Jahresrückblick 2019 Der Anschlag von Halle und die Folgen

16. März 2021, 02:21 Uhr

Der Anschlag von Halle hat deutlich gezeigt, wie groß die Gefahr durch gewaltbereite Antisemiten und Rechtsextremisten auch in Deutschland ist. Der Angreifer sitzt in U-Haft. Er hatte sich über das Internet radikalisiert und es gibt "Vorbilder" für seine Tat. Welche Konsequenzen ziehen Sicherheitsbehörden und Politik?

Bis zum 9. Oktober 2019 war die schmale Holztür am Seiteneingang der Synagoge in Halle nichts Besonderes. Am 9. Oktober dann, einem Mittwoch, rettete die Tür mehr als 50 Menschen das Leben. Hätte sie den Schüssen von Stephan B. nicht standgehalten, wäre der schwer bewaffnete Terrorist in die Synagoge gelangt, die an dem jüdischen Feiertag Jom Kippur gut besucht war – es hätte vermutlich ein Blutbad gegeben.

Der 9. Oktober muss als einer der schlimmsten Tage des Jahres gelten für Halle, Mitteldeutschland und Deutschland insgesamt. Stephan B., ein 27 Jahre alter Mann aus Eisleben, hatte vor, an diesem Tag viele Menschen zu töten, viele Juden. Er lieh sich ein Auto, packte es voll mit zum Teil selbstgebauten Waffen und Sprengsätzen, zog sich einen Kampfanzug an.

Als er damit scheiterte, in die Synagoge zu gelangen, erschoss er eine zufällig vorbei laufende Passantin und kurz darauf einen jungen Mann in einem Kebab-Imbiss. Auf seiner Flucht verletzte er zwei Menschen, bevor ihn die Polizei nahe Zeitz festnehmen konnte.

Seine Tat streamte B. live ins Netz, er hatte eine Kamera auf seinem Helm installiert. Angaben des Streamingdienstes zufolge sahen fünf Menschen dem Täter live zu. 2.200 sahen sich die Aufzeichnung an, bis sie nach rund einer halben Stunde gelöscht wurde. Danach kursierte das Video weiter im Netz, ebenso wie das seitenlange Dokument, das Stephan B. vor seiner Tat in einem Forum hochgeladen hatte. Darin beschreibt er detailliert seine Waffen, kündigt seine Tat an.

Inzwischen sitzt Stephan B. in Untersuchungshaft und hat seine Taten eingeräumt. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in mehreren Fällen.

Wie konnte es zu all dem kommen? Und was muss die Gesellschaft, müssen die Sicherheitsbehörden jetzt tun?

Das Umfeld  I - internationaler Rechtsterrorismus

Stephan B. ist vor seiner Terrortat nicht polizeilich aufgefallen. Er wuchs um Eisleben herum auf, brach ein Chemie-Studium ab, lebte zuletzt in Benndorf bei seiner Mutter und war arbeitslos. Zumindest von den Sicherheitsbehörden unbemerkt radikalisierte er sich im Netz. Er spielte am Computer und traf in den virtuellen Welten auf Menschen, die sich ein gemeinsames, menschenfeindliches Weltbild aufgebaut haben. Dazu gehören Judenhass und Holocaust-Leugnung, Rassismus und Gewaltphantasien, Frauenhass und Hitlerverehrung.

Bewaffnete Täter in Halle an der Saale
Eine Handyaufnahme zeigt den mutmaßlichen Täter von Halle. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Nach der Tat war und ist bis heute oft davon die Rede, dass es sich bei Stephan B. um einen ganz neuen Tätertyp handele, der schwer aufzuspüren sei, bevor etwas passiere.

Dabei ist dieser Tätertyp gar nicht wirklich so neu. Schon der norwegische Attentäter Anders Breivik, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya 77 Menschen erschossen hatte, begründete seine Tat mit rechtsextremen Ideen, stilisierte sich als Retter der christlich-europäischen Ordnung und veröffentliche im Netz Hinweise auf seine Tat.

Seither haben sich mehrere rechtsextreme Terroristen auf Breivik bezogen. So etwa auch der Attentäter, der im März 2019 in Christchurch in Neuseeland 51 Menschen in zwei Moscheen erschoss. Wie später der Halle-Täter streamte er seine Tat ins Netz. Zuvor hatte er ein Dokument veröffentlicht, in dem er unter anderem die unter Rechten beliebte Verschwörungstheorie zu einem angeblich stattfindenden Bevölkerungsaustausch referierte.

Auch in Deutschland hat es schon vor den Ereignissen in Halle eine Tat gegeben, die nach MDR-Recherchen für das Magazin "Fakt" wie eine Blaupause des Vorgehens von Stephan B. wirkt: David Sonboly hatte im Juli 2016 im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen. Auch er lebte sozial isoliert, war vernetzt auf einer Spieleplattform, verehrte Hitler und hinterließ auf seinem Computer einen kruden Text, in dem er sein Tun rechtfertigte.

Das Umfeld II – Rechtsextreme in Halle und Antisemitismus

Zwar radikalisierte sich Stephan B. nach bisherigen Erkenntnissen nicht "klassisch" in einem rechtsradikalem Freundes- und Bekanntenkreis. Ganz irrelevant ist es aber auch für solche Tätertypen nicht, in welchem Umfeld und gesellschaftlichem Klima sie sich bewegen. In den 1990er-Jahren gab es mehrere Morde mit rechtsextremem Hintergrund in und um Halle. So wurde ein behinderter Mann in Halle-Neustadt von Skinheads umgebracht. Später waren verschiedene Neonazi-Kameradschaften in der Stadt aktiv. Aus der Szene haben sich inzwischen international agierende Netzwerke entwickelt, etwa "Blood and Honor", das in Sachsen und Sachsen-Anhalt aktiv ist.

Stephan B. wollte mit seiner Tat vor allem Juden treffen. Wie stark in Deutschland zuletzt die Gewalt gegen Juden zugenommen hat, in welchem gesellschaftlichen Klima B. seine Tat also verübte, zeigt ein Blick in die Statistik  des Bundeskriminalamts. Demnach stieg die Zahl antisemitischer Straftaten 2018 um fast 20 Prozent im Vergleich zu 2017 auf insgesamt fast 1.800. In Mitteldeutschland hat es vorläufigen Auswertungen der Bundesregierung zufolge allein im ersten Halbjahr 2019 fast 50 antisemitische Straftaten gegeben.

Was nun I – Polizeitaktik

Nach der Tat von Halle hat es massive Kritik am Polizeieinsatz gegeben. Die Polizei habe die Synagoge an einem so hohen jüdischen Feiertag fahrlässig unbewacht gelassen, sei nach dem Notruf zu spät und in zu geringer Stärke am Tatort aufgetaucht und habe Stephan B. trotz Schussverletzungen und einem zerschossenen Reifen aus der Stadt fliehen lassen. Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) stand deshalb in den Tagen nach der Tat stark in der Kritik, verteidigte die Polizei aber immer wieder.

Kurz nach der Tat stellte Stahlknecht zehn Maßnahmen vor, die künftig mehr Sicherheit gewährleisten sollen. So werden Synagogen und Moscheen in Sachsen-Anhalt seit der Terrortat 24 Stunden am Tag überwacht. Es soll für die Bekämpfung von Rechtsextremismus sowohl beim Verfassungsschutz als auch beim Landeskriminalamt mehr Personal eingestellt werden. Außerdem sollen in Sachsen-Anhalt unter anderem die Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten auf ihre Wirksamkeit überprüft und die schon vor dem Attentat geplante Stationierung einer vierten Einsatzhundertschaft in dem Bundesland beschleunigt werden.

Wie wichtig gerade der Schutz von Gotteshäusern ist, zeigt nicht nur der Anschlag von Halle. Der ist in seiner Dimension hierzulande zwar beispiellos, aber Moscheen, Synagogen und Kirchen werden immer wieder Ziel von politisch motivierten Angriffen. Mehr als 200 solcher Angriffe hat es einer MDR-Recherche zufolge seit 2014 in Mitteldeutschland gegeben.

Was nun II - Strategien gegen rechte Gefährder

Neben der Landespolitik in Sachsen-Anhalt reagierten auch die Sicherheitsbehörden des Bundes auf die Tat von Halle. Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz kündigten an, für mehr Ermittlungsarbeit im Bereich Rechtsextremismus insgesamt 700 neue Planstellen zu beantragen. Damit soll eine bessere Überwachung von Rechtsextremen im Netz möglich sein. Zudem regten die Behörden eine Verschärfung des Waffenrechts sowie der Strafbarkeit der Veröffentlichung sogenannter Todeslisten an.

Nach der Tat in Halle ist auch die alte Diskussion um den Begriff es rechtsextremen Gefährders wieder aufgeflammt. 43 solcher Gefährder gibt es nach aktueller Bewertung in Deutschland – eine Zahl, die deutlich geringer ist als etwa die der islamistischen Gefährder. Eine einheitliche Definition des Begriffs gibt es nicht. Wer als Gefährder eingestuft wird, entscheiden letztlich die Landeskriminalämter – und die beziehen sich auf die Geheimhaltung, wenn sie nach ihren Kriterien befragt werden.

Künftig soll es nun ein bundeseinheitliches Risikobewertungsinstrument geben. Vorbild soll das sogenannte RADAR-iTE sein. Das ist eine Art Leitfaden, anhand dessen bislang nur islamistische Gefährder auf ihr mögliches Risiko hin untersucht werden.

Wollen Beamte in den Polizeibehörden eine bestimmte Person bewerten, haben sie dafür verschiedene Kriterien zur Hand. Anhand von beispielsweise "Gewaltverhalten", "Umgang mit Waffen" oder auch "psychischen Auffälligkeiten" können Gefährder kategorisiert werden. Sollte das Instrument auf den Rechtsextremismus übertragen werden, würde es dem Bundeskriminalamt zufolge erstmals bundesweit eine einheitliche Bewertung des Gewaltrisikos von Rechts geben.

Und in Halle? Auch die jüdische Gemeinde in der Stadt denkt seit dem Attentat wieder verstärkt über ihre Sicherheit nach. An der Synagoge soll nun unter anderem die Holztür ersetzt werden, die dem Attentäter standgehalten hatte. Die alte Tür aber, die für den Vorsitzenden der Gemeinde, wie er sagt, "wirklich heilig" ist, soll als Mahnmal erhalten bleiben.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 09. Oktober 2019 | 18:00 Uhr

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