Das Interview mit Jan Claas van Treeck zum Nachlesen Psychologische Kriegsführung auf Social Media
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30. Oktober 2023, 14:21 Uhr
MEDIEN360G: Zum Gespräch mit MEDIEN360G begrüße ich heute den Medienwissenschaftler Prof. Dr. Jan Claas van Treeck. Herzlich willkommen! Sie sind Experte für Digitale Transformation und Medien an der Hochschule Fresenius in Hamburg und daher genau der richtige Experte für uns. Denn aktuell lese ich viele Artikel von einschlägigen Nachrichtenmagazinen zum Thema Krieg und der Verbreitung von terroristischen Inhalten auf Facebook, Instagram, TikTok, Telegram und Co. Die Kriegsinhalte des Nahostkonflikts füllen nicht nur die seriösen Medien, sie sind eben auch auf den Sozialen Netzwerken in einer riesigen Masse zu finden.
Wir konnten mit Ihnen bereits im vergangenen Jahr zum Thema "WarTok – Krieg auf Social Media" sprechen, damals über den Ukrainekrieg. Was ist der Unterschied des aktuellen Nahostkonflikts mit dem Terror durch die Hamas im Vergleich zum Ukrainekrieg, speziell in den Sozialen Netzwerken?
Jan Claas van Treeck: Da sind ganz einfach sehr viel mehr Player im Spiel, die ganz unterschiedliche Interessen haben. Also im Ukraine-Russland-Konflikt gibt es auch einige Player, aber die gruppieren sich relativ gut in ein Pro-Ukraine- und ein Pro-Russland-Camp. Im Nahostkonflikt ist es so, da sehen wir die Bruchlinien. Also es gibt ganz viele unterschiedliche Player mit unterschiedlichen Interessen. Das heißt, auf der einen Seite haben wir die Israelis, auf der anderen Seite haben wir – und da fällt es ja schon auseinander. Also wir haben die Palästinenser, wenn ich überhaupt, ich mache jetzt hier sozusagen die Berühmten Air Quotes, wenn ich von "die" Palästinenser reden kann. Das sind natürlich auch viele unterschiedliche Gruppen, aber der direkte Gegner der Israelis ist erst mal die Hamas, also eine terroristische Organisation, die sicherlich auch nicht für sich reklamieren kann, für alle Palästinenser zu sprechen oder zu handeln. Das ist das Eine.
Zum anderen sehen wir ja auch die äußerst komplexe politische Lage im Nahen Osten da reflektiert. Das heißt, wir haben Spieler wie Ägypten zum Beispiel oder wie Saudi-Arabien. Wir haben die Golfstaaten, die sich ja in den letzten Jahren immer mehr an Israel angenähert haben und die jetzt selber eine ganz, ganz, ganz feine Linie betreten müssen. Also sie dürfen sozusagen nicht zu sehr pro Israel sein für die eigene Bevölkerung, weil die eigene Bevölkerung ist potenziell immer eher pro Palästina.
Und dann gibt es – und das darf man jetzt bei dem Thema Social Media nicht unterschätzen – es gibt eine riesige palästinensische Diaspora und die gibt es schon seit Jahrzehnten. Das sind dann zum Beispiel Palästinenserinnen und Palästinenser, die vielleicht als Flüchtlinge schon in den 80er Jahren, in den 70er Jahren, wann auch immer nach Deutschland oder nach Frankreich kamen und die natürlich auch ihre eigene Sicht darauf haben. Für so einen Chor von ganz vielen Stimmen ist Social Media eigentlich gemacht, würde ich sagen.
Aber jetzt kommt das Caveat in diesem Spielchen: Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Sozialen Medien diese Diversität der Stimmen auch ordentlich divers abbilden. Das heißt also, innerhalb dieses diffusen Chors von Stimmen wird dann in den allermeisten Fällen das Polarisierendste, das Lauteste hoch geschwemmt und uns ausgespielt.
MEDIEN360G: Verfolgen die dieselbe Agenda oder unterschiedliche Interessen? Und was ist diese Agenda, die sie verfolgen?
Jan Claas van Treeck: Das ist natürlich eigentlich eine Frage der Kriegsführung. Es gibt dieses Wort "PsyOps", psychologische Operationen. Das ist das, was man vor ein paar Jahrzehnten vielleicht noch Propaganda genannt hat. Die Idee dahinter ist immer die gleiche: Ich will mobilisieren. Das heißt, ich will meine eigene Seite mobilisieren, dass meine eigene Seite stärker und motivierter mitmacht. Gleichzeitig will ich neutrale Akteure für mich einnehmen, für mich auch mobilisieren. Und gleichzeitig will ich zusätzlich auf der Gegnerseite zum Beispiel Furcht säen. Ich will zum Beispiel sagen: Wir haben die größten Waffen, greift uns gar nicht an! Das wäre so eine klassische PsyOp.
Genau das versuchen jetzt sozusagen beide Seiten, also sowohl die Hamas als natürlich auch Israel. Und beide Seiten sehen sich natürlich dann Öffentlichkeiten – also auch wieder der große, große, große Plural – gegenüber, die auf verschiedene Arten und Weisen neutral sind und die man gewinnen will.
Nehmen wir zum Beispiel mal die offizielle Linie der Bundesrepublik, dann ist die, sagen wir mal, sehr positiv neutral. Also Solidarität. Solidarität mit Israel. Das heißt also, die Social-Media-Krieger der Hamas könnten jetzt zum Beispiel versuchen, diese eher positive Stimmung der Regierung in Deutschland dadurch zu unterminieren, dass man – angebliche – Gräueltaten der Israelis in irgendeiner Form reinspielt, in der Hoffnung, dass zum Beispiel die öffentliche Unterstützung für den Kurs der Bundesregierung in irgendeiner Form schwindet. Das wäre wie gesagt eine klassische PsyOp. Das ist Beeinflussung oder der Versuch der Beeinflussung.
MEDIEN360G: Das ist auch eine Art der psychologischen Kriegsführung.
Jan Claas van Treeck: Genau das ist es eben.
MEDIEN360G: Social Media dient in diesem Fall auch als Waffe?
Jan Claas van Treeck: Das ist jetzt eine Frage der Definition von Waffe. So weit würde ich mich nicht aus dem Fenster hängen. Aber es ist ein Tool im Rahmen einer bewaffneten Konfliktführung. Ich will ganz einfach nur möglichst viele Multiplikatoren, die vielleicht 80, 90 Prozent von dem verbreiten, was ich will, um das dann eben so dermaßen zu aggregieren, dass die Algorithmen das dann hochspülen und sagen, das ist jetzt etwas, was viele Leute interessiert. Dieser Hashtag trendet, das wird jetzt Ihnen oder mir hochgespielt.
MEDIEN360G: Gibt es da Unterschiede in den verschiedenen Social-Media-Plattformen oder eine, die besonders anfällig auch dafür ist?
Jan Class van Treeck: Definitiv. Die sind natürlich alle unterschiedlich. Also fangen wir an mit Telegram. Telegram ist sicherlich so ein bisschen "closed shop". Das heißt, das Charmante für Nutzer von Telegram ist, dass Telegram so halböffentlich ist. Das funktioniert ja über Telegram-Gruppen. Das bedeutet also, Telegram ist eigentlich ein perfektes Tool, um innerhalb der eigenen Gruppe zu mobilisieren. Da kann ich dann auch sehr viel schärfer, sehr viel polarisierender werden, als ich das in der Öffentlichkeit tun würde. Damit würde ich ja eventuell die Öffentlichkeit, was auch immer das ist, eventuell gegen mich feindlich stimmen. Aber intern in meiner Gruppe kann ich so richtig die Sau rauslassen, die sprichwörtliche.
MEDIEN360G: Das heißt, bei Telegram geht es um geschlossene Gruppen.
Jan Claas van Treeck: Da geht es vor allen Dingen um geschlossene oder um halb geschlossene Gruppen. Mit "halb geschlossen" meine ich jetzt: Das sind Gruppen, zu denen ich ganz einfach beitreten kann. Aber wenn ich nicht Mitglied dieser Gruppe bin, dann kriege ich auch die Inhalte nicht.
Dann müssen wir reden über X, formerly known as Twitter. Da ist es ganz anders. Das will eben offen sein. Dementsprechend ist auch da die Kommunikation eine andere. Das heißt, die Nutzer auf X wissen, wenn sie es denn wissen, dass sie eigentlich immer in mehrere Zielgruppen gleichzeitig senden. In meine eigene Supporterzielgruppe, in so verschiedene neutrale Zielgruppen, die ich gewinnen will. Und natürlich auch in die Gegnerzielgruppen, die im schlimmsten Falle alles das, was ich mache, selbst sofort für sich nutzen.
Dann müssen wir über Instagram reden. Instagram ist vor allen Dingen deswegen speziell, weil Instagram sich an ein noch mal jüngeres Publikum richtet und weil Instagram eben sehr stark auf Bildkommunikation setzt. Bildkommunikation funktioniert anders als Textkommunikation; anders als Audiokommunikation. Das heißt, da sind die Regeln ganz einfach andere. Ich würde sagen, auf Instagram muss man das Spielchen etwas subtiler betreiben, gleichzeitig eben komplett andere Zielgruppe. Und zwar eine Zielgruppe, die sehr mobilisierungsfähig ist, nämlich junge Leute. Die sind sozusagen schneller mit dabei, sind begeisterungsfähiger, sind schneller, eventuell angeekelt, reagieren heftiger. Und dementsprechend ist Instagram ein Medium, das genau das bedient.
Zu allerletzt müssen wir dann sicherlich reden über TikTok. TikTok ist natürlich noch mal videolastiger als Instagram. Aber TikTok ist eben fast nur Video. Und jetzt kommt ein ganz, ganz, ganz großer Unterschied zwischen TikTok und Instagram: Das ist die Frage der Player, die dahinter stehen. Das heißt, hinter Instagram steht mit Meta, ehemals Facebook, ein westlicher Konzern. Damit unterliegen die auch westlichen Werten, westlichen Bestimmungen. Während hinter TikTok ein chinesischer Konzern steht, von dem bekannt ist, dass er einer enormen politischen Kontrolle der CCP, der Chinese Communist Party, unterliegt.
MEDIEN360G: Aber um noch mal zurückzukommen auf die verschiedenen Plattformen: Das heißt, es sind alle relevant, weil jede Plattform ein bisschen anders funktioniert, die User ein bisschen anders ticken, verschiedene Gruppierungen in entweder einer geschlossenen oder halb geschlossenen Gruppe oder eben als Masse schneller erreichbar sind.
Jan Claas van Treeck: Gleichzeitig funktioniert das Spielchen natürlich crossmedial. Einzelne Inhalte werden durch alle verschiedenen Plattformen geschoben.
MEDIEN360G: Welche Gefahr geht damit auch für uns Social Media Nutzer einher, in dem, was da gerade passiert?
Jan Claas van Treeck: Das sind die Gefahren, die wir eigentlich alle schon kennen aus der Diskussion um Social Media, also Filterbubbling, Polarisierung, algorithmische Priorisierung von Content, der vielleicht gar nicht so gut ist. Aber, und das ist, glaube ich, das Wichtigste: Geschwindigkeit, darum geht es. Das Problem ist ja, das kennt man vom Faktenchecken: Wenn die Lüge, die Fake News einmal in der Welt ist, dann ist sie durch noch so viel Faktencheck nicht wieder zurückzunehmen, denn die floriert dann weiter.
MEDIEN360G: Welches Problem entsteht dadurch für die Nachrichtenmacher?
Jan Claas van Treeck: Da ist ja dieses Tagesschau-Beispiel, das kann man jetzt auch alles nachlesen. Was ist da passiert? Da gab es eine Explosion rund um ein Krankenhaus in Gaza. Das heißt also, es ist etwas Schreckliches passiert. Und sofort ging es durch die Sozialen Medien: Es sind die Israelis gewesen, sie müssen es gewesen sein; die bombardieren ja im Moment sowieso Gaza. Seht euch an, die schrecklichen Israelis haben jetzt sogar ein Krankenhaus bombardiert. Das war ein Inhalt, der sofort aufgenommen wurde von dutzenden Accounts, die den Israelis sozusagen auch nichts gönnen, die sagen: Nein, das traue ich denen zu. Die sind es garantiert gewesen.
Und ich glaube, diese Kakophonie der Stimmen, die da herrschte, also diese Multitude, führte dann dazu, dass in dem Fall die Tagesschau, die altehrwürdige Tagesschau, sich wahrscheinlich bemüßigt sah, auch was dazu zu sagen. Und die haben jetzt relativ wenig gecheckt und relativ wenig Selbstzweifel walten lassen und haben ganz einfach gesagt: Ja, ja, Israel. Dabei ist ihre Pflicht nicht "jumping to conclusions", wie die Engländer sagen, sondern den Schritt zurückzunehmen und zu sagen: Das ist passiert. Wir wissen noch nichts, im Zweifel für den oder die Angeklagten. Es sieht aus, wie ..., aber Achtung, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, das weiß man im Moment nicht.
Damit sind Sie als Journalistinnen und Journalisten leider kreuz-langweilig mit dieser Berichterstattung. Während irgendein, was weiß ich, pro-palästinensischer Account sagt: Wir wissen es ganz genau, die Israelis waren es, die haben so was schon immer gemacht. Der ist attraktiver. Dutzende andere Accounts, die dem naheliegen, haben es natürlich retweetet, gesharet, geliket, was auch immer. Und dann geht das algorithmische Spiel los.
MEDIEN360G: Aber dahinter kann natürlich auch Populismus und Falschmeldungen stecken.
Jan Claas van Treeck: Und ich denke, ganz viele von diesen Spielern in diesem Spielchen auf Social Media wissen das und denen ist das nicht nur egal, sondern das wollen die.
MEDIEN360G: Wie bewusst ist das den Nutzern, wenn sie ihren Feed durchscrollen?
Jan Claas van Treeck: Da liegt, glaube ich, das Problem. Das ist uns allen nicht bewusst. Aber wenn jetzt wir beide hier vor unseren Bildschirmen sitzen, dann würden wir sagen, wir sind ja Profis. Wir sind wahrscheinlich sehr medienkompetent. Gleichzeitig sind auch wir immer noch Opfer davon. Das passiert selbst uns. Wenn das selbst uns passiert als Experten, dann finde ich das jetzt schwer, den Nichtexperten jetzt noch zu unterstellen, sie sollten mal gefälligst sich selbst medial weiterbilden. Die sind gebaut für unsere Art der problematischen Wahrnehmung. Unsere Art der Wahrnehmung ist grundsätzlich problematisch. Wir haben immer noch so Steinzeitgehirne, die mit all dem nicht so richtig umgehen können. Und da spielt Social Media hervorragend mit.
MEDIEN360G: Das heißt, viele schnelle Bilder, polarisierende Inhalte, viel Drama, weil das bei uns ankommt. Und Emotionalität.
Jan Claas van Treeck: Genau. Weil das ankommt und vor allen Dingen: viel vom immer Gleichen. Das ist der Trick des Algorithmus. Das heißt, ja, das Drama, die Polarisierung, ist toll. Aber wenn das Drama, die Polarisierung mit ganz leicht anderer Akzentuierung noch von einem anderen Account kommt und noch von einem anderen Account kommt und noch von einem anderen Account, dann baut sich da am Ende so ein Berg auf, durch den man selbst mit guter Medienbildung vielleicht auch gar nicht durchkommt.
MEDIEN360G: Wir kamen jetzt auch von den verschiedenen Sozialen Netzwerken über seriöse Nachrichtenmacher bis zu uns, den Nutzern, und ich habe noch mal zwei Fragen. Einmal zu den Nutzern: Wie wird denn dadurch unsere Wahrnehmung von Krieg geprägt oder verändert?
Jan Claas van Treeck: Unser Bild vom Krieg hat immer auch Auswirkungen darauf, wie der Krieg geführt werden kann. Die Antwort darauf war in den guten alten Zeiten vor Social Media dieses "embedded journalism", was wir aus dem Golfkrieg kennen. Das heißt also: Ich nehme die Journalistinnen und Journalisten mit und kontrolliere das ein bisschen und dann machen die nur die Berichterstattung, die ich gerne hätte. Das ist jetzt anders. Das gibt es jetzt nicht mehr.
Jetzt gibt es auch OSINT, Open Source Intelligence, jetzt gibt es Social-Media-Quellen, jetzt gibt es Citizen Journalism, jetzt gibt es irgendwelche YouTuber. Das heißt, der Chor der Stimmen ist jetzt sehr viel heterogener und größer geworden, dadurch natürlich auch schwerer zu kontrollieren, aber gleichzeitig, wenn ich das Spielchen begriffen habe, noch effektiver. Also es geht nicht darum, dass sie jetzt genau meine Info, dieses eine Informationsding glauben, sondern es geht eher darum, dass ich bei ihnen eine Stimmung erzeuge.
MEDIEN360G: Das ist mit emotionalem Content immer auch sehr gut möglich. Inwiefern lohnen sich denn auch Kriegsinhalte für die Sozialen Netzwerke? Wollen die so was eigentlich?
Jan Claas van Treeck: Das werden die jetzt nicht laut sagen, aber natürlich wollen die das. Denn das was die Sozialen Netzwerke wollen, ist möglichst guter Content. Und mit "gut" meine ich Content, der eben sehr viel Aufmerksamkeit erzeugt. Das heißt, die wollen ja Viralität. Je besser der Content zirkuliert, desto besser auch fürs Soziale Netzwerk. Das bedeutet dann nämlich am Ende irgendwie mehr Nutzer, mehr Interaktion, mehr Werbeeinnahmen.
MEDIEN360G: Die einzigen Regularien, die wir dagegen haben, sind wirklich unsere EU-Richtlinien.
Jan Claas van Treeck: Am Ende muss man selbst Regulation betreiben. Dann sind wir wieder bei der Medienbildung.
MEDIEN360G: Da kommen wir danach hin: Wie kann ich mich selbst auch dagegen schützen?
Jan Claas van Treeck: Natürlich gibt es in der EU, gibt es im Westen in irgendeiner Form Regularien. Ja, die haben aber das Hase-und-Igel-Problem. Das heißt also, wenn es schon draußen ist, dann kann ich sagen: Hm, das ist aber schwierig. Wenn ich sage, das ist aber schwierig, dann brauche ich ja eine gewisse Zeit. Und in dieser Zeit ist das Zeug ja draußen.
MEDIEN360G: Und was einmal draußen ist, kann man nicht mehr einfangen.
Jan Claas van Treeck: Das bleibt auch draußen. Das ist bei TikTok wahrscheinlich noch sehr viel schwieriger, weil da die Regularien noch mal ganz andere sind und die vielleicht auch an Regulation in bestimmten Dingen gar kein Interesse haben. Aber das gilt auch für die westliche Seite.
MEDIEN360G: Vor allem, wenn die Kriegstreiber selbst die Inhalte erstellen und die auch über private Accounts dann veröffentlichen.
Jan Claas van Treeck: Genau. Machen wir uns nichts vor, es gibt Farmen für die Art und Weise, wie Russland das macht. Was da schon lange zirkuliert, sind Trollfabriken, die zeitweise auch von der Gruppe Wagner betrieben wurden, also ganze Einheiten, die ganze Bürohäuser irgendwo in Sankt Petersburg besetzen, wo es also nur Social-Media-Krieger gibt mit dutzenden Accounts, die versuchen, da möglichst Stimmungsmache zu betreiben. Und da ist Russland nicht der einzige, das machen sozusagen alle mehr oder weniger offen.
MEDIEN360G: Manche Nutzer haben jetzt auch Angst, ungewollt auf gewalthaltige Inhalte zu stoßen. Gibt es da dann Möglichkeiten, sich und auch seine Kinder davor zu schützen?
Jan Claas van Treeck: Sehr, sehr, sehr schwierig. Es gibt natürlich Versuche, so Kinderfilter und solche Sachen ...
Nein, gibt es eigentlich nicht. Das heißt, am Ende ist die einzige Möglichkeit, den eigenen Feed extrem gut zu kuratieren. Dass ich also sage, ich abonniere nur ganz bestimmte Kanäle, wo ich weiß, da wird so etwas nicht gesendet. Das ist das eine. Und zum anderen kann ich natürlich irgendwie auf Filterung durch die Social-Media-Betreiber hoffen. Da würde ich aber nicht viel drauf geben.
MEDIEN360G: Und Einstellungsmöglichkeiten für die jeweiligen Plattformen?
Jan Claas van Treeck: Ja, es gibt Einstellungsmöglichkeiten für die jeweiligen Plattformen, es funktioniert aber nicht. Das Problem ist da Folgendes: Nehmen wir mal an, ich bin jetzt Facebook/Meta, also die Firma, und ich betreibe jetzt unterschiedliche Plattformen. Das bedeutet, Milliarden Leute laden bei mir permanent irgendetwas hoch. Wie zur Hölle kann ich das denn überhaupt in irgendeiner Form sichten? Nehmen wir mal an, ich könnte es sichten. Kann ich das denn zeitnah sichten? Spätestens bei "zeitnah" bricht es dann komplett zusammen. Das heißt, die einzigen Möglichkeiten, die da bestehen, sind algorithmische Filterungen. Schwierig, ganz schwierig, weil die nämlich umgangen werden können. Ganz einfach. Wirklich einfach.
MEDIEN360G: Wie können diese algorithmischen Filter umgangen werden?
Jan Claas van Treeck: Jetzt kann ich ja ganz einfach nach Hashtags filtern. Das heißt, irgendein Social-Media-Betreiber könnte sagen: Moment, unter diesem Inhalt wird unglaublich viel Gewalt gepostet. Ich sperre jetzt den kompletten Hashtag. Alles, was hochgeladen wird mit diesem Hashtag, kommt raus. Das hält doch aber genau 15 Sekunden. Das heißt, wenn ich das jetzt wieder als Hamas-Propagandist bemerke, dann verändere ich den Hashtag leicht, poste das wieder über meine Multiplikatoren-Accounts und dann ist das Zeug wieder da.
Dann gibt es so Versuche, da in irgendeiner Form Dinge durch Bilderkennung herauszufiltern. In dem Moment, wo genug Hautton als Farbe im Bild ist, wird es als pornografieverdächtig gesperrt. Das heißt also….
MEDIEN360G: Die erfassen also: die prozentuale Verteilung von Körper und wie viel Prozent Haut zu sehen sind, okay, die Person muss nackt sein. Kann ich mir das so vorstellen?
Jan Claas van Treeck: Genau. Das ist natürlich schon Jahre her und jetzt haben wir natürlich auch KI und solche Dinge, jetzt könnte ich sagen, die Tools sind feiner geworden. Natürlich sind die Tools feiner und besser geworden. Aber das Problem, das existiert immer noch. Das heißt, selbst diese Filter kann ich relativ einfach umgehen. Selbst diese Filter sind immer noch ziemlich ungenau, finden im besten Falle 50 Prozent der Sachen.
MEDIEN360G: Sind manche Soziale Netzwerke dahingehend auch gefährdeter als andere?
Jan Claas van Treeck: Ja, wahrscheinlich die, die Bild- und Videocontent benutzen. Das liegt ganz einfach daran, weil Text sehr viel einfacher zu filtern ist. Bilder sind oft zweideutig und funktionieren vielleicht nur durch ihre Kombination miteinander. Das heißt also, auch da kann ich keine Lösung anbieten.
Dann gibt es da noch eine Lösung, die möglich ist - aber auch die funktioniert nicht - und das sind Zensurfarmen. Das ist ein Thema, über das sehr ungerne gesprochen wird in der Social-Media-Welt. Dieses Thema kam so auf, als Facebook so langsam Probleme bekam mit fürchterlichem Content. Islamischer Staat und so, Abu-Sayyaf-Propaganda-Videos, auf denen Leuten wirklich die Köpfe abgeschnitten wurden. Fürchterliches Zeug, wirklich fürchterliches Zeug, das wir alle nicht sehen wollen. Die Lösung bestand darin, dass man Zensurfarmen einrichtete. Das heißt also wirklich das Gegenteil von diesen Trollfarmen: Orte, wo Menschen zusammensitzen und sich alles, was reinkommt, anschauen. Denn Menschen sind da immer noch sehr viel besser als KI.
Das Schlimme an diesen Zensurfarmen ist, dass sie natürlich auch nicht alles konnten, weil die begrenzt sind. Die Menge an Manpower, Womenpower, die ist begrenzt. Ich kriege ganz einfach nicht genug Leute. Das ist das eine Problem. Und das nächste Problem ist dann wieder ein Menschliches. Das kennen wir ja von Polizistinnen und Polizisten, die zum Beispiel mit Kinderpornografie arbeiten. Das sind dann die Heroen des Alltags, die in ihrem Job sich stundenlang dieses Zeug anschauen müssen. Und ganz viele davon sind davon traumatisiert.
Das heißt also: Kann ich, darf ich das überhaupt Menschen zumuten als Job? Und jetzt kommt das Schlimme. Diese Zensurfarmen, die befinden sich natürlich oft in Niedriglohnländern, zum Beispiel in den Philippinen. Da gab es mehrere Fälle.
MEDIEN360G: Also das heißt, welche Arbeitsbedingungen herrschen dort.
Jan Claas van Treeck: Genau, in dem Fall ist das dann wirklich – wäre das ein Fall für den psychologischen Arbeitsschutz, was auch immer, explodierende Körper auf der einen Seite…
MEDIEN360G: Das ist nicht zumutbar auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Masse eben auch nicht kontrollierbar. Nun ist ja auch der Algorithmus bei TikTok ein bisschen spezieller als bei anderen. Der reguliert sich selbst. Gibt es da eine Möglichkeit für mich als Person, als TikTok-Nutzerin, den Algorithmus dahingehend zu beeinflussen, dass ich keine Gewaltvideos aus dem Nahostkonflikt bekomme?
Jan Claas van Treeck: Ganz, ganz, ganz schwierig. Ich habe bei TikTok ja die Möglichkeiten "Für mich" und "abonniert". Also ich habe die Möglichkeit, entweder nur auf den Kanälen zu bleiben, die ich wirklich selbst abonniert habe, womit ich den eigenen Feed kuratiere. Da müsste ich dann also mit sehr, sehr, sehr viel Arbeit alles rausschmeißen, was da in irgendeiner Form problematisch wäre. In dem Moment, wo ich dann aber auf den anderen Tab wechsle, "Für mich ausgewählt", wo ich dann also den ganzen anderen Kram kriege, dann bin ich wirklich im Mahlstrom des TikTok-Algorithmus und da hätte ich dann wirklich keine Chance.
MEDIEN360G: Müssen solche Inhalte denn gekennzeichnet sein, wenn ein bestimmtes Level von Gewalt vorherrschend ist? Die haben ja so Filter mit: "Achtung, sensibler Inhalt".
Jan Claas van Treeck: Ja, genau, kann ich natürlich machen. Aber: Wenn ich durch iiesen Filter durch will, dann tagge ich das doch gar nicht als sensibler Inhalt.
MEDIEN360G: Wer taggt das denn als sensibler Inhalt? Macht das die Plattform oder machen das die, die das Video veröffentlichen, selbst?
Jan Claas van Treeck: In der Mehrzahl. Das ist so ein bisschen was, was oft auch aus journalistischer Selbstverpflichtung kommt. Das sieht man in deutschen Medien nicht so häufig, aber wenn man sich CNN anguckt, die sagen das. Die sagen "Viewer Discretion", "Achtung, das, was jetzt kommt, könnte gefährlich sein." Dann habe ich also als Nutzer die Möglichkeit zu sagen: Okay, jetzt mache ich meinen Fernseher für eine Minute aus. Auch das machen diverse seriöse Anbieter, die das auch auf Social Media machen. Das ist ein Service.
Das heißt also, wenn ich wirklich zu Ihnen durch will, dann habe ich Möglichkeiten.
MEDIEN360G: Was würden Sie einem 13-jährigen Kind raten, wie es am besten seinen Feed kontrollieren könnte?
Jan Claas van Treeck: Ich glaube, den Rat gibt es nicht. Aber das, was es geben könnte, ist ein gemeinsames Lernen. Die Kids da draußen, die lernen ja dieses Spielchen in dem Moment, wo ich es auch lerne. Dass wir zeigen, wie wir das selber machen und auch gleichzeitig sagen: Ich bin ja selbst überfordert und wie gehe ich mit meiner Überforderung um? Das heißt, wenn ich zum Beispiel dieses Medien-, dieses Feedkuratieren machen will, das ist ja schon für mich unglaublich viel Arbeit. Das ist dann für Kinder auch noch mal unglaublich viel Arbeit. Aber dann muss man das gemeinsam mit denen machen.
MEDIEN360G: Also auch Verantwortung für Eltern, für uns eben, die einfach schon länger in den Sozialen Netzwerken auch umgehen und vielleicht auch anders damit noch aufgewachsen sind.
Jan Claas van Treeck: Genau. Und gleichzeitig auch: Wissen, dass man das eventuell gar nicht kann.
MEDIEN360G: Auch das muss einem immer bewusst sein, ja?
Jan Claas van Treeck: Ja, meine eigene Kontrolle dabei ist begrenzt, das muss ich wissen.
MEDIEN360G: Ich danke Ihnen vielmals für das wieder mal tolle Gespräch mit uns.
Jan Claas van Treeck: Bitte, bitte!