Experteninterview Ost-West-Gehaltsunterschiede: "Lohnlücke auch in zehn bis 20 Jahren noch"

21. August 2023, 06:37 Uhr

In den ostdeutschen Bundesländern erhalten Arbeitnehmer immer noch weniger Gehalt als im Westen. Aktuell beträgt die Lohnlücke rund 20 Prozent. Professor Steffen Müller von der Universität Magdeburg erklärt im Interview, warum es für die neuen Bundesländer so schwer, ist aufzuholen – und welche Hoffnung er in den demografischen Wandel setzt.

Eine junge Frau lächelt in die Kamera
Bildrechte: Sarah-Maria Köpf

2022 lag das Jahresbruttogehalt von Vollzeitbeschäftigten im Osten durchschnittlich rund 13.000 Euro unter dem im Westen. Das geht aus Zahlen des Statistischen Bundesamts hervor. Die Lohnunterschiede sind damit im vergangenen Jahr wieder leicht gewachsen. Grund seien geleistete Sonderzahlungen, von denen Arbeitnehmer in den alten Bundesländern stärker profitiert hätten, heißt es. Die Lohnlücke zwischen Ost und West von etwa 20 Prozent hält sich damit kontinuierlich – unter anderem durch kleinere Betriebe im Osten, andere Wirtschaftssektoren und ein niedrigeres Preisniveau. Die Wiedervereinigung wirkt auch nach über 30 Jahren nach.

Steffen Müller ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Magdeburg und Leiter der Abteilung Strukturwandel und Produktivität am Leibnitz Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH). Im Interview erklärt er, warum die Lohnlücke mit der geringeren Produktivität in ostdeutschen Unternehmen zusammenhängt – und wie sich der Fachkräftemangel positiv auf die Gehälter auswirken kann.

MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Müller, Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass es immer noch eine Ost-West-Lohnlücke von rund 20 Prozent gibt. Wie ist das im Jahr 2023 zu erklären?

Professor Steffen Müller: Der Hauptgrund ist die geringere Arbeitsproduktivität im Osten. Trotz vieler starker Unternehmen und gut ausgebildeter Beschäftigter wird pro Arbeitsstunde immer noch durchschnittlich ein Fünftel weniger erwirtschaftet als im Westen. Wir haben seit 1990 stark aufgeholt, aber die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe ist im Mittel immer noch unter West-Niveau. Unternehmen können am Ende nur so viel zahlen, wie sie erwirtschaften. Da ist nicht viel Spielraum. Wenn die Lohnlücke schrumpfen soll, muss die Produktivitätslücke schrumpfen.

Und wie schaffen wir es, diese Produktivitätslücke zu schließen?

Ein Teil der Lücke hat mit Preisen zu tun, die von der niedrigeren Kaufkraft im Osten gedrückt werden. Wenn die Preise geringer sind, ist die gemessene Produktivität geringer. Viele ostdeutsche Industrieunternehmen haben zudem noch keine etablierten Markennamen für ihre Produkte. Damit können auch sie für ähnlich gute Produkte oft nur einen geringeren Preis am Markt erzielen. Das ist ein Erbe des Sozialismus. Die Markennamen aus der DDR sind fast alle verschwunden. So was kann man nur über neue Produkte oder neue Unternehmen lösen. Da im Osten aber nur wenig in Forschung und Entwicklung investiert wird, gibt es auch weniger Neugründungen.

Wir hatten auch lange eine hohe Arbeitslosigkeit und die Wirtschaftspolitik hat lange Arbeitsplätze subventioniert. Damit schafft man Stellen, die es sonst nicht gegeben hätte und die oft unproduktiv sind. Das ist bei Fachkräftemangel nicht mehr angemessen, denn dadurch können viele schwache Betriebe überleben. Wir haben im Osten viele starke Unternehmen, aber vor allem in der Industrie auch viele sehr unproduktive Firmen. Die unproduktivsten Unternehmen im Osten sind ein Problem für den Aufholprozess der Region. Da muss man ansetzen.

In den neuen Bundesländern gibt es nachweislich auch weniger Betriebsräte. Wie wirkt sich das auf die Lohn- und Tarifgestaltungen aus?

Die lange Zeit sehr hohe Arbeitslosigkeit im Osten hat auch die Verhandlungen der Beschäftigten negativ beeinflusst. Die Menschen waren froh, überhaupt Arbeit zu haben. Viele Ostdeutsche akzeptieren geringe Löhne vielleicht auch einfach, weil sie die gewöhnt sind. Betriebsräte erhöhen die Verhandlungsmacht der Beschäftigten. Allerdings nützt das nur dann etwas, wenn es überschüssige Erträge gibt, über die man verhandeln kann. Hier sind wir wieder bei der Produktivität. Wenn es durch den Mindestlohn oder durch Gewerkschaften und Betriebsräte einen Lohn-Push gibt, kann ich entweder die Firma schließen oder ich muss schauen, wie ich diese höheren Löhne reinhole. Über solche Lohnsteigerungen kann langfristig die Produktivitätsdynamik angeschoben werden. Aber das passiert natürlich nicht von heute auf morgen.

Wenn man sich die Durchschnittsgehälter anschaut, werden Unterschiede zwischen einzelnen Branchen deutlich. Wo ist das Lohngefälle zwischen Ost und West besonders groß und wo sind die neuen Bundesländer bereits gleichgezogen?

Ein großes Lohngefälle findet man in der Industrie und auch bei Kommunikation und IT. Hier sind die Ostlöhne je nach Bundesland teilweise nur zwei Drittel von denen im Westen. Die westdeutsche Industrie ist vielerorts Weltspitze. Da vergleicht man sich in Ostdeutschland mit den besten der Welt. Andersherum ist es bei marktferneren Branchen – also in der öffentlichen Verwaltung, bei Sozialversicherungen, der Erziehung und Bildung. Da, wo keine Marktkräfte wirken, sind die Löhne sehr ähnlich. Das ist auch politisch beeinflusst.

Wenn es um Tarifverhandlungen geht, dann sind die niedrigen Lebenserhaltungskosten in den neuen Bundesländern oft ein Argument auf Unternehmensseite. Ist das gerechtfertigt?

Fakt ist: Wenn meine Lebenserhaltungskosten geringer sind, kann ich mir für weniger Gehalt das Gleiche leisten. Wenn ich in München oder Frankfurt eine Wohnung mieten möchte, dann zahle ich ein Vielfaches von dem, was ich in Magdeburg oder Erfurt zahle. Eine vollständige Angleichung der Löhne für den Osten bei unveränderten Preisen würde den Osten sogar besserstellen als den Westen. Aber ich finde, das Argument geht in die falsche Richtung. Den Fairness-Gedanken müssen die Unternehmen schon berücksichtigen, wenn sie die Motivation ihrer Beschäftigten nicht beschädigen wollen. Im Endeffekt geht es aber auch auf dem Arbeitsmarkt um Angebot und Nachfrage. Im Osten kriegen sie die Leute mangels besser bezahlter Alternativen noch für weniger Geld. Warum mehr zahlen? Das ist Marktwirtschaft.

Wie kommen wir aus dieser Ost-West-Lohnlücke raus?

Ein Punkt ist der demografische Wandel. Der Osten läuft in ein dramatisches Problem des Fachkräftemangels hinein. Das hat viele negative Konsequenzen, aber für die Löhne kann das auch positiv sein. Eine schrumpfende Bevölkerung bedeutet, dass die Arbeitgeber um knapp werdende Arbeitskräfte konkurrieren. Das treibt die Löhne nach oben. Ein Teil der Lohnlücke könnte sich dadurch von selbst schließen.

Wichtig ist dabei, dass die Wirtschaftspolitik nicht anfängt, schwache Unternehmen retten zu wollen. Man muss auch zulassen, dass Geschäftsmodelle, die mit guten Löhnen nicht mehr funktionieren, aus dem Markt gehen. Dann geht es auch um Innovationen, um gute Produkte. Der Osten hat nur dann eine echte Chance, wenn aus dem Osten heraus noch mehr richtig gute Unternehmen entstehen, die auch ihre Leitungs- und Entscheidungszentralen im Osten haben.

Der Osten hat nur dann eine echte Chance, wenn aus dem Osten heraus noch mehr richtig gute Unternehmen entstehen, die auch ihre Leitungs- und Entscheidungszentralen im Osten haben.

Steffen Müller, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Uni Magdeburg

Was ist Ihre Prognose für die kommenden zehn bis zwanzig Jahre? Werden wir irgendwann aufhören können, über die Lohnunterschiede zwischen Ost und West zu sprechen?

Ich würde es mir sehr wünschen. Es ist ja auch ein Thema, das populistisch sehr ausgeschlachtet wird und wo viel von Ungerechtigkeit und Ausnutzung gesprochen wird. Wenn der Westen allerdings wirtschaftlich stabil bleibt, dann werden wir auch in zehn bis zwanzig Jahren noch eine Lohnlücke haben. Die wird kleiner werden. Die Löhne im Osten haben sich schon jetzt jedes Jahr kontinuierlich dem Westniveau angenähert – da ist die Hoffnung, dass das aufgrund des Wettstreits um die verbliebenen Arbeitskräfte weitergeht. Hinzu kommt als weiterer Hoffnungsschimmer, dass wir in Zeiten des Strukturwandels leben. Durch Robotik und Digitalisierung gibt es neue Produkte und Fertigungsmethoden. Wenn die Wirtschaft im Umbruch ist, ist es als aufholende Regionen leichter, in neuen Produktlinien vorne mitzuspielen. Schwerer ist es, in etablierten Märkten den Spitzenreiter einzuholen.

Die ganze Lohndebatte ist aber keine Debatte über Fairness. Wir leben in einer Marktwirtschaft, wo sich Löhne am Markt bilden und sich an der Produktivität orientieren müssen. Wir vergleichen uns mit einer der stärksten Regionen der Welt. Ist da eine volle Angleichung denn überhaupt realistisch? Das Saarland und Schleswig-Holstein haben auch zehn Prozent geringere Löhne als Bayern und Baden-Württemberg. Ich finde es gut, hohe Ansprüche zu haben, aber wenn das nicht vollständig klappt, dann ist es der falsche Weg, über Ungerechtigkeiten zu klagen.

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Bildrechte: Sarah-Maria Köpf

Über Sarah-Maria Köpf Sarah-Maria Köpf arbeitet seit Mai 2021 für MDR SACHSEN-ANHALT. Sie ist in Leipzig aufgewachsen und hat dort Kommunikations- und Medienwissenschaft studiert, bevor es sie für den Master in "Multimedia & Autorschaft" nach Halle zog.

Neben dem Studium arbeitete sie für den Radiosender Mephisto 97.6, die Leipziger Volkszeitung und das Grazia Magazin. Ihr Schwerpunkt liegt in den Bereichen Social Media sowie Polititik und Gesellschaft.

MDR (Sarah-Maria Köpf)

Dieses Thema im Programm: FAKT IST! aus Magdeburg | 21. August 2023 | 22:10 Uhr

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