MDRfragt Geteilte Meinung zum politischen Einmischen der Kirchen
Hauptinhalt
01. Juni 2024, 03:00 Uhr
Wenn Pfarrer zum Schutz der Demokratie aufrufen und prominente Kirchenvertreterinnen mehr Einsatz fürs Klima fordern, stößt das in der MDRfragt-Gemeinschaft auf ein geteiltes Echo. Aus Sicht der Hälfte der rund 20.000 Befragten sollte sich die Kirche bei aktuellen politischen Debatten neutral verhalten. Besonders wichtig ist das der Mehrheit bei Wahlempfehlungen durch die Kirchen. Das zeigt eine aktuelle Umfrage im Vorfeld des Katholikentags.
- Die klare Mehrheit bei MDRfragt lehnt die Appelle der Kirchen ab, die AfD nicht zu wählen.
- Für christliche Werte wird die Kirche nicht mehr gebraucht, finden 7 von 10 der Befragten.
- Die Berechtigung der Kirche sehen viele am ehesten im sozialen Bereich.
"Die Kirche sollte sich politisch neutral verhalten und lediglich den Fokus auf ihre Werte legen", findet Babette (46) aus dem Burgenlandkreis. Anders sieht das Silvio (41) aus Erfurt: "Dass die Kirche offen Position bezieht, ist sinnvoll. Damit kann sie auch noch einmal verdeutlichen, welche Werte sie vertritt." Babette und Silvio sind komplett unterschiedlicher Meinung, ob Kirchen in politischen Debatten Stellung beziehen sollen oder eben nicht.
Das Stimmungsbild der mehr als 20.000 Befragten pendelt bei dieser Frage auch nicht klar in eine Richtung: Etwas weniger als die Hälfte (44 Prozent) findet es wichtig, dass sich Kirchen und ihre Vertreter in politische Diskussionen einbringen. Die andere Hälfte (51 Prozent) spricht sich dagegen aus. Deutlich klarer fällt das Meinungsbild bei den Befragten aus, die selbst evangelisch, katholisch oder anders konfessionell gebunden sind: In dieser Gruppe sind drei Viertel (73 Prozent) dafür, dass sich Kirchen in aktuellen politischen Debatten positionieren. Das findet dagegen nur eine Minderheit (36 Prozent) der Befragten wichtig, die nach eigener Angabe nicht konfessionell gebunden sind.
Konkrete Wahlempfehlungen sehen viele kritisch
Sehr klar fällt das Meinungsbild der Befragten aus, wenn sich die Kirchen im Wahlkampf ganz konkret festlegen. Zu Beginn des Wahljahres hatten Vertreter der christlichen Kirchen appelliert, nicht die AfD zu wählen. Teile der Partei sind als rechtsextrem eingestuft und der Verfassungsschutz führt die AfD als Verdachtsfall. Den ganz konkreten Aufruf der Kirchen zur Nicht-Wahl der AfD lehnen 55 Prozent aller Befragten ab. 38 Prozent halten den Schritt dagegen für richtig.
Die Begründungen sind häufig ganz grundsätzlich. "Kirchen sind unabhängig vom Staat und haben sich aus Politik rauszuhalten", findet Smilla (63) aus dem Landkreis Börde. Hanna (26) schreibt: "Eine starke Vermischung von Kirchen und politischer Haltung erinnert mich stark an die deutschen Christen zur Zeit des dritten Reiches." Sie halte es nicht für angebracht, eine solche Einmischung der Kirchen in die Politik zu unterstützen.
Kirchen sind unabhängig vom Staat und haben sich aus Politik rauszuhalten.
Ullrich (57) aus Weimar dagegen begrüßt den Appell und begründet seine Zustimmung so: "Die Feinde der Demokratie sind auch die Feinde der Kirchen." Peter (66) aus dem Jerichower Land hält die Appelle der Kirchen-Vertreter gegen die AfD ebenfalls für richtig: "Die Kirchen haben sich vor und während der Zeit des Nationalsozialismus in fataler Weise und mit verheerenden Folgen weggeduckt." Es sei aus seiner Sicht unglaublich wichtig, diesen Fehler nicht zu wiederholen.
Die Befragung zur Rolle der Kirche wurde anlässlich des Katholikentags in Erfurt geführt. Auf Veranstaltungen diskutieren Gläubige, Kirchenvertreter und Politiker über aktuelle Themen wie den Umgang mit Extremismus, sozialer Gerechtigkeit und Klimawandel. Zu diesen Podien wurden keine Mandatsträger der AfD eingeladen und das sorgte bereits im Vorfeld für Diskussionen. Auf dem Katholikentag geht es auch um die aktuelle Krise der christlichen Kirchen in Deutschland. In Anbetracht der Mitgliederverluste suchen die Kirchen nach Wegen aus dieser Krise. Dazu gehört auch die Diskussion darüber, ob sie mit einer klareren Haltung zu politischen Themen wieder mehr Bedeutung für die Menschen erlangen.
Kirchen sind aus Sicht der Mehrheit nicht mehr wichtig – und selbst schuld daran
In der aktuellen Befragung sagen fast drei Viertel der Teilnehmenden (70 Prozent), die Kirchen – egal ob evangelisch oder katholisch – haben nur eine kleine oder keine gesellschaftliche Bedeutung. Die für diese Einschätzung genannten Gründe decken eine sehr große Bandbreite ab. Viele Teilnehmende aus der MDRfragt-Gemeinschaft kritisieren überholte Vorstellungen vom Zusammenleben, Versäumnisse beim Aufarbeiten der Missbrauchsskandale und auch die Höhe der Kirchensteuer. Die wird in Krisenzeiten als zusätzliche Belastung empfunden. Kritisiert wird auch, dass die Kirchen nicht deutlicher für christliche Werte eintreten. "Angesichts von Kriegen, Kinderarmut, Missbrauch, der Segnung von Kriegsaktivitäten und der Befürwortung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete bin ich von der Kirche enttäuscht", schreibt beispielsweise Karla (71) aus dem Jerichower Land.
Bestimmte Ansichten der Kirche sind total veraltet.
"Der unfassbare Missbrauch in beiden Kirchen und die fehlende bzw. nur sehr zögerliche Aufklärung hat den Kirchen sehr viel Vertrauen genommen", kommentiert Michael (78) aus Jena. "Bestimmte Ansichten der Kirche sind total veraltet", findet Rosemarie (72) aus Mittelsachsen. Enrico (51) aus dem Landkreis Bautzen ist der Ansicht: "Wenn man nicht offen der Weiterentwicklung gegenüber steht, dann kann man Menschen zwingen oder verängstigen, aber nicht innere Zuwendung erwarten."
Wer sich selbst als konfessionell gebunden betrachtet, räumt den Kirchen deutlich häufiger eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft ein (58 Prozent) als jene, die sich nicht als konfessionell gebunden betrachten (18 Prozent).
Während die Kirchen als Institution aus Sicht vieler Befragter nur wenig Bedeutung für die Gesellschaft haben, sieht es mit den christlichen Werten etwas anders aus. Jede und jeder Zweite (51 Prozent) findet, dass christliche Werte wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Solidarität und Versöhnung eine eher große Bedeutung haben. Den Unterschied erklären viele MDRfragt-Mitglieder in ihren Kommentaren ähnlich wie Rainer (76) aus dem Landkreis Görlitz: "Die Werte sind allein gültig, dazu brauchen wir keine Kirchen. Kirche ist eine Institution, die mit dem Glauben nur wenig zu tun hat." Jennifer (30) aus Gera findet: "Eine Gesellschaft kann nach guten Werten zusammenleben, ohne dass es dafür eine extra Institution mit eigenen Regeln und Privilegien gibt."
Kirchen schließen am ehesten Lücken im sozialen Angebot
"Die Diakonie der evangelischen Landeskirche übernimmt so viele Leistungen wie zum Beispiel Kindergärten und Altenheime, die eigentlich in der Pflicht des Staates sind", schreibt Reinhild (73) aus dem Landkreis Leipzig. Damit sei und bleibe Kirche auch weiterhin ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Reinhild gehört zur Mehrheit der Befragten (57 Prozent), für die Kirchen mit ihren sozialen Angeboten Lücken schließen, die der Staat offen lässt. Ein Drittel der Befragten (36 Prozent) sieht das anders.
Am ehesten wird der Kirche im sozialen Bereich eine Bedeutung zugesprochen, Nur jeder und jede dritte Teilnehmende (37 Prozent) findet dagegen, dass die Kirchen eine wichtige Stütze unserer Gesellschaft sind. Diese Stütze würde aus Sicht vieler auch nicht fehlen, wenn sie immer kleiner und unwichtiger wird. Weniger als ein Drittel der Befragten stimmt der Aussage zu, wenn immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten, könnte das zum Problem für die Gesellschaft werden.
Sieglinde (65) aus dem Landkreis Wittenberg fasst das ähnlich wie zahlreiche andere Befragte in ihrem Kommentar so zusammen: "Aus meiner Sicht ist die Kirche ein Relikt aus sehr alter Zeit, die damals sicherlich den Menschen Trost und Hilfe war. Sie ist aber auf dem uralten Stand stehen geblieben und passt heutzutage einfach nicht mehr in die Zeit."
Über diese Befragung
Die Befragung vom 21. bis 24. Mai 2024 stand unter der Überschrift: "Kirchen im 21. Jahrhundert – welche Rolle sollen sie spielen?"
Bei MDRfragt können sich alle anmelden und beteiligen, die mindestens 16 Jahre alt sind und in Sachsen, Sachsen-Anhalt oder Thüringen wohnen, denn: Wir wollen die Vielfalt der Argumente kennenlernen und abbilden. Die Kommentare der Befragten erlauben, die Gründe für die jeweiligen Positionen und das Meinungsspektrum sichtbar zu machen.
Da sich jede und jeder beteiligen kann, der möchte, sind die Ergebnisse von MDRfragt nicht repräsentativ. Bei dieser Befragung haben sich 20.511 Menschen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen online mit ihrer Meinung eingebracht.
Die Ergebnisse von MDRfragt werden nach wissenschaftlichen Kriterien anhand verschiedener soziodemografischer Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungsgrad gewichtet, um sie an die tatsächliche Verteilung in der mitteldeutschen Bevölkerung anzupassen. Damit wird die Aussagekraft der Ergebnisse erhöht und es ergibt sich ein valides und einordnendes Stimmungsbild aus Mitteldeutschland.
MDRfragt wird zudem wissenschaftlich beraten und begleitet, beispielsweise durch regelmäßige Validitätstests. Mehr zur Methodik von MDRfragt finden Sie am Ende des Artikels.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR extra | 15. Mai 2024 | 17:45 Uhr