Bildschirmzeit von Jugendlichen TikToks Zeitlimit ist nur ein "Feigenblatt"
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14. Juli 2023, 00:01 Uhr
TikTok ist darauf ausgelegt, die Nutzer und Nutzerinnen so lange wie möglich an den Bildschirm zu fesseln. Kürzlich hat die App ihre Einstellungen so verändert, dass es auch für Jugendliche noch schwieriger wird, die eigene Nutzungszeit einzuschränken. Wir haben Experten gefragt, welche Mechanismen hinter der Sogwirkung der App stecken und wie es Eltern dennoch schaffen, die Bildschirmzeit ihrer Kinder zu regulieren.
- Die 15-jährige Elaine verbringt täglich bis zu sieben Stunden mit TikTok. Durch eine Änderung der App fällt es ihr deutlich schwerer, ihre Bildschirmzeit einzuschränken.
- Mit verschiedenen Tricks schafft es TikTok, uns länger an den Bildschirm zu fesseln als andere Apps.
- Auch nach der Änderung gibt es noch Möglichkeiten, wie Eltern die Nutzungszeit ihrer Kinder bei TikTok regulieren können.
Bildschirmzeiteinstellungen bei Sozialen Medien
Wie schnell die Zeit vergehen kann, wenn man sich mit Sozialen Medien beschäftigt, dürften die meisten kennen, die selbst auf solchen Plattformen unterwegs sind. Die Kontrolle der eigenen Nutzungszeit erfordert dabei meistens vor allem eines: Selbstdisziplin. Wer sich nicht auf die eigene Willenskraft verlassen will, kann auch zu Unterstützung greifen.
Fast alle der aktuellen Unterhaltungs- und Social Media-Apps bieten Einstellungen an, mit denen eine maximale Bildschirmzeit eingerichtet werden kann und die es den Nutzern und Nutzerinnen erleichtern sollen, die mit den Anwendungen verbrachte Zeit zu regulieren. Häufig unter dem Stichwort "Digital Wellbeing".
Auch bei der Kurzvideo-App TikTok, die sich besonders unter Kindern und Jugendlichen großer Beliebtheit erfreut, gab es in den Einstellungen die Möglichkeit, mit geringem Aufwand ein Limit für die eigene Nutzungsdauer festzulegen. Wahlweise wurde so nach 40 Minuten, einigen Stunden oder einer individuell eingestellten Zeit eine Meldung eingeblendet, die den Nutzenden auf die bisher aufgewandte Zeit hinwies. Um dann noch weiterhin die für die Plattform typischen Kurzvideos schauen zu können, musste ein individuell einstellbarer vierstelliger Code eingegeben werden, ähnlich wie bei der Entsperrung von Smartphones. So war es zumindest bisher …
Keine Kontrolle mehr über die Nutzungszeit
Also wenn Schultage sind, dann sind es meist so zwei bis drei Stunden, am Wochenende waren auch schon wieder sieben Stunden voll – ich weiß nicht, wann das passiert ist.
Seit dem Frühjahr existiert diese Einstellung jedoch in dieser Form nicht mehr. Seitdem kann ohne Weiteres kein individueller Code mehr eingestellt werden. Dieser konnte im Fall von Kindern und Jugendlichen zum Beispiel auch von den Eltern oder Freunden festgelegt werden, damit die sich nicht auf ihre eigene Selbstdisziplin verlassen müssen. Seitdem muss der immer gleiche voreingestellte Code eingegeben werden, der zudem groß angezeigt wird. Dieser besteht aus den Zahlen 1 - 2 - 3 - 4.
Dass es diese Änderung den Nutzenden, die ihre Nutzungszeit einschränken wollen, deutlich schwerer macht, ist offensichtlich. Auch die Möglichkeit, sich von anderen Personen eine Zahlenkombination einrichten zu lassen, ist nun nicht mehr durch diese Funktion gegeben. Welche Auswirkungen das haben kann, erzählt die 15-jährige Elaine, die selbst sagt, Probleme damit zu haben, ihre Nutzungszeit auf TikTok zu regulieren:
"Also wenn Schultage sind, dann sind es meist so zwei bis drei Stunden, am Wochenende waren auch schon wieder sieben Stunden voll – ich weiß nicht, wann das passiert ist."
Da sie auch schon früher Schwierigkeiten hatte, ihre Nutzungszeit selbstständig zu begrenzen, bot ihr die Bildschirmzeiteinstellung ein effektives Hilfsmittel, nur noch so viel Zeit auf der App zu verbringen, wie sie es für richtig hielt. Sie selbst wusste den für die Freischaltung notwendigen Code nicht, sondern ließ ihre Eltern oder eine Freundin die vierstellige Zahlenfolge an ihrem Smartphone einstellen. So konnte sie laut eigenen Angaben ihre Nutzungszeit effektiv einschränken und verbrachte nur noch eine Stunde pro Tag mit der App. Das geht nun nicht mehr:
"Es gibt einem ja die Benachrichtigung, wenn man möchte, also ich habe bei mir 40 Minuten eingestellt, aber die kann man ja einfach wegmachen, also es bringt gar nichts, dementsprechend habe ich es gar nicht unter Kontrolle."
Die zu gut funktionierende Einstellung
Doch weshalb wurde eine offenbar gut funktionierende Funktion aus der App entfernt? Der Grund für die Deaktivierung könnte darin liegen, dass sie zu effektiv darin war, die verbrachte Zeit der Nutzer und Nutzerinnen auf der App einzuschränken:
"Eine wahrscheinliche Hypothese für mich, warum das jetzt auf diesen Default-Code (A. d. Red.: der nun voreingestellte Code) umgestellt wurde, ist, dass es wirksam war und dadurch gegen die Geschäftsinteressen von TikTok gearbeitet hat. Das Geschäftsinteresse von TikTok ist es ja, möglichst hohe Nutzungszeiten zu generieren. Das ist das, was TikTok verkauft: Aufmerksamkeit von Nutzern."
Das sagt Prof. Dr. Alexander Hahn von der Technischen Hochschule Nürnberg. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit dem Forschungsgebiet User Experience Research, bei dem die Nutzerwahrnehmung von digitalen Produkten, wie zum Beispiel Apps, erforscht wird.
Auf MEDIEN360G-Nachfrage gibt eine TikTok-Sprecherin als Grund dafür an, dass der "Passcode" auf 1 - 2 - 3 - 4 vorgegeben ist, dass "diese Funktion nun standardmäßig für alle Nutzenden unter 18 Jahren eingeführt" wurde. Bereits seit März zeigt TikTok allen minderjährigen Nutzenden – wenn diese ihr korrektes Alter angegeben haben – nach 60 Minuten täglicher Nutzungszeit einen Hinweis an. Dazu muss nun zudem der 1-2-3-4-Code eingegeben werden, um die Kurzvideos weiterzuschauen. Durch das Abtippen des Codes soll bewirkt werden, dass die Nutzenden eine "aktive Entscheidung treffen, um ihre Nutzungszeit auf TikTok zu verlängern und ihr Nutzungsverhalten zu reflektieren". Die 15-jährige Elaine sagt zumindest, dass ihr das "manchmal ein bisschen" hilft, ihre Nutzung zu unterbrechen.
TikTok ist für lange Nutzungszeiten designt worden
Aber warum verbringen Jugendliche wie Elaine ausgerechnet mit TikTok bis zu sieben Stunden pro Tag? Laut Alexander Hahn liegt das an mehreren Faktoren, die die Kurzvideo-App von anderen Apps unterscheidet. Zum Beispiel muss man sich die Inhalte bei TikTok nicht selbst aussuchen, es erfordert keine Aktivität des Nutzers oder der Nutzerin:
"Bei Instagram oder Facebook muss ich mir die App laufend konfigurieren, zum Beispiel dadurch, dass ich meine Freunde finde oder Influencern und Marken folge. Das ist immer ein Investment. Wenn ich diese Anpassung nicht vornehme, sind die Inhalte eher langweilig oder nicht relevant für mich. Bei TikTok ist das anders."
Durch den hochpersonalisierten Algorithmus werden die Videos den Nutzenden ganz automatisch anhand deren Interessen angezeigt. Dazu kommt, dass der Strom an Kurzvideos nie versiegt. Es stellt sich also kein Gefühl ein, alles gesehen zu haben, weil immer wieder neue Inhalte nachkommen.
Ein weiterer Faktor, den Alexander Hahn bei TikTok hervorhebt, ist die Unvorhersehbarkeit der Inhalte, die man als Nächstes zu sehen bekommt:
"Der ganz krasse Anreiz bei TikTok ist die Unvorhersehbarkeit des Contents. Das ist das, was uns so ein bisschen in die Sucht reinzieht. Das ist wie an Weihnachten: Der coole Moment ist nicht das Geschenk auszupacken, sondern die Vorfreude. Also die Antizipation einer Belohnung."
Dabei sei gerade TikTok im Vergleich zu Instagram oder Facebook auf die Psychologie der Nutzer und Nutzerinnen optimiert. Laut Alexander Hahn ist TikTok "wirklich extrem gut auf das menschliche Gehirn und auf dessen Belohnungsmechanismen designt". Auch die "Digital Wellbeing"-Einstellungen seien für ihn kein ernstzunehmender Versuch von TikTok, die Bildschirmzeit einzuschränken, sondern sollen vor allem die Außenwahrnehmung der App verbessern:
"Es ist ein Feigenblatt, dass TikTok in der Presse sagen kann: Wir machen ja was. Aber de facto ist eine Verhaltensänderung nicht gewünscht."
Wie viel Zeit sollten Jugendliche mit TikTok verbringen?
Der Psychologe Prof. Dr. Christian Montag von der Universität Ulm, der sich unter anderem mit dem Einfluss von Internet und Smartphones auf Emotionalität, Persönlichkeit und Gesellschaft beschäftigt, kann darauf keine pauschale Antwort geben. Wie viel Zeit Jugendliche mit Social-Media-Aktivitäten maximal verbringen sollten, hänge von vielen verschiedenen Faktoren ab:
"Kommt der oder die Jugendliche gut in der Schule mit? Gibt es genügend körperliche Bewegung und wie sozial eingebunden ist der junge Mensch? Nur bei einer ganzheitlichen Betrachtung kann meines Erachtens herausgearbeitet werden, ob die Jugendlichen unter Teilaspekten ihrer Social-Media-Nutzung leiden oder gar profitieren."
Auch die Website Ins-Netz-gehen.info der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung weist darauf hin, dass es bei der maximalen Bildschirmzeit von Jugendlichen auf individuelle Faktoren ankommt. Als grober Richtwert kann aber folgende Rechnung dienen:
- 10 – 12 Jahre: 1h pro Tag bzw. 7 h pro Woche
- 13 – 14 Jahre: 1,5 h pro Tag bzw. 10,5 h pro Woche
- 15 – 16 Jahre: 2 h pro Tag bzw. 14 h pro Woche oder 2,5 h bzw. 17,5 h pro Woche
Alternativ kann auch das jeweilige Alter als Anhaltspunkt für die maximale wöchentliche Bildschirmzeit herangezogen werden (Ein 15-Jähriger hat somit 15 Stunden Bildschirmzeit pro Woche zur Verfügung).
Wege für Eltern, die Bildschirmzeit von Jugendlichen einzuschränken
Auch nach dem Wegfall des individuell einstellbaren Codes in den Bildschirmzeiteinstellungen gibt es noch eine Möglichkeit, in der App TikTok eine Art Kindersicherung einzustellen. Allerdings ist diese besser in der App versteckt, erfordert mehr Aufwand in der Einrichtung und geht mit weiterem Kontrollverlust für die Jugendlichen einher.
Über einen Umweg lässt sich im sogenannten "Begleiteten Modus" innerhalb von TikTok eine maximale tägliche Nutzungsdauer festlegen, die nur mit einem Passwort umgangen werden kann. Hierzu muss ein zweites TikTok-Konto mit dem des Nutzenden verknüpft werden. Ein Konto wird so zum "Teenager" und das andere zum "Elternteil". Dort stehen dem "Elternteil" dann mehrere nützliche Funktionen zur Verfügung, um die App-Nutzung des "Teenagers" einzuschränken: Neben der maximalen täglichen Nutzungszeit lassen sich auch Zeiten hinzufügen, in denen TikTok keine Push-Benachrichtigungen senden soll und bestimmte Stichworte aus der Nutzung ausschließen.
TikTok begründet über seine Sprecherin die Einstellungsänderung auch damit, dass diese nur als Ergänzung zum "Begleiteten Modus" zu sehen sei. Warum es jedoch zuvor möglich war, ein Passwort einfach über die eigenen Bildschirmzeiteinstellungen einzustellen und nun nicht mehr ist, scheint damit nicht nachvollziehbar begründet.
App-interne Bildschirmzeitbegrenzungen sind keine gute Lösung
Dass mit der Einrichtung eines weiteren Kontos ein höherer Aufwand verbunden ist und die Jugendlichen abgesehen von der Bestimmung der Nutzungszeit mit weiteren Einschränkungen und Überwachung der Eltern rechnen müssen, spricht nicht für eine nutzerfreundlichere Neuerung. Für Elaine ist das zumindest keine Option. Die 15-Jährige fühlt sich dadurch zu sehr von ihren Eltern kontrolliert. Dass Elaine vor dem Interview noch nie etwas vom "Begleiteten Modus" gehört hat, verdeutlicht, dass die Bildschirmzeitsperre mit Passwort seit der Änderung in der App nun weiter in den Hintergrund gerückt ist und nur von Nutzenden gefunden wird, die sich aktiv über Möglichkeiten zur Begrenzung der Nutzungszeit informieren.
Christian Montag hält die App-eigenen Einstellungsmöglichkeiten im Allgemeinen als nicht geeignet, die Bildschirmzeit effektiv einzuschränken:
"Mir scheinen diese Werkzeuge eher der Industrie zu helfen. Frei nach dem Motto: Wir haben Euch ein tolles Werkzeug zur Überprüfung der Online-Zeiten gegeben. Jetzt macht das Beste daraus. Die Verantwortung wird damit auf die Nutzenden abgeschoben."
Alexander Hahn von der Technischen Hochschule Nürnberg rät ebenfalls davon ab, auf die App-eigenen Einstellungen zu vertrauen. Stattdessen könne man die Einstellungsmöglichkeiten der Betriebssysteme nutzen, die sowohl bei Android- als auch Apple-Geräten in den Einstellungen aktivierbar seien. Der Vorteil: Wenn das Tageslimit überschritten werden will, müssen diese umständlich deaktiviert werden, das helfe mehr als solche, die mit wenigen Klicks umgangen werden können.
Löschen als letzte Konsequenz
Wenn auch die Bildschirmzeiteinstellungen der Betriebssysteme oder der begleitete Modus nicht helfen, eine exzessive Nutzung der App zu verhindern, sehen beide Wissenschaftler nur noch eine Möglichkeit: Die App vom Handy zu löschen.