcen der gewalttätigen Väter wird dann geklagt. Es folgen teilweise lange Rechtsstreits mit Gutachten et cetera, in denen Frauen oft den Kürzeren ziehen. Wie gesagt, es ist ein bisschen wie vor 150 Jahren. Dann wird den Frauen Hysterie oder psychische Labilität nachgesagt - und schon haben sie ein Problem. Nicht etwa der gewalttätige Mann.

Wir sammeln Beispiele von betroffenen Frauen. Sätze von Verfahrensbeiständen, RichterInnen und JugendamtsmitarbeiterInnen wie "Ein Kind hat kein Recht auf perfekte Eltern. Ein Kind kann auch an Schlägen wachsen" oder "Die Vergewaltigung ist doch schon ein Jahr her. Wenn Sie darauf herumreiten, muss ich Sie als nachtragend ansehen" oder "Deutsche Jungs müssen von deutschen Vätern erzogen werden". Ich kann Ihnen noch mindestens 20 weitere Beispiele nennen.

Doch es gibt unabhängige Gutachten?

Es gibt Gutachten. Doch leider gereicht laut Professor Werner Leitner von der IB Hochschule Berlin nur eine Minderheit der Familiengutachten wissenschaftlichen Standards. Es ist alles nicht so unabhängig, wie es scheint. Es gibt auch Studien, die nachweisen, dass Gutachter nicht selten den Tendenzformulierungen der Gerichte und Jugendämter folgen. Richter hören beim Verfahren oft nicht das erste Mal von dem Fall. Oft haben sie sich im Vorfeld an runden Tischen schon mit dem Jugendamt besprochen. Inobhutnahmen sind zum Geschäftsmodell geworden. Zwischen 5.000 und 7.000 Euro erhalten Einrichtungen, wenn sie Kinder aufnehmen. Für die Kinder ist es besonders schlimm, sie erleben massive Bindungsabbrüche und sind fürs Leben geschädigt. Sie erleben, dass sie nicht selbstwirksam sind, ihnen wird ihr Wille abgesprochen. Das ist institutionelle Kindeswohlgefährdung. Was nutzt Gewaltschutz, wenn er von Familiengerichten ausgehebelt wird?

Inobhutnahmen sind zum Geschäftsmodell geworden.

Sie sind auch selbst betroffen?

Ja, es ist eine tragische Geschichte. Meine Tochter war schwanger von einem Mann, den sie nur sechs Wochen vorher kannte. Er verlangte von ihr, abzutreiben. Das tat sie nicht und gebar ihren Sohn. Als dieser vier Jahre alt war, fing er an, sich für seinen Sohn zu interessieren. Seine Eltern erfuhren erst zu diesem Zeitpunkt, dass sie Großeltern waren. Sie drängten auf die Wahrnehmung des Sorgerechts. So lernte der Junge nach vier Jahren seinen Vater und seine anderen Großeltern kennen, die ihn fortan sehen wollten.

Das waren ja dann völlig fremde Menschen für den kleinen Jungen…

Den Vierjährigen stresste das enorm, er nässte wieder ein, er hatte totale Angst. Ebenso meine Tochter, sie zerbrach daran. Später hat mein Enkel bei mir gewohnt. Der Kindsvater kam eines Tages und schlug mich, sein Vater drückte mich an die Kellertür und würgte mich. Meine Nachbarn haben mir geholfen. Was folgte, wurde mir alles negativ ausgelegt. Der Sohn kam zu seinem Vater, Kontaktversuche des Kindes zu mir wurden vereitelt. Einmal rief er mich an, wir redeten kurz, dann sagte er: "Omi, ich leg' mal schnell auf, sonst schlägt der mich wieder zusammen."

Einmal rief er mich an, wir redeten kurz, dann sagte er: "Omi, ich leg' mal schnell auf, sonst schlägt der mich wieder zusammen."

Was haben Sie dann gemacht?

Ich habe eine Anzeige wegen einer Kindeswohlgefährdung aufgegeben. Doch ich hatte keine Chance. Erst ist wochenlang nichts passiert, dann tauchte das Jugendamt zum Geburtstag meines Enkels auf und schließlich hieß es, ich hätte dem Kind den Geburtstag verdorben und würde der Reputation des Vaters schaden, was würden bloß die Nachbarn sagen, wenn das Jugendamt hier ein- und ausgehe. Es ging überhaupt nicht um das Kind.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Weder ich noch meine Tochter haben Kontakt zu dem Jungen. Anrufe werden nicht durchgestellt und ihm wird nicht die Möglichkeit gegeben anzurufen. Kindeswohlgefährdung nach gängiger Interpretation in diesem Fall ist, wenn man seinem Kind schreibt, 'Ich hab' Dich lieb'. Keine Kindeswohlgefährdung ist es, wenn ein Kind mit Alkohol, Waffen und rechter Hetze aufwächst. Was soll ich tun? Ich habe gekämpft, ich hatte keine Chance, gegen das System anzukommen.

Doch Sie engagieren sich jetzt…

Ja. Ich kämpfe für die Kinder, sie brauchen Hilfe. Für meinen Kleinen kann ich jetzt eh' nichts mehr tun.

Was fordern Sie?

Wir fordern einen Untersuchungsausschuss auf Bundes- und Länderebene, der wie bei den Missbrauchsfällen alle Fälle noch einmal einzeln untersucht. Wir fordern eine Qualifizierungsinitiative – Familienrecht darf im Studium keine Randnotiz mehr sein, eine Fachaufsicht der Jugendämter. Außerdem: Gutachter und Verfahrensbeistände dürfen nicht mehr von den Richtern ausgewählt werden.

Wir fordern einen Untersuchungsausschuss auf Bundes- und Länderebene, der wie bei den Missbrauchsfällen alle Fälle noch einmal einzeln untersucht.

Wann wird ihr Buch fertig sein?

Im nächsten Jahr möchte ich es abschließen. Dafür arbeite ich auch mit Professor Voß von der Hochschule Merseburg zusammen. Er hat gerade im Auftrag des Justizministeriums Sachsen eine Gewaltschutzstudie durchgeführt. Dabei sind ihm auch Fälle von institutioneller Gewalt über den Weg gelaufen. Das will er sich in einer zweiten Studie noch einmal genauer ansehen – auch mit Hilfe meines Buches.

Doch vorher planen Sie noch etwas Anderes?

Am 25. November ziehen wir mit vielen anderen betroffenen Frauen bundesweit vor die Familiengerichte und legen weiße Lilien nieder. Das Motto der vierten Aktion der Mütterinitiative für Alleinerziehende (Mias): Tausche weiße Lilie gegen Gewaltschutz.

Informationen zu Gewaltschutz in Sachsen

Wo Frauen Hilfe finden, erfahren Sie auf dieser Seite.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 21. November 2023 | 20:00 Uhr

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