Hassliebe „Kommentare“ Redaktionen hadern mit dem richtigen Umgang
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01. Juni 2021, 00:01 Uhr
Spätestens seitdem es das Internet gibt, mussten sich Medien daran gewöhnen, unmittelbar die Meinungen von Nutzerinnen und Nutzern über die eigene Arbeit zu erfahren. Weil aber eine laute Minderheit die Online-Kommentarspalten und die darin angezettelten "Debatten" dominiert, hadern Redaktionen mit dem richtigen Umgang.
Eigentlich sind Online-Kommentare ein Segen. Sie geben Medienschaffenden sofort eine Wasserstandsmeldung darüber, wie ihre Beiträge ankommen. Es wird sofort sichtbar, ob und wie sie gelesen und genutzt werden. Mehr noch: In einer idealen Welt entstehen aus den Kommentaren engagierte Diskussionen interessierter Nutzerinnen und Nutzer untereinander, die ihre Ansichten und ihr Wissen teilen.
Wut- und Hassrede stören Diskussionen
Genauso können Online-Kommentare aber ein Fluch sein. Denn in manchen dieser Kommentarspalten toben erbitterte Schlachten mit Beleidigungen, Verschwörungserzählungen bis hin zu Rassismus und Hate-Speech. Die Bundesregierung hat deswegen ein Gesetz zur Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus im Netz erlassen, dass seit April in Kraft ist. "Wir müssen die Spirale von Hass und Gewalt stoppen, die im Netz beginnt und in schrecklichen Verbrechen wie in Halle und Hanau enden kann. Rassismus, Antisemitismus, Hetze gegen Politikerinnen und Politiker, Journalisten oder Wissenschaftler – all das ist in der Pandemie oft noch aggressiver als zuvor", sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) zur Begründung im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel.
Medien schränken Kommentarfunktion ein
Zahlreiche Medien haben deshalb die Kommentarfunktion stark eingeschränkt, lassen also nur zeitlich begrenzt Kommentare zu. Andere haben die Diskussionen gleich ganz geschlossen oder in die sozialen Netzwerke ausgelagert. Der Leitfaden, wie eigentlich online kommuniziert werden soll und welche Spielregeln dabei gelten, ist dabei immer die Netiquette, eine Art Hausordnung für die Kommentarspalten.
Denn Online-Kommentare gehören heute zum Medienalltag dazu. Auch wenn viele Medienschaffende über ihren Ton und vor allem den Zeitaufwand stöhnen, den deren Moderation und Betreuung mit sich bringt. Oliver Reinhard, der stellvertretende Feuilleton-Chef der Sächsischen Zeitung aus Dresden, gehörte früher zu ihnen.
Affektgesteuerte Kommunikation
"Ich war längere Zeit der Meinung, wir sollten es lassen, wenn wir es nicht moderieren und einfangen können", sagt Reinhard im Interview mit MDR MEDIEN360G. Heute hat er seine kritische Position jedoch geändert. Grund für seine ursprüngliche Skepsis waren die oft vergiftete Stimmung und der raue Ton im Netz. Sollte man deswegen Kommentare abschalten oder gar die eigene Berichterstattung ändern? "Dann wurde mir aber relativ bald klar, das wäre ja ganz furchtbar, das wäre ja eine Schere im Kopf, eine Beschneidung", sagt Reinhard heute. Medien dürften nicht die Art und Weise, wie sie berichten und wie sie ihre Inhalte veröffentlichen davon abhängig machen, "dass es jede Menge Menschen gibt, die sich nicht im Griff haben und ihre Affekte nicht kontrollieren können. Das wäre ja furchtbar."
Auch der Medienwissenschaftler Lorenz Engell spricht mit Blick auf die Kommentarkultur im Netz von einer solchen affektgesteuerten Kommunikation. Damit, so Engell, sei eine ganz neue Art von Texten entstanden, die es so früher nicht gegeben habe.
Diese Art von Kommunikation spricht gar nicht so sehr das kritisch-rationale Denken und Bewusstsein und das Abwägen und die Argumente an, sondern ist geradezu körperlich
,sagt der Professor für Medienphilosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Engell spricht von einer "Schreispirale", die sich in der Online-Diskussionskultur breit mache. "Wer schreit lauter, wer schimpft stärker? Wer vertritt die skurrilere, aufmerksamkeitsheischendere Idee?"
Wie sollten Medien, aber auch Nutzerinnen und Nutzer mit solchen Online-Entgleisungen umgehen? "Um sich durch all den Müll im Internet durch zu navigieren, braucht man die Fähigkeit zum kritischen Denken, aber auch zum kritischen Ignorieren", heißt es beim Nieman Lab, der Journalismus-Abteilung der US-Eliteuniversität Harvard. Auch die für ihr funk-Format maiLab bekannte Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim spricht von der "Geheimwaffe" des Ignorierens: "Man sollte manche Provokationen im Netz einfach ignorieren, weil sowieso keine konstruktive Diskussion möglich ist."
Schreispirale: keine Gefahr für die Vielfalt
Denn das laute Geschrei verändert die Medienlandschaft und die öffentliche Kommunikation. Bedroht es aber die Gesellschaft und die mediale Vielfalt, wie manche Befürchtungen nahelegen? Nein, sagt Medienwissenschaftler Engell. Denn die Schlagabtausche fänden auf dem sogenannten "Second Screen" statt, dem zweiten Bildschirm neben dem ersten, der die klassischen Medien abbildet. Diese stünden mit ihrer Berichterstattung aber weiter im Mittelpunkt und schafften so "die Wissensgrundlage wie den gesellschaftlichen Konsens."
Denn die in den Online-Kommentaren vertretenen Meinungen sind nicht repräsentativ für die öffentliche Meinung.
Hier kommentiert definitiv nicht der Querschnitt der Bevölkerung
, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Anna Sophie Kümpel. Studien liefern zwar höchst unterschiedliche Zahlen, alle kommen aber zum klaren Ergebnis: Nur ein kleiner Teil der Nutzerinnen und Nutzer kommentiert überhaupt. Und von dieser ohnehin schon kleinen Gruppe gemessen an der Zahl der Gesamt-User verfasst wiederum eine absolute Minderheit den größten Teil der Kommentare.
Dieser Effekt wird durch Hass-Kommentare noch verstärkt. Denn viele Internetnutzerinnen und -nutzer beteiligen sich dann schlicht nicht mehr an der Diskussion im Netz. Laut Studien betrage der Anteil der sogenannten inzivilen Kommunikation zwischen 25 bis 41 Prozent, so die Juniorprofessorin vom Institut für Kommunikationswissenschaft der TU Dresden.
Medien haben die alleinige Deutungshoheit verloren
Oliver Reinhard von der Sächsischen Zeitung hat sich irgendwann entschieden, die Kommentarspalten nicht allein den Schreihälsen zu überlassen. Heute kommentiert er selbst sehr viel und liefert sich häufig heftige Diskussionen in den sozialen Netzwerken. Denn in den Auseinandersetzungen über seine Themen und seine Arbeit lasse sich gut vermitteln, was die eigentlichen Kompetenzen von Journalistinnen und Journalisten sind, sagt Reinhard: Gründlich zu recherchieren, Informationen zu verifizieren und Quellen zu prüfen.
Dass heute alle Medienberichte leicht kommentieren können, habe außerdem zu einer ganz entscheidenden Veränderung beigetragen: "Den Medien ist damit etwas verloren gegangen ist, und das ist absolut nicht schade: Nämlich das Belehrende. Dieser Tonfall, das merken wir seit vielen Jahren, kommt überhaupt nicht an."
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