Interview mit Giovanni di Lorenzo "Aus den Anstalten muss der unbedingte Wille zur Reform erkennbar sein"
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31. Mai 2023, 15:35 Uhr
Im Interview mit MEDIEN360G spricht Giovanni di Lorenzo, Publizist, Chefredakteur der "Zeit" und Fernsehmoderator darüber, welche Herausforderungen aber auch Chancen er für die geplante Reform der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten sieht. Dabei beschreibt er, warum ihm die Reform so am Herzen liegt und worauf es jetzt ankommt, damit diese erfolgreich umgesetzt werden kann.
MEDIEN360G: Herr di Lorenzo, Sie haben im Herbst vergangenen Jahres bei der Verleihung des Hans-Joachim-Friedrichs-Preis etwas ganz spannendes gesagt, nämlich zum Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Das Thema bewegt mich, da werde ich sehr emotional. Meine Frage ist natürlich: Welche Emotionen löst denn das konkret aus?
Giovanni di Lorenzo: Angst um die Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen. Ich hänge am Öffentlich-Rechtlichen. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der es das Öffentlich-Rechtliche nicht mehr gibt oder nur marginalisiert gibt wie in den Vereinigten Staaten, wo dann die Mediennutzung oder das Medienangebot in den Händen von privaten Investoren ist. Und ich sehe aber, dass das Öffentlich-Rechtliche von allen Seiten angegriffen wird, die Verteidigung aber nicht steht. Das sind nur ganz wenige, die sich dann rühren, sodass das Öffentlich-Rechtliche kaum aus der Defensive herauskommt. Und nun bin ich nicht verantwortlich für das Öffentlich-Rechtliche. Die brauchen auch nicht meine Ratschläge. Aber das erfüllt mich schon mit Sorge, zumal Kritikpunkte ja auch berechtigt sind. Nur, immer dort, wo der Beschuss besonders aggressiv ist – das kann man auch in anderen Ländern beobachten –, da ist das eigentliche Ziel nicht die notwendige Erneuerung des Öffentlich-Rechtlichen, sondern eigentlich die Abschaffung.
MEDIEN360G: Weil Sie das gerade so lapidar dahinsagen, dass niemand Ihre Ratschläge bräuchte. Sie machen ja sehr viel richtig mit der "Zeit", denn im Gegensatz zu vielen anderen Medien haben Sie an Abonnenten gewonnen, Sie haben an Reichweite gewonnen, Sie machen ja sehr viel richtig. Deswegen hören sich die Leute wahrscheinlich auch sehr gerne an, was sie dazu zu sagen haben. Und letzten Endes haben Sie sich ja auch auf den Punkt gebracht, indem sie gesagt haben: Es gibt durchaus Missstände und ernste Probleme, eine Demontage verdient der öffentlich-rechtliche Rundfunk trotzdem nicht. Ich würde gern von Ihnen wissen wollen, welche konkreten Probleme und Missstände Sie aus dieser Beobachterperspektive wahrgenommen haben.
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, es gibt Dinge beim Öffentlich-Rechtlichen, die sind nicht vermittelbar. Also ich bin nicht der Meinung, dass das Öffentlich-Rechtliche zum Beispiel Unterhaltung oder Sport gar nicht mehr machen soll. Eine völlig andere Frage ist, wie viel sie bezahlen sollen für die Übertragung von Sportereignissen. Das ist eine völlig andere Frage. Aber ich bin nicht für die Selbstverzwergung des Öffentlich-Rechtlichen. Denn der Verzicht auf bestimmte Formate heißt weniger Reichweite. Das machen sich viele Menschen, die das Öffentlich-Rechtliche kritisieren und es ist nicht von innen kennen, nicht bewusst. Das heißt immer, dass auch die Formate, die uns am Herzen liegen, die Informationsformate, Dokumentarfilme, Nachrichtenformate in der Quote leiden würden, weil sie nicht mehr profitieren von den hohen Einschaltquoten von Sendungen, die zum Beispiel vorher laufen. Ich bin auch nicht der Meinung, dass Moderatoren – ausgenommen bei Radio-Bremen natürlich – und andere Führungskräfte demonstrativ wenig verdienen sollten, weil auch da täte es glaube ich dem Öffentlich-Rechtlichen nicht gut, wenn nur noch Menschen aus dem Apparat den Apparat führen. Manchmal ist einer von außen auch einen Gewinn, und der hat durchaus andere Möglichkeiten.
Aber Dinge, die nicht mehr vermittelbar sind, sind zum Beispiel die Pensionsrückstellungen. Da ist es eine ganz andere Frage, wie man da juristisch wieder rauskommt. Aber die Ruhegelder sind nicht zu vermitteln. Ruhegelder und Pensionen sind ein Problem, das kein normaler Mensch mehr gutheißen kann. Die Doppelstrukturen, die vielbeklagten. Wenn ein Tom Buhrow sagt: Das System ist im Grunde genommen nicht reformierbar. Das ist eine furchtbare Aussage, vielleicht stimmt sie sogar, aber das wäre, den Untergang zu besiegeln, weil es muss sich reformieren. Und da ist dieses Gleichgewicht des Schreckens oder Gesamthorror, dass die einen sagen: Wir würden ja gern, aber die Politik hindert uns daran. Und die Politik sagt: Jetzt verändert euch mal schön, aber nur in den Grenzen, die wir euch aufzeigen. Und sobald du ans Programm gehst, an welcher Stelle auch immer, dann steht die Programmlobby auf dem Plan. Und das ist in der Tat eine schwierige Ausgangslage für Reformen.
Es kommt ein letzter Punkt dazu, der mir auch sehr wichtig ist: Alle müssen für das Öffentlich-Rechtliche bezahlen, ganz egal, ob sie es nutzen oder nicht. Aber es gibt einen großen Teil der Bevölkerung, der mit seinen Meinungen nicht mehr abgebildet wird. Es fehlt heute im gesamten öffentlich-rechtlichen Fernsehen, im Hörfunk ist es ein bisschen anders, aber nicht wesentlich anders, eine profilierte, konservative Stimme. Wenigstens eine, die es früher immer gegeben hat und zwar in hoher Dosierung. Und das führt natürlich dazu, dass sich viele Nutzer nicht mehr angesprochen oder abgeholt fühlen.
MEDIEN360G: Es gibt also natürlich auf der einen Seite die Anstalten, die sagen: Liebe Politik, gebt uns Leitplanken vor. Und auf der einen Seite gibt es die Politik, die sagt: Liebe Anstalten, ihr könnt das von innen heraus gestalten. Wen sehen Sie denn am Zug? Wer muss die Leitplanken setzen?
Giovanni di Lorenzo: Die Politik muss die Grenzen neu definieren. Es kann nicht sein, dass wenn ein Intendant den Vorstoß macht und sagt, dass jetzt doch eine vierte Hörfunkwelle eingestellt wird, dass dann die Politik sagt: Nein, die haben wir eigentlich eigens geschaffen, um das Sendegebiet am besten oder die Zielgruppe am besten zu versorgen. Da ist die Politik am Zuge, aber aus den Anstalten muss auch der unbedingte Wille zur Reform erkennbar sein. Und da stelle ich eine rein rhetorische Frage, wenn ich sage: Ist dieser unbedingte Reformwille auch wirklich da?
MEDIEN360G: Spannend, weil natürlich genau das ja der Punkt ist. Einerseits die Reformbemühungen von innen heraus – ich glaube, da ist Kai Gniffke vergleichsweise weit nach vorne gegangen. Ich habe in meiner Zeit beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk selten Intendanten oder ARD-Chefs gesehen, die konkret auch schon mal Sachen vorgelegt haben. Herrn Buhrow könnte man gemeinhin ja auch mit auf den Weg geben: Er war zehn Jahre lang in der Position ähnliche Reformen anzuschieben. Worauf ich aber eigentlich hinaus will ist: Wir haben Kai Gniffke auf der einen Seite, der das anschiebt. Auf der anderen Seite haben wir die Rundfunkkommission der Länder, die diese Zukunftskommission, einen Zukunftsrat eingesetzt hat, der demnächst die Arbeit aufnehmen soll. Sie haben in Ihren Jahren natürlich viel erlebt. Sie schöpfen da aus einem großen Fundus an Erfahrungen. Was trauen Sie denn so einem Gremium wie diesem Zukunftsrat an Schlagkraft zu?
Giovanni di Lorenzo: Das hängt ganz stark davon ab, ob man auf diesen Zukunftsrat, in dem fähige Menschen sitzen, auch hören möchte und bereit ist, was umzusetzen. Ein Gremium, was schöne Vorschläge macht, für die man sich artig bedankt und die dann versickern, nützt natürlich niemandem. Das wissen auch die Mitglieder dieses Zukunftsrates. Aber ich glaube, man darf sich nicht nur verlassen auf externe Beobachter und Berater. Ich glaube, was nicht geborgen wird, ist der Schatz, der in den Anstalten selber ruht. Ich glaube, dass ganz viele Menschen in den Anstalten sehr wohl wissen, wo es drückt und was man anders machen könnte vor allen Dingen. Nicht müsste, sondern könnte. Und da glaube ich, sind die Strukturen einfach nicht da, um diesen Wandel auch innerhalb dieser Anstalten voranzutreiben. Ich kann nur berichten, dass wir zum Beispiel bei der "Zeit", das ist auch ein Medienunternehmen, angefangen haben vor zehn Jahren mit einem sogenannten Innovation-Report nach dem Muster der "New York Times", wo wir Missstände benannt haben, eine schonungslose Analyse gemacht haben über unsere Strukturen und auch Vorschläge erarbeitet haben. Das haben eine Kollegin und ein Kollege getan. Und wir haben versucht, auch die Vorschläge umzusetzen. Und seitdem gibt es sogenannte Wandel-Teams. Die haben nur die Aufgabe, Führungskräfte darauf hinzuweisen, wo es eben nicht gut läuft und wo wir blinde Flecken haben. Und eigentlich hindert niemand bei den Anstalten des Öffentlich-Rechtlichen daran, Ähnliches zu versuchen. Das heißt nämlich auch Partizipation der Belegschaft. Und ich glaube, was ich so beobachte, ist, dass viele sagen: Ich würde gerne, aber ich habe überhaupt keinen Hebel. Manchmal sind Eindrücke ja auch falsch. Aber dieser ist so falsch nicht.
MEDIEN360G: Höre ich da so eine gewisse Skepsis dem Zukunftsrat gegenüber heraus?
Giovanni di Lorenzo: Nein. Nein, ich habe gerade mit einem diskutiert in der Evangelischen Akademie in Tutzing, mit Roger de Weck, der selber die einzige öffentlich-rechtliche Anstalt in der Schweiz geleitet hat. Und Julia Jäkel sitzt in unserer Verlagsgruppe im Aufsichtsrat und versteht was von ihrem Geschäft und das gilt für eine andere, die bei "Zeit-Online" war und derzeit beim Magazin ist, Maria Exner. Das sind alles hochqualifizierte Menschen. Aber wie gesagt, es muss auch deutlich vernehmbar sein: Die Stimme und die Kompetenz aus den Anstalten selbst und nach Möglichkeit nicht in Form von Intendanten. Nichts gegen Intendanten und Intendantinnen. Aber auch die haben blinde Flecken, so wie es Chefredakteure bei Zeitungen und Geschäftsführer auch haben.
MEDIEN360G: Würden Sie sich als Chefredakteur der "Zeit" mehr Transparenz wünschen, um zu wissen, was wie und warum entschieden wird?
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, dass mehr Transparenz in jedem Unternehmen hilft und erst recht in dieser Situation bei den Öffentlich-Rechtlichen. Das Benennen von Fehlern und der Versuch, sie gemeinsam zu beheben, führt nicht zu einer Schwächung des Öffentlich-Rechtlichen, sondern zu einer Stärkung. Weil man dann die besten Möglichkeiten hat, auch etwas zu verändern. Und die Angst auf die eigene Belegschaft zu hören und die Angst, sich mit Fehlern im System auseinanderzusetzen – überhaupt das Wegducken, wenn man angegriffen wird –, führt nicht zu neuem Selbstbewusstsein, zu neuen Taten, zu neuer Stärke, sondern setzt die Schwächung leider linear fort.
MEDIEN360G: Sie haben ja auch reagiert, indem Sie mal das Ressort "Streit" eingeführt haben beispielsweise. Das ist eine tolle Geschichte, weil natürlich im Prinzip teilweise ganze Punkte auf ganzen Seiten aufgearbeitet werden. Man hat verschiedene Positionen, die sich gegenüberstehen. Das ist ein vergleichsweise neues Format gewesen. Wenn man jetzt über Transparenz im journalistischen Alltag spricht, wäre meine Frage, ob man sozusagen auch in Form von journalistischen Formaten im Öffentlich-Rechtlichen so eine Transparenz herstellen sollte oder ob Ihnen das vielleicht auch zu weit geht, weil Sie sagen: Also das ist dann so eine Nabelschau, wie man sie sich vielleicht als Medienhaus generell nicht geben sollte.
Giovanni di Lorenzo: Also die Streit-Formate hat das Öffentlich-Rechtliche ja. Eine andere Frage ist, wie Talkshows und andere Streit-Formate besetzt werden. Also ein aktuelles Beispiel: Fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein Thema was uns noch lange beschäftigen und auch polarisieren wird. Wenn ich die gutgemeinten Diskussionssendungen dazu sehe, frage ich mich natürlich schon: Durch welche Personen werden die Zweifler repräsentiert? Man sieht dort fast immer ein Vertreter der "Linken", also der Partei "Die Linke" und man sieht jemanden aus dem Friedensforschungsinstitut. Aber das sind ja sozusagen die Profis. Und ich frage mich, warum es so schwer ist, jemand zu finden, der ganz normale Zweifel hat.
MEDIEN360G: Ist das auch der Punkt, den Sie vorhin meinten, als sie gesagt haben, dass Ihnen die profilierte konservative Stimme fehlt? Weil letzten Endes paart sich das mit dem, was Sie auch als Gedanke entwickelt haben, nämlich zu sagen, dass die Menschen ihre Lebensumfelder in der öffentlich-rechtlichen Welt gar nicht so richtig wiederfinden. Dann fehlen die profilierten konservativen Stimmen. Ist das ein Erklärungsansatz?
Giovanni di Lorenzo: Nicht zwingend ist es ein Erklärungsansatz, denn man muss nicht konservativ sein, um Zweifel an den Waffenlieferungen zu haben. Das könnte auch von ganz links kommen oder eben auch aus der Mitte. Also ich kenne auch in meinem Umfeld viele, die dagegen sind und mit denen streite ich wahnsinnig. Aber die zurecht die Frage stellen: Wo wird mein Standpunkt eigentlich widergespiegelt im Öffentlich-Rechtlichen? Da komme ich in Verlegenheit, obwohl ich nicht verantwortlich dafür bin. Aber trotzdem kann ich es auch nicht so richtig benennen. Außer: da war doch ein Politiker der "Linken" oder es war eine Dame vom Friedensforschungsinstitut dabei. Aber das ist zu wenig. Die haben auch ihre Berechtigung, aber nur das ist als Dissenz zu wenig. Das muss man einfach ganz deutlich sagen. So daneben gibt es die Frage: Wird das Lebensumfeld der meisten Menschen, die das Öffentlich-Rechtliche schauen, auch ausreichend abgebildet? Und da kann ich nur das sagen, was jeder beim Öffentlich-Rechtlichen weiß: Die Einschaltquoten für die Regionalfenster, die sind oft so hoch, das schafft nicht mal der Tatort aus Münster. Das zeigt schon, was die Menschen interessiert. Sie interessiert, was vor der eigenen Haustür stattfindet. Ich will keine Selbstverzwergung. Aber die Anstrengung im Regionalen kann man nur begrüßen und fördern. Und dann gibt es einen dritten Punkt. Das sind die politischen Einordnungen des Öffentlich-Rechtlichen. Und da beklage ich in der Tat, dass profilierte konservative Stimmen überhaupt nicht mehr vertreten sind. Und das führt natürlich mit der Zeit zu einer Entfremdung von einem Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer.
MEDIEN360G: Es ist ja auch berufsoziologisch ganz gut belegt, dass dieses Berufsfeld Journalismus sehr linkslastig ist. Es gibt zwar nicht sehr viele Studien, aber die, die es gibt, lassen zumindest vermuten, dass es tendenziell mehr Menschen gibt, die sich dem Beruf zugezogen fühlen, die beispielsweise aus einem linken Elternhaus kommen. Wenn wir über Reformen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprechen: Welche Rolle muss aus Ihrer Sicht eine bewusstere Personalpolitik spielen, wenn es um Einstellungen geht, wenn es um die Frage geht: Wen hole ich mir denn ins Haus? Ist das eine Notwendigkeit, die auch beim Öffentlich-Rechtlichen mehr gegeben ist?
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, das ist ein Problem, dem sich alle Medienhäuser stellen müssen, dass kein Missverständnis aufkommt. Selbstverständlich kann eine Journalistin Grün wählen und ein Journalist in seiner Haltung eher "woke" sein. Das Problem ist nicht das. Das Problem ist, wenn zu viel des Gleichen da ist. Das würde für jede andere Konstellation ja auch gelten. Stellen Sie sich mal vor, wir würden jetzt nur Betriebswirte anziehen, die FDP wählen oder Studenten der Theologie, die Journalisten werden wollen, die alle nur Union wählen. Dann würde auch jeder sagen: Das ist zu eng. Also wenn die politische Ausrichtung von Journalistinnen und Journalisten zu sehr auf eine bestimmte Lebenshaltung und bestimmte Themen fokussiert ist und dann auf gewisse Wahlpräferenzen, dann führt das zwangsläufig, auch wenn man es gar nicht will, zu einer gewissen Verengung des Gesichtsfeldes, was die Themen anbelangt und natürlich auch zu einer gewissen Bewertung. Es gibt dann auch merkwürdige Korrelationen. Also bei keiner gesellschaftlichen Gruppe hat das Öffentlich-Rechtliche so hohe Glaubwürdigkeitswerte wie bei den Wählern der Grünen. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat ergeben, dass über 90 Prozent der Grünen-Sympathisanten Informationen des Öffentlich-Rechtlichen absolut glaubwürdig finden. Das nimmt dann ab, bei konservativeren Parteien – ganz zu schweigen natürlich bei den Wählern der AFD. Insofern ist die Personalpolitik der Schlüssel zu allem. Aber das betrifft alle Medienhäuser. Das fängt eben beim Volontär an und setzt sich dann beim Jungredakteur oder der Jungredakteurin fort und bis hin zum Führungspersonal. Da müssen wir, glaube ich, sehr viel genauer gucken: Wen holen wir uns in die Häuser? Und vielleicht auch ganz bewusst sagen: Wir holen uns jetzt jemanden rein, der nicht meine Meinung vertritt, aber trotzdem intelligent ist und trotzdem gut argumentieren kann. Nur so kriegen wir auch eine gewisse Spannung in Redaktionen selbst rein. Wir sind hier bei der "Zeit" zutiefst davon überzeugt, dass eine überzeugende und wirklich feste Meinung und Haltung nicht dadurch entsteht, indem man den Leuten immer das Gleiche vorkaut, sondern indem man sich permanent auseinandersetzen muss mit der Meinung anderer. Das erst schärft den eigenen Standpunkt.
MEDIEN360G: Sehr gut, genau das ist ja der Punkt.
Giovanni di Lorenzo: Und ich glaube, dass man das nicht nur auf die politische Haltung münzen darf. Sondern ich glaube, dass auch die Lebensläufe diverser werden müssen. Ich erinnere mich vor vielen, vielen Jahren an etwas, was glaube ich heute nicht mehr vorkommt, auch hier bei der "Zeit" nicht mehr vorkommt: Da habe ich mal eine Krankenschwester eingestellt als feste Autorin, die hatte mir Texte geschickt. Die fand ich so überzeugend, dass daraus dann eine Arbeitsbeziehung geworden ist. Oder ich erinnere mich beim "Tagesspiegel" an einen Kollegen, da rief der Pförtner an und sagte: Da ist jemand, der will unbedingt für uns schreiben. Ich kann ihn nicht abwimmeln, sie müssen schon selber runterkommen. Ja, das war auch in gewisser Weise ein Quereinsteiger. Also Menschen mit anderen Biografien, die aus anderen Berufen, vielleicht auch aus der Lokalzeitung kommen und den Sprung machen wollen. Auch darauf müssten wir achten. Diversität heißt nicht nur andere sexuelle Orientierung, mehr Frauen als zuvor, Menschen mit Migrationshintergrund oder anderer Hautfarbe, sondern heißt auch andere Lebensläufe und andere politische Haltungen.
MEDIEN360G: Spannend, weil ich glaube, dass das ein großes Thema ist. Auch weil es an vielen Stellen genau darum geht zu gucken: Wen stelle ich fest an? Das ist nämlich genau diese Sicherheit, die Konservative oft suchen, die vielleicht einer freien Anstellung beim öffentlich-rechtlichen Sender eher aus dem Weg gehen, weil sie eben nicht diese vermeintliche Sicherheit bietet, wie eine Festanstellung. Das ist ja auch eine Frage der Struktur.
Giovanni di Lorenzo: Ja, dies ist auch eine Frage der Struktur, da haben Sie völlig Recht. Wir stellen das schon an den Journalistenschulen fest. Wir sind ja selber Mitträger einer bekannten und – glaube ich – auch sehr guten Journalistenschule, der Henri-Nannen-Schule. Auch da ziehen wir einen bestimmten Typus an. Die kommen meistens aus den Geisteswissenschaften, haben ähnlichen sozialen Background. Da müssen wir uns natürlich auch fragen: Wie kommt es, dass wir nur diesen Typus anziehen? Warum nicht Betriebswirte? Warum nicht Juristen? Warum nicht Menschen, die aus naturwissenschaftlichen Fachstudien kommen, was wichtig ist für Wissensredaktionen, die wir alle haben. Also da wäre eine kritische Prüfung unserer eigenen Anziehungskraft, glaube ich, sehr nützlich.
MEDIEN360G: Wahrscheinlich. Ich würde jetzt gern noch zum Schluss auf ein paar Sachen inhaltlicher Natur zu sprechen kommen, weil Sie die ja auch schon angedeutet haben. Diese Zusammenarbeit der ARD-Anstalten ist auch ein großer Vorschlag natürlich von Kai Gniffke gewesen. Ich meine auch von Ihnen gelesen zu haben, dass Zusammenarbeit für Sie auch durchaus ein Schlüssel wäre. Löst das wirtschaftliche Probleme, löst das Qualitätsprobleme, löst das Akzeptanzprobleme? Was glauben Sie, was mehr Kooperation bringen würde?
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, dass man natürlich, wie in jeder Mediengruppe, versucht zu zentralisieren. Buchhaltung, also das, was man unter Buchhaltung im weitesten Sinne versteht, die Akquise von Werbung, von Technik ganz zu schweigen, der alte Streit: Muss bei Sportereignissen an einem Tag die ARD senden, am anderen das ZDF? Also, wenn der gesetzliche Rahmen dazu da ist und der politische Wille und der Veränderungswille in den Anstalten. Veränderungen heißt immer, es sind auch die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betroffen. Das ist ja das, was letztlich auch quer durchs ganze Haus Ängste auslöst. Dann kann man da unglaublich viel rausholen. Ich vermeide jetzt das Wort, weil das zu Recht ein bisschen toxisch ist, Synergien schaffen.
MEDIEN360G: Warum wollen sie es vermeiden?
Giovanni di Lorenzo: Nein, weil es so abgenutzt ist. Aber selbstverständlich kann man da unfassbar viel verschlanken.
MEDEIN360G: Das ist eigentlich genau das, was Kai Gniffke auch anspricht. Sie haben "3nach9" natürlich seit Jahren geprägt. Es gibt, glaube ich, an jedem Freitagabend von gefühlt jeder Landesrundfunkanstalt eine Talkshow. Warum braucht es das? Warum braucht es beispielsweise in jeder Landesrundfunkanstalt eine Talkshow? Warum braucht es meinethalben fünf Gesundheitsmagazine? Warum braucht es verschiedene Gartenmagazine? Glauben Sie, dass das eine Vielfalt ist, die die Leute zurecht verlangen und auch erwarten? Oder ist das auch was unter dem Motto: Ist das Kunst oder kann das weg?
Giovanni di Lorenzo: Sie werden wahrscheinlich von mir jetzt nicht erwarten, dass ich ein Plädoyer halte für die Abschaffung des Talkformates, das ich mit moderieren darf. Das ist ein komplexes Thema. Es gibt Formate, die sehr teuer sind und wo du dich fragst: Gesundheit ist nicht regional unterschiedlich. Talk-Formate können sehr wohl Rücksicht nehmen auf die Menschen im Sendegebiet. Also ich glaube, dass das Riverboat bei Ihnen im Sendegebiet beim MDR sehr wohl eine andere "Kundschaft" anspricht als die Talkformate beim NDR. Ich glaube auch: Das Fernsehen lebt ganz stark vom Appell an das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Und da sind alteingeführte Formate wie eben die NDR-Talkshow oder eben auch "3nach9" Dinge, mit denen inzwischen ganze Generationen aufgewachsen sind. Ob das große Sparpotenziale sind, gerade bei Talkformaten, die billig herzustellen sind, da erlaube ich mir – nicht nur aus Eigennutz –, ein großes Fragezeichen zu setzen.
MEDIEN360G: Zurecht. Was ist denn das Herzstück des öffentlich-rechtlichen Angebots aus Ihrer Sicht?
Giovanni di Lorenzo: Wenn ich noch mal sagen darf, dass ich gegen die Selbstverzwergung bin, dass ich also sehr wohl finde, dass Filme, Sport in gewissem Rahmen – nicht um den Preis, dass alles bezahlt wird, um dubiose Verbände zu alimentieren – und Unterhaltung und, dass all das bleiben kann, würde ich sagen: das Herzstück, das, was es unverwechselbar macht, das ist die große Informations- und Nachrichtenkompetenz. Deshalb ist es so wichtig, jeden Anschein von Färbung, weltanschaulicher oder politischer Art, zu vermeiden. Das ist das, was alles andere sonst auch in Mitleidenschaft ziehen würde, wenn dieser Bereich geschwächt werden würde.
MEDIEN360G: Für manche Kritiker gehören ja eben die Unterhaltungsangebote so ein bisschen zu dem, was diskutabel ist. Volksmusik, Spielshows. Sind das auch Sachen, über die Sie bereit wären zu diskutieren? Wo Sie sagen: Also aus meiner Sicht, ich bin Publizist, ich bin Chefredakteur, ich bin Mitherausgeber des Tagesspiegels. Ich habe also einen Blick über alles und auch ich brauche nicht die x-te Quizshow oder Spielshow. Sind das Sachen, wo Sie auch Grundlagen sehen?
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, dass man sich jedes Format einzeln anschauen soll. Ich bin vor allen Dingen strikt gegen jedes schlechte Format. Ich habe gesagt, für die Identität des Öffentlich-Rechtlichen ist die Information das Kernstück, der Markenkernen, das, was unter keinen Umständen aufgegeben werden darf oder auch nur geschwächt werden darf, und was sich ganz neuen Herausforderungen stellen wird und muss, wegen der künstlichen Intelligenz. Also auch das wird Sie und uns noch vor ganz neue Aufgaben stellen.
Aber es gibt etwas, das Fernsehen besser leisten kann als jedes andere Medium: das bewegte Bild. Nämlich die Wiedergabe von Emotionen, die Abbildung von Emotionen, die Inszenierung von Emotionen. Da funktionieren die ganz alten Sachen heute noch genauso wie früher und gute Unterhaltung ist oft Mobilisierung von positiven Emotionen. Und darauf würde ich unter keinen Umständen verzichten. Dann gibt es natürlich jetzt einen langen Streit, der sicherlich auch den Rahmen Ihrer Dokumentation sprengen würde. Was ist gute Unterhaltung? Ja, da gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Aber wir alle, alle Medienhäuser und auch das Öffentlich-Rechtliche, müssen besser werden, noch besser, als wir vielleicht schon sind. Weil wir müssen durch gute Formate der Offensive der Desinformation begegnen und auch Menschen überzeugen, die zum Teil überhaupt keine herkömmlichen Medien mehr nutzen, gerade unter den Jüngeren. Und wir müssen uns der Herausforderung stellen, dass viele Formate überflüssig werden, weil die KI sie billiger und besser hinkriegt in Zukunft.
MEDIEN360G: Ich habe jetzt aufmerksam zugehört. Und es ist natürlich auch in vielen Gesprächen, die wir jetzt führen, zuletzt so ein bisschen das Gefühl von der Quadratur des Kreises. Sie haben natürlich zu Recht darauf hingewiesen, dass man die Informationen einbetten muss, in ein gutes Unterhaltungsangebot, um überhaupt das Publikum zu haben, die relevante Reichweite, die notwendig ist. Auf der anderen Seite gibt es die Reformbemühungen, die sagen: Unterhaltung in einem dem Öffentlich-Rechtlichen angemessenen Rahmen. Was ist das? Also bin ich voll bei Ihnen. Wer qualifiziert das? Wer sagt, was was eigentlich ist? Es lässt mich also ein bisschen ratlos zurück.
Giovanni di Lorenzo: Ich glaube, dass man die Dinge immer nur diskutieren kann am Beispiel selbst und an den Budgets, die man dafür zur Verfügung hat. Klar, man kann sagen, es ist alles nicht veränderbar. Wo man ansetzt, steht man dann plötzlich wieder vor der Wand. Aber dann erübrigt sich auch die Berechtigung Ihrer Dokumentation. Man kann verändern. Das ist meine berufliche Erfahrung und auch meine Lebenserfahrung. Man kann verändern und durch Veränderungen wird man manchmal auch schlauer und nicht dümmer.
MEDIEN360G: Ich möchte mit einer Frage schließen, wo es eigentlich mehr darum geht, welche gesellschaftliche Relevanz Sie auch sehen. Angenommen, Sie sind auf der Straße unterwegs, morgens beim Bäcker und dann kommt die Nachbarin und sagt: Herr di Lorenzo, warum braucht es denn aus ihrer Sicht den öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Was sagen Sie dann?
Giovanni di Lorenzo: Ich rede sehr viel mit Menschen. Das ist ein Vorteil, wenn sie selber Fernsehen machen, dass die Leute einen wiedererkennen und auch sofort auf alles anfragen, auch auf das, was ihnen nicht gefallen hat, aber nie sagen: Wozu brauche ich das überhaupt noch? Sondern sich wenn, wahnsinnig aufregen über einen bestimmten Spin von Sendungen, über eine bestimmte Tonlage. Auch das ist ein Punkt, über den wir noch nicht geredet haben. Auch Dokumentationen müssen überzeugen durch die Tiefe und die Eindeutigkeit der Recherche und nicht durch die Schärfe des Off-Tones oder der Anmoderation. Ja, das regt die Leute vielmehr auf als die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen selbst. Sie regen sich natürlich auf, wenn sie erfahren von der Höhe der Pensionen und wie da die hohen Gelder geregelt worden sind. Und auch zurecht regen sie sich darüber auf. Aber es geht weniger um die Frage: Existenz, Ja oder Nein? Und dann würde ich, wenn diese Frage, die mir noch nie gestellt worden ist, gestellt werden würde, sagen: Das Öffentlich-Rechtliche müsste allen gehören und alles abbilden, was es gibt, und ist per se schon eine Garantie dafür, dass nicht eine bestimmte Partei oder ein bestimmter Wirtschaftsverband oder eine Kirche die Hoheit hat über die Qualität und den Inhalt von Sendungen.
MEDIEN360G: Lassen Sie mich noch einmal nachfragen: Dieser Zukunftsrat, ist das dann ein Gremium, wo Sie eher die Verantwortung sehen, über inhaltliche Sachen? Also auch im Detail zu gucken, welchen Zungenschlag haben welche Dokumentationen? Ich nenne es mal: Qualitätsmanagement am Journalismus. Oder würden Sie erwarten, dass es da ans Strukturelle geht?
Giovanni di Lorenzo: Ich bin ja kein Wahrsager. Also was der Zukunftsrat ausrichten kann, das kann ich Ihnen nicht sagen. Das hängt auch von der Bereitschaft zu Veränderungen ab, der Menschen, die sie beraten und der Institution, der Öffentlich-Rechtlichen. Jedenfalls das Potenzial ist bei den Leuten da. Das sind Menschen, die sich gut auskennen und bestimmt gute Ideen haben. Wie gesagt, mit dem einen Vorbehalt: Das alleine reicht nicht. Der Veränderungsimpuls muss auch aus den Häusern selbst kommen und da kann ich nur als Externer den Öffentlich-Rechtlichen zurufen, wenn man mir es erlaubt und das nicht anmaßend klingt: Hört auf eure eigenen Leute, die haben auch sehr viele gute Ideen. Und die kennen die Mängel des Systems besser als jeder andere.
MEDIEN360G: Vielen Dank.