Glaubwürdigkeit kontra Aktualität Journalismus in Echtzeit

01. Januar 2020, 12:00 Uhr

Im journalistischen Alltag ist immer wieder der Spagat zwischen Genauigkeit und Schnelligkeit nötig. Dabei die richtige Balance zu behalten ist nicht immer einfach: Denn Genauigkeit braucht Zeit, während eine Echtzeit-Berichterstattung schnelle Klicks verspricht. Aber in Zeiten von Falschnachrichten ist gute Recherche umso wichtiger.

Es ist wie bei einem Boxkampf: In der einen Ecke steht der schnelle Feger. In der anderen kämpft der genaue Techniker. Der eine ist schnell wie der Blitz, nimmt es mit dem Treffen aber nicht so genau und verfehlt manchmal sein Ziel. Der andere achtet ganz gezielt darauf, den anvisierten Punkt zu treffen, geht dafür aber etwas langsamer und vorsichtiger vor.

Ähnlich ist es auch im journalistischen Alltag, vor allem, wenn es um Nachrichten geht. Genauigkeit und Richtigkeit sind zwei der wichtigsten Qualitätsansprüche des Journalismus. Gleichzeitig ist Schnelligkeit auf der Ebene des Wettbewerbs mit anderen Medienhäusern aber auch ein Erfolgsfaktor. Einen sinnvollen Spagat zwischen beiden widerstreitenden Kriterien zu finden, ist eine der Herausforderungen des Arbeitsalltags von Medienschaffenden.

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"Es ist wichtig, dass die Medien auch bei ihrem Publikum immer wieder transparent machen, wie sie journalistisch arbeiten und was die handwerklichen Grundsätze journalistischer Arbeit sind", betont Cornelia Berger.

MDR FERNSEHEN Fr 13.12.2019 15:14Uhr 06:33 min

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Denn Medien zeichnen mit ihrer Berichterstattung ein Bild der Realität. So haben Journalistinnen und Journalisten unter anderem die gesellschaftliche Verantwortung, möglichst umfassend und wahrheitsgemäß über Ereignisse zu informieren und Missstände aufzuzeigen. Eine sorgfältige und genaue Berichterstattung ist also nicht nur für das eigene Gewissen, sondern vor allem auch für die Meinungsbildung und letztlich die Demokratie eines Landes von Bedeutung. In einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung, der Wissenschaftsstiftung der IG Metall, werden einige Bedingungen für eine korrekte Berichterstattung erläutert:

„Das Kriterium der Richtigkeit verlangt, dass sowohl die Recherchen als auch die Publizierung der Recherche-Ergebnisse mit Sorgfalt geschehen und dass auf Genauigkeit Wert gelegt wird. Hinweise nicht sofort zu übernehmen, sondern nachzurecherchieren und auf ihre sachliche Richtigkeit zu überprüfen, gehört zu den Erwartungen an das journalistische Handwerk; ebenso Ungewissheiten zu benennen, statt Spekulationen zu Wahrscheinlichkeiten oder gar zu Tatsachenbehauptungen aufzuwerten.“

In der Theorie sollte die Genauigkeit natürlich immer vor der Schnelligkeit stehen. So heißt es etwa im Medienkodex der Journalistenvereinigung netzwerk necherche:

„Journalisten recherchieren, gewichten und veröffentlichen nach dem Grundsatz ‚Sicherheit vor Schnelligkeit‘.“

Die Beschleunigung von Nachrichten

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"Es ist einfacher geworden, das zu lesen und zu finden, das meine Meinung stützt. Man liest lieber das, was einem gefällt, als das, was zu kritischem Hinterfragen der eigenen Meinung zwingt", so Prof. Markus Ziener.

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Diese Anforderungen treffen im Alltag allerdings immer wieder auf Strukturen und Bedingungen, die anderen Prinzipien folgen. So hat etwa die technische Entwicklung selbst zu einer rasanten Beschleunigung des Nachrichtengeschäfts geführt: Als Friedrich Schiller 1793 etwa von der Verurteilung des französischen Königs Ludwig XVI. im fast 900 Kilometer entfernten Paris erfuhr, wollte er sich auf den Weg machen und dessen Tod verhindern. Allerdings war es da schon zu spät und der König bereits auf der Guillotine gestorben.

Heute sind es im Extremfall nur noch einige Sekunden, bis ein Ereignis z.B. bei Twitter oder per Live-Ticker die Runde macht. Öffentlichkeit kann mittlerweile fast in Echtzeit hergestellt werden. Das zum obersten Ziel der Berichterstattung zu erklären, ist allerdings nicht immer sinnvoll.

Was passieren kann, wenn die Schnelligkeit über die Genauigkeit siegt, ließ sich beispielsweise am 17. Januar 2017 beobachten. Bei der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts zum NPD-Verbotsverfahren wurden zunächst diverse Falschmeldungen von Journalistinnen und Journalisten ins Netz katapultiert, weil viele Medien die vermeintliche Neuigkeit schon vor dem Ende der Entscheidungsverkündung tickerten oder twitterten (auch uns ist das bei MDR aktuell passiert) – eine Fehlentscheidung.

Denn das Gericht hatte zu Beginn der Verkündung lediglich den Antrag des Bundesrates wiederholt, in dem es hieß: "Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands einschließlich ihrer Teilorganisationen (…) ist verfassungswidrig". Erst etwa vier Minuten später kam es zum tatsächlichen Urteil, in dem der Antrag auf ein Parteienverbot abgelehnt wurde. Aber da durchschwirrten die Falschmeldungen schon das Netz. Viele Reporterinnen und Reporter vor Ort oder am Bildschirm ließen sich dabei scheinbar von ihrem Jagdinstinkt und Konkurrenzdruck verführen, schnell statt bedacht zu handeln.

In solchen Fällen senden Redaktionen in der Regel Berichtigungen per Push-Nachricht oder berichtigen ihre Texte auf den Onlineportalen. Um die eigenen Fehler transparent zu machen und die Leserinnen und Leser nicht zu verwirren, ist es mittlerweile bei vielen Medien Usus, unter den Text einen Hinweis (wie z.B. hier bei Zeit Online) und eventuell eine kurze Erklärung zur Entstehung des Fehlers.

Die Ökonomisierung in der Medienbranche

Ein Faktor, der beim Spagat zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit im journalistischen Alltag erschwerend hinzukommt ist die Ökonomisierung in der Medienbranche. Denn dadurch, dass Gewinnerwartungen in unserem Wirtschaftssystem oft an Steigerung gekoppelt sind, die Verkaufszahlen vieler Zeitungen tendenziell sinken und für den digitalen Bereich in Deutschland meist noch keine zuverlässig hohen Einkünfte generiert werden, sind Schnelligkeit, Klicks und Masse weiterhin eine Währung, die zumindest Werbeerlöse einbringen. Immer weniger Medienschaffende sind zudem durch Rationalisierungen für einen tendenziell eher steigenden Output zuständig:

„Die Stellenpläne reichen nach Jahren des Stellenabbaus, der Redaktionszusammenlegungen, des Outsourcings und der inzwischen unzumutbaren Arbeitsverdichtung bei weitem nicht mehr – zumindest nicht für den in Sonntagsreden geforderten Qualitätsjournalismus. Und die seit Jahren eher schrumpfenden als wachsenden Honoraretats verschärfen das Problem“,

schreibt die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) Cornelia Berger bei dem Medienkritik-Forum Vocer. Unter zu viel Druck und mit zu wenig Geld stoße der Journalismus schnell an seine Grenzen, sei empfänglicher für vorgefertigte PR-Mitteilungen, schreibe politische Ereignisse schneller herunter – „für’s Hinterfragen, Einordnen und Kommentieren fehlt die Zeit“.

Schutzmechanismen in den Redaktionen

In den meisten Redaktionen gibt es verschiedene Mechanismen, die Fehler trotz Aktualitätsdruck vermeiden oder zumindest verringern sollen. Dazu gehört beispielsweise das Vier- oder gar Sechs-Augen-Prinzip. Jeder Text wird also vor der Veröffentlichung mindestens von einer weiteren Person kritisch gelesen. Im Rundfunk gibt es zudem sogenannte Abnahmen, bei denen eine Schlussredakteurin oder ein Schlussredakteur den Beitrag noch einmal technisch und inhaltlich prüft. Auch das Zwei-Quellen-Prinzip soll vor der übereilten Verbreitung eventuell falscher Nachrichten schützen. Demnach sind Informationen erst von Redaktionen zu verbreiten, wenn sie von mindestens zwei unabhängigen Quellen bestätigt wurden. Es sei denn, sie sitzen direkt an der Ursprungsquelle, wie etwa bei dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtshofs.

Allerdings zeigt der Alltag immer wieder: Diese Schutzmechanismen greifen nicht immer. Deshalb muss sich letztendlich doch jede und jeder Einzelne im Alltag dem Balanceakt zwischen Schnelligkeit und Genauigkeit immer wieder auf’s Neue stellen.

Schnelligkeit allein bietet auf Dauer keinen nachhaltigen Mehrwert. Denn wenig später veröffentlichen die Konkurrenten die Nachricht wahrscheinlich auch. Erst die umfassende Recherche, die tiefergehende Analyse, das besonnene Fact-Checking oder die authentische Reportage geben Medien ein Alleinstellungsmerkmal in der Informationsflut. Das wird auch angesichts vieler Falschnachrichten in sozialen Medien immer wichtiger.

Auch wenn ökonomische Reize und manchmal sogar Zwänge wirken: Wenn Medienschaffende das Kriterium der Schnelligkeit über das der Genauigkeit stellen, verspielen sie ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Relevanz.