Wahlbeteiligung von Jugendlichen Politikdidaktiker: "Mangelndes Interesse an Politik ist eine Folge mangelnder Beteiligung"
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01. Juni 2021, 19:53 Uhr
Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 6. Juni dürfen sie nicht mitentscheiden: junge Menschen unter 18. Was würde ein früheres Wahlrecht für sie bedeuten? Wie würde sich der Politikunterricht verändern? Woher kommt das Vorurteil der politikverdrossenen Jugend? Ein Gespräch mit Politikdidaktiker Andreas Petrik von der Uni Halle.
MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Petrik, stimmt es, dass es den Vorwurf gibt, junge Menschen seien alle politikverdrossen?
Andreas Petrik: Ja, das herrscht vor. Es gibt auch Studien, die das zeigen. Wobei die eigentlich eher von "Parteienverdrossenheit" sprechen und eben nicht mehr von Politikverdrossenheit. Denn man kann nachweisen, dass den Parteien der Nachwuchs fehlt, dass sich überhaupt nur zwei Prozent der Jugendlichen wirklich für Parteipolitik interessieren und engagieren. Dass hier eine große Abkehr – manche sprechen auch von dem "Marsch aus den Institutionen" – stattfindet. Das ist das Gegenteil von dem, was die 68er damals wollten.
Es bedeutet aber nicht, dass die Jugendlichen nicht gleichzeitig ein politisches Bewusstsein haben, das laut den letzten Shell-Studien sogar wächst. Ein Bewusstsein für die sozialen und ökologischen Probleme, die wir haben.
Ihre eigentlich stark politische Grundhaltung steht im Gegensatz zur ihrer Parteienverdrossenheit.
Woher kommt der Glaube, dass junge Menschen sich nicht für Politik interessieren?
Man muss immer gucken, aus welchen Gründen das so gesehen wird. Ich glaube, es gibt allgemeine Vorurteile bei den Erwachsenen, die selber nicht in so einem interaktiven Austausch mit der jüngeren Generation sind und die auch keinen wirklichen Zugang haben, von ihnen zu lernen.
Außerdem ist da natürlich die Mediendarstellung, also diese großen Überschriften – "Die politikverdrossene Jugend" – die es schon vor über 20 Jahren gab. Ich glaube, die haben sehr geschadet. Dieselben Leute, die dann solche Headlines konsumiert haben, haben eben nicht genau oder gar nicht in die Jugendstudien reingeguckt. Die haben nämlich ein viel differenzierteres Bild über die Lust an ehrenamtlicher Arbeit, an sozialem und nicht parteipolitischen Engagement von Jugendlichen gezeichnet.
Der Experte: Das ist Andreas Petrik Andreas Petrik ist Politik- und Sozialwissenschaftler. Seit 2008 ist er Professor für Didaktik der Sozialkunde an der Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a. politische Urteilsbildung und Konfliktfähigkeit, die Lernprozessforschung im Fach Politische Bildung sowie Gesellschaftstheorien.
Warum wird eher wenig Politik für junge Leute gemacht?
Ich glaube, sie wird da nicht gemacht, wo tatsächlich ältere Menschen die Entscheidung treffen. Die Perspektive von Politikern ist ja sowieso eine kurzfristige, wenn sie in wenigen Jahren wiedergewählt werden wollen. Wenn sie dann auch noch selber ein gewisses Alter erreicht haben, dann gibt es zumindest unterbewusst vielleicht nicht die Notwendigkeit, an die nächste Generation zu denken.
Jugendliche, die nicht wählen dürfen, sind natürlich erst recht gar kein unmittelbares Motiv, weil sie als Wählerinnen und Wähler nicht relevant sind. Das ist auch ein weiteres Argument für das frühere Wahlrecht, weil es bedeutet, dass Politiker und Politikerinnen sich stärker auch nach 16-Jährigen richten müssten.
Dass pauschal nichts für Jugendliche getan wird, würde ich aber auch nicht sagen. Es hängt, glaube ich, auch sehr von der von den Parteien ab, wie jugendnah die selbst aufgestellt sind und wie der Altersschnitt der Partei jeweils ist.
Wie kann man Jugendliche motivieren, sich politisch zu engagieren?
Wir wissen, dass Partizipation fast immer von Vorbildern abhängt. Also das ist nicht so, dass ganz viel Wissen nötig ist. Man hat über Eltern, den Freundeskreis, Lehrerinnen, Bekannte, vielleicht auch Prominente, Vorbilder und möchte dann ein Stück so sein wie die. Das ist eigentlich das Hauptmotiv. Deswegen ist auch die Vorbildfunktion von politischen Bildnerinnen so wichtig.
Im Politikunterricht ist meiner Erfahrung nach der erste Ansatz – so sehr ich als Wissenschaftler Wissen wichtig finde – gar nicht das breite Wissen über die Funktionsweise der Demokratie. Das kann auch abschrecken. Es sind es zwei andere Dinge: Einmal die Auseinandersetzung mit den persönlichen Werten: Was ist mir persönlich wichtig? Was will ich eigentlich im Leben? Wer bin ich und wenn ja wie viele?
Und dann im zweiten Schritt: Zu lernen, dass es anderen auch so geht, dass sie auch so etwas wie eine Identität, einen Standort, ein Platz in der Welt suchen und auch Bedürfnisse, Sehnsüchte und Ängste haben. Dann in ein Gespräch zu kommen, wie man die umsetzen kann und dabei festzustellen: Da gibt es Kontroversen, die man klären kann, aber es gibt vielleicht auch Einigungsmöglichkeiten, auch über die Art und Weise, wie man über etwas spricht. Also dieser Ansatz, ernst genommen zu werden als Wesen, das Bedeutung hat in der Gesellschaft.
Was könnte sich denn ändern, wenn die Jugend früher wählen könnte?
Ich glaube, das würde zum Beispiel den Politikunterricht, für den ich ja in Halle ausbilde, ziemlich verändern. Wir könnten dann nicht erst nur in den letzten zwei Jahren der Oberstufe sagen: "Ihr seid jetzt wahlmündig", sondern auch schon am Ende der Mittelstufe. Also auch an Sekundarschulen, zum Beispiel in Haupt- und Realschulen, sagen: "Das ist total relevant. Ihr seid bald 16, vielleicht sogar 14, ihr könnt mitbestimmen." Wir haben dann eine ganz andere Argumentation und müssen nicht immer sagen: "Das ist mal für später."
Was ist mit Kindern und Jugendlichen, die kein Gymnasium besuchen, wo Politik zu Hause kein Thema ist – wie kann man die erreichen?
Ich glaube, dass hier eine wichtige Aufgabe ist, im Politikunterricht solche Räume zu erzeugen. Und leider ist der Politikunterricht ja auch zum Beispiel in Sachsen-Anhalt gar nicht für alle verpflichtend, kann abgewählt werden. Die Stundenzahl ist viel zu niedrig. Er fängt viel zu spät an mit dem achten Schuljahr, ist dann häufig nur einstündig oder muss in Konkurrenz mit Geschichte oder Geografie sein.
Das ist ein ziemliches Armutszeugnis, gerade in Sachsen-Anhalt. Aber nicht nur dort. Wir müssten eigentlich mit mindestens einer Doppelstunde in der Woche ab dem 5. und 6. Schuljahr Räume schaffen, wo die Jugendlichen das machen dürfen, was sie zu Hause nicht kennen, nämlich lernen, miteinander Argumente auszuhandeln und Regeln festzulegen, wie das Ganze möglichst demokratisch passiert, wenn man nicht einer Meinung ist.
Wäre es sinnvoll für junge Menschen, schon früher, beispielsweise ab 16 Jahren, wählen zu dürfen?
Ja, absolut. Man kann sogar über 14 reden. Also irgendwann überfordert es natürlich Jugendliche kognitiv. Wenn man aber davon ausgeht, dass die meisten Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren genug Abstraktionsvermögen entwickeln, dann wird natürlich gerne von älteren argumentiert: "Aber denen fehlt doch das Wissen."
Wenn man sich dann Studien über das politische Wissen von Erwachsenen anguckt, stellt man fest: Die dürfen alle ohne Probleme wählen und das Wissen ist teilweise sehr bescheiden. Das sieht man an Fragen wie: "Wer wählt eigentlich den Bundeskanzler?" oder "Was unterscheidet die Erst- und Zweitstimme?", um zwei Dauerbrenner zu nennen. Da schneiden eben Erwachsene überhaupt nicht besser ab als Kinder oder Jugendliche. Insofern fällt das Argument schon mal völlig weg.
Und was die Fähigkeit anbelangt, das große Ganze zu betrachten: Da finde ich sind viele Erwachsene, gerade wenn es um den Klimawandel geht, so sehr in ihren alten Gewohnheiten verstrickt. Sie wollen weiterhin ihr Auto fahren und ihre Flugreisen machen, während da gerade die jüngere Generation einen viel stärkeren Weitblick zeigt. Auch, weil sie betroffen sind von Entscheidungen, die ältere Politiker und Politikerinnen heute treffen. Und genau deswegen, weil die Jüngeren diejenigen sind, die vor allem die sozialen, ökologischen und ökonomischen Folgen des Klimawandels ausbaden müssen, müssen sie auch heute schon an Entscheidungen beteiligt werden. Das Mindeste ist ein Wahlrecht.
Was würde ein Wahlrecht für Menschen bedeuten, die schon lange in Deutschland leben, aber nicht wählen dürfen, weil sie zum Beispiel keinen deutschen Pass haben?
Also da lautet ja ein beliebtes Gegenargument, sie hätten die Sprachfähigkeit nicht und überhaupt nicht die Lust, sich zu beteiligen. Da gibt es Studien, die zeigen, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, die sich politisch beteiligen wollen, in Deutschland sehr viel geringer ist als der Anteil der Deutschen.
Ich würde sagen: Umgekehrt wird ein Schuh draus. Das ist gerade ein Pro-Argument. Denn Studien aus Frankreich und Großbritannien zeigen, dass je mehr Menschen Mitgestaltungsmöglichkeiten haben. Zum Beispiel über kommunales Ausländerwahlrecht oder über andere Beteiligungsformen. Umso stärker steigt das Interesse. Das ist übrigens auch ein Argument für die Beteiligung von Jugendlichen an Wahlen. Es ist nämlich genau andersrum. Hier werden Ursache und Folge vertauscht.
Das mangelnde Interesse an Politik bedeutet nicht, dass die Menschen nicht politikfähig sind, sondern ist eine Folge mangelnder Beteiligung.
Das gilt gerade für Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn sie wissen, dass sie sich beteiligen können, dann erst wacht das Interesse auf, weil sie dann auch eine Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse, ihre Interessen zu formulieren. Dann haben sie eine gewisse Chance, dass die auch gehört werden.
Die Fragen stellte Ann-Kathrin Canjé.
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Quelle: MDR/Ann-Kathrin Canjé
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