Mangelnde Pressevielfalt in Ostdeutschland Die "Medienrevolution" blieb aus
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30. September 2020, 16:08 Uhr
Wer Ende 1990, Anfang 1991 an einem Zeitungskiosk im Sendegebiet des heutigen MDR vorbeikam, konnte aus einer Fülle von Titeln wählen. Neben den schon zu DDR-Zeiten bestehenden Blättern wurden 1990 in Ostdeutschland rund 120 neue Zeitungen und Zeitschriften gegründet. Dazu kamen im Frühjahr 1990 auch die Titel aus dem Westen.
Schon im Januar 1990 startete in Leipzig die DAZ. Die Abkürzung des von Anhängern der Bürgerbewegung und des Neuen Forums gegründeten Wochenblatts stand für Die Andere Zeitung. Denn hier wurden andere Themen und Sichtweisen vertreten als im Rest der DDR-Presse. Dort fanden zwar auch Reformen statt, die Blätter gehörten bis zur Privatisierung durch die Treuhandanstalt ab 1991 aber weiter den DDR-Parteien und staatlichen Massenorganisationen wie den Gewerkschaften oder dem Jugendverband FDJ. Die DAZ war dagegen keine offizielle Zeitung des Neuen Forums, sondern inhaltlich unabhängig. Wie bei vielen dieser neu gegründeten Blätter arbeiteten hier nicht nur ausgebildete Journalistinnen und Journalisten, sondern politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger mit. Die DAZ plädierte für eine Reform der DDR und lehnte eine schnelle Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland (BRD) ab. Ihr Werbeslogan lautete denn auch "Im Westen nichts Neues. Im Osten die DAZ“.
Die Gründungswelle während oder kurz nach der Friedlichen Revolution lag auch am Wegfall des Lizenzzwangs. Vor 1990 durften in der DDR nur Zeitungen und Zeitschriften mit staatlicher Genehmigung herausgeben werden. Erst so wurde die offiziell auch per DDR-Verfassung garantierte Pressefreiheit Wirklichkeit. Einige Neugründungen waren auch Ableger von Verlagen aus dem Westen. Dies war vor allem in Gebieten im deutsch-deutschen Grenzgebiet wie in Thüringen der Fall.
Kurze Blüte durch viele Neugründungen
Doch diese Pressevielfalt überlebte nicht lange. Innerhalb von nur zwei Jahren ging die Zahl der Zeitungen in Ostdeutschland drastisch zurück. Nach Angaben der Kommunikationswissenschaftlerin Mandy Tröger waren von den ursprünglich 120 neu gegründeten Blättern im Mai 1992 nur noch gut die Hälfte übrig. Bis November 1992 fiel die Zahl auf unter 50. Gleichzeitig wurden die bereits in der DDR bestehenden Titel durch die 1991 gegründete Treuhand-Anstalt nach und nach privatisiert. Mandy Tröger forscht seit Jahren, was dort genau passiert ist und welche Rolle Westverlage, staatliche Stellen in der alten Bundesrepublik, der Runde Tisch der DDR und das Medienministerium der letzten DDR-Regierung bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 dabei spielten.
Dominanz der ehemaligen SED-Zeitungen
"Viele dieser Neugründungen wurden von politischen Organisationen oder Bürgergruppen, oder ganz direkt von Bürgern und Journalisten gemacht“, so Tröger im Podcast von MDR MEDIEN360G. "Heute kenne noch zwei oder drei, die übrig geblieben sind“. Dazu gehören bei den Regionalzeitungen die Altmark-Zeitung (Salzwedel/Stendal), die Südthüringer Zeitung (Bad Salzungen) und das Neue Torgauer Kreisblatt, das heute in Kooperation mit der Leipziger Volkszeitung als Torgauer Zeitung erscheint.
Für die 1980 in Ost-Berlin geborene Forscherin waren diese Neugründungen "eine einmalige Chance, die letztlich nicht genutzt wurde. Weil viele dieser Zeitungen, wo viel Herzblut drin steckte, dann wieder Bankrott gegangen sind“. Das wesentliche Problem sieht Tröger im Umgang mit den Zeitungen der ehemaligen DDR-Staatspartei SED. Diese hatte 14 so genannte "Bezirksorgane“ in den jeweiligen Bezirken der DDR, dazu kam noch das Neue Deutschland als "Zentralorgan“ der SED. "Das SED-Informationsmonopol war ja nicht nur ein inhaltliches, sondern auch ein strukturelles Quasi-Monopol“, sagt Tröger: Auf die SED-Blätter seien rund 90 Prozent der Druckkapazitäten entfallen. "Von den 9,7 Millionen Zeitungen, die täglich erschienen, zählten 6,7 Millionen zur SED-Presse“, erklärt Tröger. Diese Blätter seien auch bei der Papierversorgung, dem Vertrieb der Zeitungen und in vielen anderen Bereichen bevorzugt worden. "Deshalb hatten die auch große Auflagenzahlen zwischen 200.000 bis 600.000 Exemplaren täglich, während die Titel der anderen Parteien und Organisationen deutlich niedrigere Auflagen hatten.“
Finanzstarke "Partner“ aus dem Westen
Bereits in den ersten Monaten des Jahres 1990 hatten fast alle diese Blätter Partner-Verlage aus dem Westen, die sich die starken Titel noch vor der offiziellen Privatisierung durch die Treuhand sichern wollten. Spätestens als dann im Sommer 1990 die Währungsunion kam, klingelten die Kassen. Die neu gegründeten Zeitungen, die zumeist ohne finanzkräftige Partner da standen und viel niedrigere Auflagen hatten, blieben so chancenlos. Für die Zeitungsvielfalt gerade im Lokalen war diese Entwicklung katastrophal. Konnten 1991 noch gut 62 Prozent der Ostdeutschen zwischen zwei Lokalzeitungen wählen, waren es 1994 nur noch 40 Prozent. Seit Ende der 1990er Jahre werden fast alle ostdeutschen Landkreise und kreisfreien Städte von einer einzigen regionalen Zeitung dominiert, so Tröger. Dabei handelt es sich "stets um die ehemalige SED-Bezirkszeitung, die nun im Besitz westdeutscher Verlage war“, so Tröger.
Verpasste Chance für die Pressevielfalt in Ostdeutschland
In ihrem Aufsatz "Die mark(t)getriebene Pressetransformation 1989/90“ wertet Tröger die Vorgänge als eine verpasste Chance, die Pressevielfalt in Ostdeutschland neu zu ordnen. "Die bundesdeutschen Großverlage gestalteten den sich neu entwickelnden Markt gemäß ihrer Interessen: Profitmaximierung durch Vertrieb und Werbung, nicht entsprechend den Interessen einer sich entwickelnden freien DDR-Presse“, schreibt Tröger. Das gilt auch für die DAZ aus Leipzig. Ihre letzte Ausgabe erschien im April 1991. Die eigentlich geforderte "Medienrevolution" die aus dem staatlich-parteilich gelenkten Mediensystem der DDR ein freies, eigenständiges und unabhängiges Mediensystem für Ostdeutschland schaffen sollte, blieb aus. Und die meisten schon früher tonangebenden SED-Titel behielten bis heute ihre marktbeherrschende Stellung - jetzt aber unter neuer, westdeutscher Leitung.
Weitere Infos zum Autoren Steffen Grimberg
Steffen Grimberg, Jahrgang 1968, stammt aus dem Ruhrgebiet und volontierte 1991 bei der aus dem Erfurter SED-Bezirksorgan Das Volk hervorgegangenen Thüringer Allgemeine. Schon zu DDR-Zeiten war für ihn Leipzig die spannendste Stadt in Ostdeutschland, weshalb er nach Stationen in Köln, Berlin und Hamburg 2016 beim MDR anheuerte.