"Das beispielhafte Leben des Samuel W." Theater Zittau bringt aktuelle Politik auf die Bühne - Premiere überzeugt
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22. Januar 2024, 12:47 Uhr
Vor zwei Jahren beauftragte das Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau den Görlitzer Schriftsteller Lukas Rietzschel, ein Stück zu schreiben. Einzige Bedingung: Es sollte einen Bezug zur Region haben. Rietzschel nahm sich den Oberbürgermeister-Wahlkampf seiner Heimatstadt von 2019 vor und interviewte rund 100 Menschen über den AfD-Kandidaten, der in der ersten Wahlrunde die meisten Stimmen bekam. Am Samstag wurde das Stück in Zittau uraufgeführt. Eine Punktlandung, findet unser Kritiker.
- Das Stück thematisiert die vergangenen 40 Jahre ostdeutscher Geschichte, möchte dabei aber nicht belehren, sondern einen Dialog ermöglichen.
- Der Autor Lukas Rietzschel, der selbst in Görlitz lebt, stellt Themen in den Vordergrund, die seit der Wiedervereinigung alle im Osten beschäftigen.
- Das Stück stellt die großen und kleinen Fragen unserer Demokratie - hat aber auch lockere und lustige Momente in denen ABBA gesungen wird.
Reden wir eigentlich noch mit- oder nur noch übereinander? In Lukas Rietzschels Stück ist zu erleben, wie verschieden die Erinnerungen und Wahrnehmungen sein können. Da sagt einer: "Die 90er-Jahre waren die schönste Zeit meines Lebens." Eine Frau antwortet: "Die 90er? Das waren schreckliche Jahre!" Daraus und auch aus dem, was verschiedene Menschen daraus schlussfolgern, einen Dialog zu machen, darum geht es diesem Stück.
Theaterwerk als Zeitreise durch ostdeutsche Geschichte
Rietzschels Text-Collage aus einer Vielzahl von Interviews ist kein klassisches Dokumentartheater. Vordergründig mag es um den Kandidaten Samuel W. und dessen Biografie und Prägungen gehen. Die große Qualität des Textes aber ist es, sich ebenso mit den Erinnerungen der befragten Menschen an die vergangenen 30 oder gar 40 Jahre zu beschäftigen. Auf der Bühne zu erleben ist ein dichtes, erstaunlich reichhaltiges Kondensat der jüngsten Geschichte, das vom Aufwachsen in der späten DDR handelt und dann vor allem die Nachwendeerfahrungen der Ostdeutschen thematisiert. Es erzählt von den Verwundungen, die diese Zeit vielen zugefügt hat. Wie bereits in seinen Romanen und vorherigen Stücken gelingt es Lukas Rietzschel, die verschiedenen Erinnerungen abzuklopfen auf die Folgen, die sie bis heute haben könnten – auch politisch.
Zwar geht es um den Aufstieg der AfD, aber dieses Stück und diese Inszenierung kommen nicht als Belehrung daher. Nichts daran ist vordergründig so etwas wie politische Bildung oder gar Agitation. Dieser Theaterabend ermöglicht, noch einmal über die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nachzudenken. Rietzschel trägt darin keine Haltung vor sich her, obwohl er sich im Programmheft richtiggehend in Rage redet darüber, dass sich zu wenige Ostdeutsche selbst in der Politik engagieren und zu viele stattdessen nur meckern oder eben die AfD wählen. Sein Stück aber, eine geschickte Montage aus Interview-Zitaten, ist ein Text für alle, die er im gemeinsamen öffentlichen Raum Theater zum Dialog anregen will und sicher auch wird.
Der Ostbeauftragte der Herzen
Das Stück ist – bei allem Ernst – in Momenten sehr humorvoll, es geht liebevoll mit den Personen um, die der Autor interviewt hat. Der Autor vermittelt gewissermaßen, was eine seiner großen Gaben ist. Im MDR-Film "Lukas Rietzschel. Der Grenzgänger" nennen wir den 1994 geborenen Autor deshalb augenzwinkernd einen "Ostbeauftragten der Herzen" - weil er die Brüche in den Biografien der Menschen um ihn herum wie kaum ein anderer Autor wahrnimmt, was vielleicht auch daran liegt, dass er in Görlitz lebt. Die Stadt, in der das Stück spielen könnte.
Es könnte aber auch jeder andere Ort im Osten sein. Die Themen sind es, die Fragen, die sich nach der Wiedervereinigung überall im Osten stellten. Auch in diesem Stück ist zu hören, dass viele Ostdeutsche es nie richtig verwunden haben, dass man sie irgendwie als zweitklassig wahrnimmt, und wie befremdlich es auf viele wirkt, wenn Westdeutsche ihnen sagen: Wir erkennen jetzt mal eure Lebensleistung an.
Das Bühnenbild als weiße Leinwand
Das Team um Regisseur Ingo Putz trägt mit einer so simplen wie wirkungsvollen Inszenierungsidee dazu bei, dass man sich von den mal verbitterten, mal aber auch sehr pointierten Texten anregen lassen kann. Alles auf der Bühne ist weiß. Kulissen und Kostüme in der Farbe der Unschuld, der Reinlichkeit, der Reinheit? Jeder wird es selbst interpretieren, jeder wird woanders dunkle Flecke auf der weißen Weste sehen - das ist das Prinzip. Hier wird explizit keine Realität gezeigt, keine AfD-Plakate oder Ähnliches.
Wir erleben eine Gruppe von Menschen, die in wechselnde Rollen schlüpfen und dabei ein Haus bauen. Wir bauen eine neue Stadt, singen sie anfangs kurz, so etwas wie Hoyerswerda vielleicht, oder ein neues Wohngebiet nach der Wiedervereinigung.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler sprechen anfangs viele der Texte chorisch, im Laufe des Abends werden die Interview-Zitate mehr und mehr zu Dialogen. Dazu spielen sie Skat oder Tischtennis – da beispielsweise wirken die Texte wie eine Art Ideen-Chinesisch. Wer eine Metapher sucht, wird sie in vielen dieser Bilder finden. Jedes Spiel hat Regeln, an die man sich halten muss, wäre eine davon.
Zwischen demokratischen Dialogen und ABBA
Der Abend ist mit gerade mal 80 Minuten sehr kurz, vor allem aber sehr kurzweilig. Man spürt regelrecht, wie einzelne Sätze im Publikum ankommen, wenn Leute sich wiedererkennen. Und immer dann, wenn es doch einmal ein bisschen thesenhaft wird, sorgt Rietzschel im Text selbst für eine Abwechslung. Dann wird ABBA gesungen, Fernando, weil einer seiner Gesprächspartner so hieß. Oder er sorgt für Schmunzeln, wenn gesagt wird, es müsse jetzt nicht nochmal gewählt werden, das sei ja hier kein Schirach-Stück. Das Ensemble auf der Bühne nimmt diese kleinen Einlagen dankbar an.
Eine überzeugende Inszenierung, die auf einer zweiten Ebene von den großen und den kleinen Fragen unserer Demokratie handelt. Wie gehen die Kandidaten miteinander um? Darf der eine dem anderen öffentlich die Hand geben, oder würde das gegen ihn verwendet werden? Samuel W. selbst übrigens spielt nicht aktiv mit, er verfolgt von einem Podest in der Bühnenmitte stumm das Geschehen, während der echte Sieger der Wahl und heutige CDU-Bürgermeister von Görlitz, Octavian Ursu, bei der Premiere im Publikum saß.
Mehr Informationen zum Stück
"Das beispielhafte Leben des Samuel W." von Lukas Rietzschel am Gerhart-Hauptmann-Theater in Zittau
Adresse:
Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau GmbH
Theaterring 12
02763 Zittau
Termine:
Haus Zittau Hinterm Eisernen Vorhang
26. Januar um 19:30 Uhr
27. Januar um 19:30 Uhr
1. Februar um 10 Uhr
4. Februar um 15 Uhr
9. März um 19:30 Uhr
Haus Görlitz Großer Saal
11. Mai um 19:30 Uhr
12. Mai um 19 Uhr
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | MDR KULTUR am Morgen | 22. Januar 2024 | 08:40 Uhr