Zusammenhalt in Angern Wie ein Dorf mit einer Grundschule das Leben im Ort bewahrt
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14. November 2021, 16:01 Uhr
Weil die staatliche Grundschule in Angern geschlossen wurde, haben Eltern vor sechs Jahren die Freie Um-Welt-Schule gegründet. Ziel: Das Leben im Dorf bewahren. Dabei erhalten sie bis heute viel Unterstützung aus dem Ort. Der Plan geht auf: Die Schule hat für nächstes Jahr mehr Anmeldungen als Plätze, und auch sonst blüht Angern weiter auf.
- Eltern haben im Börde-Dorf Angern vor sechs Jahren mit viel Aufwand eine private Grundschule gegründet, um das Leben im Dorf zu bewahren.
- Vereine, die Gemeinde und einzelne Einwohner unterstützen die Schule auf unterschiedlichen Wegen.
- Heute ist die Schule gut besucht und es ziehen viele junge Familien nach Angern.
An der Freien Um-Welt-Schule Angern hatten die Erstklässler neulich eine Doppelstunde auf dem Acker von Bauer Hecht. Auf dem Lehrplan stand die Möhren- und Kartoffelernte. Meter für Meter buddelten die Kinder Gemüse aus dem Boden; zur Belohnung gab's eine Runde Probesitzen auf dem Trecker. Lothar Hecht ist einer von Hunderten Angeranern, die ihre Grundschule im Ort unterstützen. Schließlich lässt die ihr Börde-Dorf weiter aufblühen. So platzt die Kita aus allen Nähten, Grundstücke sind heiß begehrt, und im vergangenen Jahr hat ein neuer Konsum eröffnet.
Zwei Vereinsmitglieder hafteten mit ihrem Privatvermögen
Doch von vorn: Angern hatte einst eine staatliche Grundschule. Wegen zu geringer Schülerzahlen wurde sie 2016 geschlossen. Ein Förderverein mit einem harten Kern von rund 15 Eltern gründete als Ersatz eine private Schule. Das kostete Zeit, Überzeugungskraft und Geld: Um ihr Konzept mit den Schwerpunkten Englisch, Umwelt und Region beim Bildungsministerium durchzubringen, musste die Initiative zwei Anläufe nehmen. Damit sie in der unsicheren Anfangszeit den Direktorenposten besetzen konnte, holte sie die frühere Schulleiterin aus der Rente zurück. Nicht zu vergessen, dass die Schule sich in den ersten drei Jahren bis zur staatlichen Anerkennung selbst finanzieren musste. Zwei Fördervereinsmitglieder hafteten damals sogar mit ihrem Privatvermögen.
In erster Linie wollen wir eine Schule fürs Dorf sein.
Der Aufwand hat sich gelohnt: Im kommenden Jahr muss die Schule zum ersten Mal Aufnahmegespräche führen, berichtet Ortrun Horstmann, Vorsitzende des Fördervereins. Denn es gibt mehr Anmeldungen als Plätze. "Inzwischen kommen auch viele Schüler aus dem Umland. Die Eltern werden hellhörig, wenn sie von unserem Konzept hören, vor allem vom bilingualen Unterricht", erklärt sie. Dabei sind die drei Schwerpunkte eher Mittel zum Zweck. Denn private Grundschulen werden in Deutschland nur dann genehmigt, wenn sie entweder auf einer Religion oder Weltanschauung basieren oder wenn sie ein in der Region einzigartiges Konzept vorweisen. Horstmann sagt: "In erster Linie wollen wir eine Schule fürs Dorf sein."
Manche im Ort haben nur einen Treckerführerschein
Dass in einem Dorf eine Schule steht, ist der Schlüssel, um langfristig seine Infrastruktur zu erhalten. Davon ist der Förderverein überzeugt. Angern hat seit Jahrzehnten eine sehr gute Infrastruktur: Das 2000-Seelen-Dorf bietet eine Apotheke, einen Fleischer, zwei Bäcker, einen Konsum, einen Blumenladen. Dieses Paket war der Grund, weshalb zum Beispiel Andrea Schlickum einst mit ihrer Familie nach Angern zog. Sie hat die Schule mit aufgebaut, obwohl ihre Kinder schon damals nicht mehr im Grundschulalter waren. "Wenn wir keine Kinder haben, haben wir auch kein lebendiges Dorf", erklärt sie. "Denn dann ziehen die jungen Familien in die größeren Nachbarorte." Einige kleine Geschäfte könnten sich womöglich nicht mehr halten.
Die sind aber wiederum für alle wichtig, besonders für die Älteren. Andrea Schlickum erzählt: "Manche Menschen hier sind um die 80 Jahre alt und haben nur einen Treckerführerschein. Würde unser Konsum schließen, müssten die mit dem Fahrrad zum Supermarkt ins Nachbardorf fahren."
Private Grundschulen in Sachsen-Anhalt
In Sachsen-Anhalt gibt es 54 Grundschulen in freier Trägerschaft. Der Zulauf hat sich in den vergangenen Jahren stetig erhöht: Im Schuljahr 2014/15 lernten an privaten Grundschulen 5009 Kinder, im Schuljahr 2020/21 waren es 5775.
Im Grundgesetz ist festgelegt, dass private Grundschulen nur als Ausnahme gegründet werden dürfen. Dazu muss es sich um eine religiöse bzw. eine bekennende Schule handeln oder es muss ein besonderes pädagogisches Interesse vorliegen. Zudem legt das Grundgesetz Regeln für alle freien Schulen Regeln fest. Sie dürfen zum Beispiel in den Lehrzielen nicht hinter öffentlichen Schulen zurückstehen. Auch muss sichergestellt sein, dass das Schulgeld für Kinder, deren Eltern es sich nicht leisten können, getragen wird.
Dem Verband der Privatschulen zufolge ging es bei der Gründung privater Grundschulen bis vor einigen Jahren meistens darum, einen Ersatz für eine geschlossene staatliche zu schaffen. Inzwischen liegt das Ziel eher darin, ein bestimmtes pädagogisches Konzept anzubieten oder dem massiven Unterrichtsausfall zu begegnen.
In den ersten drei Jahren nach der Gründung muss sich eine private Schule finanziell komplett allein tragen. Wird sie dann staatlich anerkannt, übernimmt das Land im Durchschnitt zwei Drittel der Kosten. Der Rest wird durch Schulgeld, Mitgliedsbeiträge, Spenden und Sponsorengelder gestemmt.
Die Bedeutung der Schule ist dem gesamten Dorf offenbar sehr bewusst. Unterstützung kommt von vielen Seiten: Die Freiwillige Feuerwehr fährt die Kinder mit ihrem Kleintransporter zu Ausflügen, die Kleintierzüchter bringen ihre Hühner in den Unterricht, ein Rentner gibt seine Kürbisse zum Verkauf an den Blumenladen und spendet der Schule den Erlös. Außerdem hat der Förderverein rund 300 zahlende Mitglieder – die meisten haben keine Kinder an der Schule. "Für uns ist das eine große Wertschätzung", sagt Vereinschefin Ortrun Horstmann. Auch die Gemeinde hilft mit. Sie übergab dem Förderverein das Grundschulgebäude damals mietfrei und griff ihm in den ersten Jahren finanziell unter die Arme.
Die Kita zieht im Sommer aus Platznot um
Seit der Gründung der Freien Umweltschule blüht Angern immer weiter auf, erklärt Bürgermeister Egbert Fitsch. "Wir haben viele junge Leute, die hierher ziehen, vor allem Rückkehrer. Im Moment gibt es mehr Anfragen als Bauplätze." Besonders in den vergangenen vier bis fünf Jahren sei die Nachfrage gestiegen. Das Interesse am Dorf spiegelt sich auch in der recht stabilen Einwohnerzahl wieder. Seit 2015 hat Angern nur knapp drei Prozent verloren, in anderen Börde-Dörfern mit ähnlicher Größe war der Anteil doppelt so hoch. Außerdem ist die Kita im Dorf proppenvoll. Die Gemeinde hat schon zwei Container aufgestellt. Deshalb wird momentan das alte Sekundarschulgebäude saniert, sodass die Kleinen nächsten Sommer umziehen können. Die Grundschulkinder gehen gleich mit, denn auch in ihrem Gebäude wird es langsam eng.
Freie Grundschulen sind in in ganz Sachsen-Anhalt ein Erfolgsmodell: Dem Verband der Privatschulen zufolge konnten sich in den vergangenen Jahren alle neu gegründeten halten. Dabei stehen sie oft in dünn besiedelten Gebieten. Angerns Bürgermeister Egbert Fitsch glaubt, dass es überall funktionieren kann, sein Dorf mit einer Grundschule am Leben zu erhalten, wenn alle zusammenhalten. "Es muss allerdings eine kleine Gruppe geben, die das Ganze führt und etwas von Bürokratie versteht."
MDR/Elisa Sowieja-Stoffregen
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