Gewissensentscheidung So stimmen Sachsen-Anhalts Abgeordnete zur Sterbehilfe ab

06. Juli 2023, 10:20 Uhr

Es geht um Leben und Tod: Der Bundestag will am Donnerstag eine Neuregelung zur Sterbehilfe auf den Weg bringen. Sachsen-Anhalt wird von 18 Parlamentarierinnen und Parlamentariern vertreten und die können diesmal frei entscheiden, also ohne einen Fraktionszwang, denn das Thema Leben und Sterben ist eine Gewissensentscheidung, die unabhängig vom Parteibuch getroffen wird.

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Es sind Sternstunden des Parlamentarismus, wenn nicht mehr das Parteibuch, sondern jeder einzelne Abgeordnete für sich entscheidet, zumal es um eine sehr grundsätzliche Frage geht: Wie können Menschen unterstützt werden, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen? Ausgangpunkt war ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes, das vor drei Jahren Folgendes entschied: "Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen." Seitdem sucht der Bundestag nach Möglichkeiten, den Vorgaben des Gerichts mit einem neuen Gesetz Rechnung zu tragen.

Keine Geschäfte mit dem Tod

In einer Frage gibt es im Parlament eine sehr große Einigkeit: Es soll verhindert werden, dass sogenannte Sterbehilfevereine aus der persönlichen Not einzelner einen wirtschaftlichen Gewinn ziehen. Andererseits hat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts jeder Mensch das Recht, sich bei einem selbstbestimmten Tod helfen zu lassen. Doch unter welchen konkreten Bedingungen, ist bislang völlig ungeklärt. Das bestätigt auch Hans-Martin Niethammer, Vorsitzender des Diakoniewerks Martha-Maria, das in Halle-Dölau ein großes Krankenhaus betreibt: "Der Zustand, dass wir überhaupt keine Regelung haben, ist völlig unbefriedigend und wird vermutlich auch einem Wildwuchs Vorschub leisten. Und das darf überhaupt nicht passieren."

Ich denke, dass wir als kirchliche Träger darauf vorbereitet sind, Menschen würdig sterben zu lassen...

Hans-Martin Niethammer, Vorsitzender des Diakoniewerks Martha-Maria

Hinzu kommt, dass sehr viele Mediziner von ihrer Grundhaltung her, nämlich Leben zu bewahren und zu schützen, ein Problem mit dem Thema Suizid haben. Das trifft insbesondere auf kirchliche Krankenhäuser zu, so Hans Martin Niehammer: "Ich denke, dass wir als kirchliche Träger darauf vorbereitet sind, Menschen würdig sterben zu lassen. Und das geht auch ohne Suizid."

Mit einem inzwischen gut ausgebauten System der Schmerzlinderung, der sogenannten Palliativmedizin, haben Krankenhäuser und Pflegeheime inzwischen ein gutes Angebot für ein würdiges Sterben entwickelt. Doch die Palliativmedizin hat auch Grenzen. Und zudem, so das Bundesverfassungsgericht, habe jeder Mensch das Recht, sein Leben zu beenden. In Sachsen-Anhalt pendelt die Rate von selbstbestimmten Todesfällen seit 2015 um rund 300 Fälle pro Jahr.

Stendaler Fall mit bundesweiter Wirkung

Der Bundesgerichtshof sprach vor gut einem Jahr ein Grundsatzurteil in einem Fall aus Stendal. Dort hatte eine ehemalige Krankenschwester ihrem schwer kranken und bettlägerigen Ehemann auf dessen Wunsch eine tödliche Dosis Insulin gespritzt. Die Frau hatte ihren Mann seit 2016 gepflegt, wobei dieser immer wieder den Wunsch geäußert hatte, sterben zu wollen. Als die Schmerzen zu groß wurden, gab die Frau ihrem Mann die Insulin-Spritzen.

Das Landgericht Stendal sah darin eine strafbare Tötung auf Verlangen, doch der Bundesgerichtshof hob das Urteil wieder auf. Nach Ansicht der Richter habe nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen beherrscht, sondern ihr Ehemann. Man ahnt die juristischen Fallstricke, die sich aus der derzeitigen Gesetzeslage konstruieren lassen. Menschenwürdiges Sterben unter solchen Bedingungen scheint schwierig zu sein, wenn Angehörige, aber auch Mediziner oder Pflegepersonal unter einer andauernden Strafandrohung stehen.

Zwei Vorschläge im Bundestag

Der Bundestag hat sich viel Zeit gelassen mit einer Neufassung des Gesetzes. Zur Abstimmung stehen nun zwei Entwürfe:

Entwurf 1 "Verbot mit Ausnahmen": Eine Gruppe um die Abgeordneten der SPD, CDU, Grünen, FDP und Linken will die Hilfe bei der Selbsttötung in organisierter ("geschäftsmäßiger") Form erneut unter Strafe stellen und nur unter bestimmten Voraussetzungen erlauben. Dazu zählt, dass die Sterbewilligen sich zweimal mit einem Mindestabstand von drei Monaten einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Begutachtung unterziehen, ein zusätzliches Beratungsgespräch in Anspruch nehmen und nach der Begutachtung mindestens zwei Wochen, höchstens aber zwei Monate bis zur Selbsttötung vergehen. Grundsätzlich bliebe aber der assistierte Suizid ein Straftatbestand.

Entwurf 2 "Kein Verbot aber Regeln": Abgeordnete von FDP, Grünen, SPD und Linken betonen das Recht, Hilfe bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen und wollen ein Beratungsverfahren ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch, um Suizidhilfe zu ermöglichen. Beratungsstellen sollen den Sterbewilligen eine Bescheinigung ausstellen, auf deren Grundlage ein Arzt oder eine Ärztin nach frühestens drei, spätestens zwölf Wochen nach der Beratung ein tödlich wirkendes Medikament verschreiben dürfte. Nach diesem Entwurf wäre der assistierte Suizid grundsätzlich straffrei.

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Breites Meinungsbild unter Sachsen-Anhalts Abgeordneten

Von den insgesamt 18 Bundestagsabgeordneten aus Sachsen-Anhalt haben über die Hälfte auf eine Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT geantwortet. Und auch hier zeigt sich gesamte Vielfalt der Meinungen, quer durch die Parteien. Dass Petra Sitte (Wahlkreis Halle) als Linke für den liberalen Entwurf stimmen wird, verwundert kaum, denn sie hat an dem Entwurf selbst mitgearbeitet. Doch dass sie dabei auch vom AfD-Abgeordneten Jan Wenzel Schmidt (Wahlkreis Börde) unterstützt wird, lässt aufhorchen. Er teilte MDR SACHSEN-ANHALT mit: "Ich persönlich bin für eine Liberalisierung der Sterbehilfe. Zu einem selbstbestimmten Leben gehört auch, es im Zweifel auch selbst zu beenden."

Während CDU-Parlamentarierin Heike Brehmer (Wahlkreis Harz) den konservativen Entwurf unterstützt, lehnt der liberale Abgeordnete Ingo Bothke (Wahlkreis Mansfeld) beide Vorschläge ab. Skeptisch zeigte sich auch der CDU Abgeordnete Tino Sorge (Wahlkreis Magdeburg), immerhin gesundheitspolitscher Sprecher seiner Partei im Bundestag. Er sagte MDR SACHSEN-ANHALT: "Die Sterbehilfe ist ein derart sensibles und höchstpersönliches Thema, dass sich jede übereilte Debatte verbietet. Sollten die Beratungen zur Sterbehilfe mehr Zeit brauchen, wäre ein neuer Anlauf im Herbst der bessere Weg." Mehrere Abgeordnete räumten ein, noch zu keinem abschließenden Urteil gekommen zu sein. Es könnte also tatsächlich eine Sternstunde des Parlamentarismus werden, wenn im Bundestag debattiert und abgestimmt wird, denn der Ausgang ist völlig offen.

MDR (Uli Witstock, Max Schörm)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 06. Juli 2023 | 08:00 Uhr

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