Interview mit Christoph Kehl Videospiele nicht nur zum Zocken
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20. Oktober 2023, 00:01 Uhr
Für viele sind Videospiele pure Unterhaltung, andere sehen auch abseits davon Potenzial in digitalen Spielen. In Jena setzt Lehrer Christoph Kehl Videospiele in seinem Unterricht ein. Im MEDIEN360G-Interview erzählt er von der innovativen Lehrmethode.
MEDIEN360G: Für MEDIEN360G spreche ich heute mit Christoph Kehl. Er ist Lehrer an der Gemeinschaftsschule Kulturanum in Jena. Dort unterrichtet er Klassenstufen-übergreifend von der vierten bis zur zehnten Klasse in den Fächern Geschichte und Ethik. In seinem Unterricht setzt er auch schon mal Videospiele ein. Und das ist auch der Grund, warum er heute hier ist, denn über dieses Thema wollen wir zusammen mit ihm sprechen. Herzlich willkommen, Herr Kehl! Vielen Dank, dass sie sich die Zeit für uns nehmen. Viele Menschen werden wahrscheinlich, wenn sie davon hören, dass Videospiele im Schulunterricht eingesetzt werden, an Schüler denken, die in der Schule vor ihrem Handy sitzen oder einer Konsole und einfach Videospiele zocken. Stimmt das so? Oder was würden Sie dem entgegnen?
Christoph Kehl: Ich glaube, das ist eine ganz gängige Vorannahme, wenn es heißt, wir werden Spiele im Unterricht einsetzen oder ganz konkret Computerspiele im Unterricht einsetzen. Und nicht selten werden damit dann auch Erwartungen der Schülerinnen und Schüler enttäuscht, dass jetzt hier wirklich einfach zum Vergnügen gedaddelt wird, wie zu Hause vor den heimischen Konsolen oder PCs. Aber es bleibt natürlich Unterricht und es ist einfach ein anderes Medium, dass man hier zum Lerngegenstand macht. Was nicht heißt, dass nicht gespielt werden soll und dass auch die Spielerfahrung nur ein Nebenprodukt sein soll. Aber es soll einfach auch reflektiert eingesetzt werden und reflektiert betrachtet werden.
MEDIEN360G: Wie sind Sie denn eigentlich überhaupt dazu gekommen, Videospiele im Unterricht einzusetzen?
Christoph Kehl: Den Weg habe ich auch versucht, für mich noch mal so ein bisschen nachzuzeichnen. Und ich glaube, es ging vor allem über die Erinnerungskultur. Ich habe mich schon im Studium sehr für Geschichtsdarstellungen in den Medien und der Öffentlichkeit und dann in der Funktion der Erinnerungskultur interessiert. Ich habe dann über Gedenkstättenpädagogik mich da immer weiter rein gearbeitet und bin dann über einen Pitch-Jam der Stiftung Digitale Spielekultur in ein Projekt hineingekommen, bei dem es darum ging, die erinnerungskulturellen Potenziale von Computerspielen nicht nur zu analysieren, sondern dann auch kreativ selbst mitzugestalten.
Und das war so ein bisschen der Einstieg, über den ich dann gemerkt habe: Okay, dieses Potenzial, was Spiele hier mitbringen, einmal als Anknüpfungsmöglichkeit an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Aber auch als Untersuchungs- und Reflektionsgegenstand, also auch der kritische Blick auf Spiele, zum Beispiel auch hinsichtlich der Orientierungskompetenz und solchen Dingen.
Und das hat mich dann immer weiter in so eine Art Spieledidaktik-Bubble reingebracht. Und da gibt es wirklich ganz engagierte unterschiedliche Professionen, die sich zum Beispiel mit Computerspielen im geschichtswissenschaftlichen Kontext auseinandersetzen. Da habe ich ganz viel Unterstützung auch bekommen, auch was Kontakte zu Spielestudios und so weiter anbelangt. Lizenzen. Also das ist eine ganz ganz tolle Community. Und wenn man dann diese positiven Erfahrungen macht, dann hat das für mich zumindest immer mehr an Moment gewonnen und hat mich einfach bei der Stange bleiben lassen. Und je länger man dabei ist, desto mehr Potenzial findet man, desto kritischer guckt man vielleicht auch auf bestimmte Spieleangebote drauf und desto schärfer wird aber vielleicht auch dann der Einsatz im eigenen Unterricht.
MEDIEN360G: Jetzt haben wir schon viel Drumherum geredet. Jetzt wäre es natürlich interessant, von Ihnen auch mal zu hören, wie denn so etwas in der Praxis aussehen kann. Also vielleicht können Sie uns mal beschreiben, wie so eine typische Unterrichtsstunde von Ihnen aussieht, in denen Videospiele eingesetzt werden.
Christoph Kehl: Also, das kann man so pauschal gar nicht sagen, weil für mich ist es ein Medium oder eine Methode, wie viele andere auch. Also es gibt nicht die typische Unterrichtsstunde mit Games. Und wie ich die Spiele im Unterricht einsetze, hängt immer von der Gruppe ab, es hängt immer von den Möglichkeiten, den Rahmenbedingungen sozusagen ab. Also: Wie viel Zeit habe ich zur Verfügung? Welche Hardware habe ich zur Verfügung? Welche Vorerfahrungen bringen die Kinder oder die Jugendlichen mit? Was ist mein Lernziel an der Stelle? Und deswegen variiert es ganz, ganz stark, was wir denn dann konkret mit dem Spiel machen. Und wenn wir sagen: Games im Unterricht oder lernen mit Games, dann ist das für mich oder in meinem Unterricht und meinem Verständnis auch ganz breitgefächert, wie dieses Spiel in den Unterricht kommt.
Ganz am Anfang – das zeichnet vielleicht auch so ein bisschen den Weg nach, wie ich meine Erfahrungen damit gesammelt habe – eines der ersten Spiele, die ich eingesetzt habe, war damals "Through the Darkest of Times“, aber noch gar nicht als eigene Spiele-Erfahrung. Da war diese große Frage: Darf man Hakenkreuze in Computerspielen zeigen? Und wir haben uns einfach mit der Selbstdarstellung des Spiels auf der Internetseite und im Trailer beschäftigt. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler sind in eine Art Rolle der Games-Redakteurin oder der Rezensenten geschlüpft und haben sich dann quasi die Selbstdarstellung des Spiels angeguckt. Was Sie auf der Internetseite, was sie im Trailer, in Let's-Plays finden konnten und haben sich gleichzeitig mit dem thematischen Gegenstand Widerstand in der NS-Diktatur beschäftigt.
Und dann ging es darum, eine Rezension zu verfassen: Was macht das Spiel? Oder was leistet das Spiel? Was kann es nicht leisten? Wie nah am historischen Gegenstand ist das Spiel? Ist es problematisch, wenn es davon abweicht? Eignet es sich dann dazu, es auch im Unterricht einzusetzen. Das heißt, wir hatten keine direkte Spielerfahrung, aber wir haben trotzdem dieses Game gewissermaßen eingesetzt im Unterricht.
Mittlerweile bin ich ein bisschen geschickter, kann ein bisschen weiter dann auch absehen: Was brauche ich? Wie kann ich es einsetzen? Ich habe dieses Netzwerk aufbauen können, auch über den Arbeitskreis Geschichtswissenschaften und digitale Spiele. Ich hatte dann Unterstützung von einem Masterstudierenden von der Uni Erfurt. Der hat mich zum Beispiel beim Einsatz von "Valiant Hearts“ in einer Obergruppe – das heißt in einer Klasse von der siebten bis zur neunten Jahrgangsstufe – unterstützt. Und da haben wir wirklich über das Medienzentrum dann die Demo-Version des Spiels auf unseren iPads installiert und haben immer wieder Spielsequenzen mit in den Unterricht eingebaut. In Kleingruppen haben sich dann mehrere Schüler an einem iPad durch die Level gespielt, hatten dazu immer Beobachtungsaufträge, Analyseaufträge und haben das dann wiederum im Plenum ausgewertet.
Also da ging es direkt dann auch um die Spiele-Erfahrung. Und das war deswegen so wichtig, weil das Lernziel mit der Wirkung von diesem Spiel gekoppelt war. Also man hat mehrere Ebenen, die man sich immer anschauen kann, wenn man diese Spiele einsetzt. Die Sachebene, wenn es ganz konkret um Sachinformationen geht und dann aber auch Wirkungsebenen. Also: Wie wirkt das Spiel auf dich? Warum wirkt es historisch authentisch? Womit spielt dieses Spiel dann gewissermaßen, wenn man so eine Doppeldeutigkeit mit reinnehmen will?
Sie hatten am Anfang gefragt: Was sind die Erwartungen? Man stellt sich vor, man „daddelt“ da dann und im besten Fall hat man am Ende ganz viel gelernt. Automatisch wird das für die wenigsten Schülerinnen und Schüler funktionieren. Also, dass man sich es als Lehrer einfach macht, indem man jetzt Games einsetzt – der Heilige Gral – und die Kinder sind alle motiviert und spielen und lernen freiwillig. Sie werden spielen, und sie haben wahrscheinlich auch eine gute Zeit. Ob sie dabei dann viel gelernt haben, das zeigt sich dann erst am Ende und hängt natürlich vom didaktischen Einsatz ab.
MEDIEN360G: Sie hatten jetzt die beiden Spiele "Valiant Hearts“ und "Through the Darkest of Times“ erwähnt. Das sind Spiele, die schon eher für den breiten Markt gemacht wurden. Also es sind jetzt keine direkten Lernspiele, die sie einsetzen. Welche Spiele verwenden Sie für den Unterricht? Sind das spezielle Lernspiele oder sind das normale Spiele, die man auch im Handel kaufen kann und eher einen Unterhaltungszweck haben?
Christoph Kehl: Sowohl als auch. Und das Spannende finde ich es dann immer, die mit den Schülerinnen und Schülern auch vergleichend gegenüberzustellen. Das bedeutet bei dem Beispiel von "Valiant Hearts“: Es gibt ein anderes Spiel, das ist vom Online-Angebot Planet Schule erstellt worden, das ist glaube ich auch öffentlich-rechtlich. Das heißt "Kleine Schritte im großen Krieg“. Und das hat dasselbe Thema zum Gegenstand, nämlich den Ersten Weltkrieg. Und wir haben uns beide Spiele angeschaut und haben dann auch mit der Klasse die Vor- und Nachteile und vielleicht auch die Intention und auch das Ziel der Entwickler gegenübergestellt. Und dann sieht man nämlich genau: "Kleine Schritte im großen Krieg" ist ein klassisches Lernspiel, hat einen ganz anderen Auftrag, kommt von einer ganz anderen Entwicklerseite als zum Beispiel "Valiant Hearts“, was von Ubisoft als einer der größten Spieleentwickler gerade am deutschen Markt, entwickelt wurde. Was macht das mit mir? Was bedeutet das vielleicht auch für das Spieleerlebnis? Und da kann man wirklich die Bandbreite einsetzen von einem klassischen Lernspiel bis hin zu normalen AAA-Produktionen [gesprochen „Triple A“; eine informelle Bezeichnung für Videospiele mit hohem Budget; Anm. der Redaktion], die in erster Linie Spaß machen.
MEDIEN360G: Was wäre Ihrer Meinung nach der konkrete Nutzen vom Einsatz von Videospielen im Unterricht? Was lässt sich durch Videospiele besonders gut vermitteln? Was können Videospiele, was andere Lehrmittel oder andere Medien im Unterricht nicht können?
Christoph Kehl: Ich hatte mich ja so ein bisschen auch darauf vorbereitet und überlegt. Eine ganz ehrliche Antwort, warum ich das natürlich auch gerne einsetze, ist, weil es mich selbst interessiert. Und weil ich da selbst das Gefühl habe: Okay, man bewegt sich hier auch auf einem gewissen Neuland. Und was mir aufgefallen ist – gerade in einem Setting, wie in unserer Schule, also in einer Gemeinschaftsschule mit inklusivem Setting –, dass wir durch diese extreme Heterogenität, zum Teil auch Sprachbarrieren, über diesen erlebnisorientierten oder erfahrungsorientierten Zugang, nämlich spielend, bei einem Computerspiel sogar noch mit dem großen Vorteil, dass in der Regel audiovisuell und irgendwie noch prozedural das Ganze gestützt wird. Das heißt: Ich bin nicht darauf angewiesen, mir einen komplexen Text zu erschließen, sondern ich kann eine Art Erfahrung schaffen, die ich dann wiederum reflektiere. Und diesen Zugang schafft ein ganz großer Teil der Gruppe.
Und damit kann ich über dieses Medium Spiele, so meine Erfahrung, gerade in der Diskussion – Was ist Geschichte? Wie funktioniert Geschichte? Was ist Erinnerungskultur? Was dürfen Spiele? Was dürfen andere Medien? – kann ich sozusagen eine Tiefe in der Diskussion erreichen, die auf einem sehr sachlichen Level, vielleicht über einen Text oder so, gar nicht alle abholen würde.
Da reichen Screenshots. Wir haben uns einen Screenshot angeschaut von Wolfenstein, in den größeren Klassen, wo es dann darum ging: Darf ich diese Hakenkreuze zeigen? Wolfenstein durfte es in der deutschen Version nicht. Also haben wir uns dann so ein Screenshot angeschaut, mit einer eindeutigen Ästhetik, die an die Ästhetik der NS-Diktatur angelehnt ist. Macht es jetzt noch einen großen Unterschied, dass ich da – im Grunde waren es dann so Kreise, in den Reichsfarben meistens auch –, dass ich diese zeige statt des Hakenkreuzes?
Da brauche ich keinen Text, sondern da hat jeder Schüler, jede Schülerin eine Erfahrung und irgendwie eine Intuition. Und mit dieser Intuition kann ich arbeiten. Und damit mache ich diesen Gegenstand, der manchmal recht abstrakt ist, nämlich Geschichte und deren Darstellung, plötzlich erfahrbar und erlebbar. Und das finde ich, ist etwas ganz Spannendes.
Das ist natürlich aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, was jetzt nicht nur auf historisch politische Bildung zutrifft, sondern Spiele sie quasi tagtäglich irgendwie beschäftigen, auf eine gewisse Art und Weise auch beeinflussen, manchmal auch manipulieren wollen. Also auch da so eine Art Orientierungskompetenz, was Spiele eigentlich sind, was Spiele eigentlich wollen, was Spiele eigentlich können. Dass man da so ein bisschen Orientierung mit reingibt.
MEDIEN360G: Was erhalten Sie für Reaktionen auf ihren Unterricht? Auch von Lehrerkollegen, die jetzt vielleicht nicht den einfachsten Zugang zu dem Medium haben. Oder auch von Eltern oder den Schülern selbst.
Christoph Kehl: Bei den Eltern war es zumindest immer, dass entweder kein Widerspruch kam – in den seltensten Fällen bekomme ich von den Eltern irgendwie Zuspruch, dass das eine ganz, ganz tolle Unterrichtsstunde war, die man da gemacht hat. Im Kollegium sind die Kolleginnen und Kollegen offen. Sie hören sich das gerne an. Ich glaube sie wissen aber auch, dass es nichts ist, was man ohne weiteres in den eigenen Unterricht integrieren kann. Es ist ja immer so, dass man irgendwie seinen eigenen Stil hat. Und wer das jetzt so nicht leisten möchte, so offen oder so diskursiv, der wählt vielleicht einen anderen Zugang.
Der ist auch weder besser noch schlechter. Es ist halt einfach ein anderer Zugang. Und es hängt von dem eigenen Stil ab, mit dem ich da unterrichten möchte. Ich versuche es immer so offen wie möglich zu machen. Ich teile meine Spielideen und meine Erfahrungen da gerne. Man kann aber gar nicht sagen, inwiefern das dann groß eingesetzt oder umgesetzt wird.
Bei den Schülerinnen und Schülern ist das Feedback meist positiv. Auch da hängt es, glaube ich, von der eigenen Erwartung und Erfahrung ab. Also ich habe auch sehr geschichtsinteressierte Schülerinnen und Schüler, die lieber den Zugang über eine klassische Doku oder über einen Sachtext oder die Originalquelle wählen würden und für die dieses Spielerische gar nicht notwendig wäre. In einem anderen Beitrag hat mal ein Schüler gesagt: Das ist so ein bisschen wie Vokabeln abschreiben, durch die Hand in den Kopf. Durch die Spiel-Erfahrung merkt er sich das dann besser, die Informationen oder zumindest die Erfahrung.
Es geht nicht immer darum, die Sachinformationen herauszuziehen. Ich glaube, die Erwartung muss man auch den Kolleginnen und Kollegen nehmen. Ich kann es nur oft genug betonen: Das ist nicht der Heilige Gral! Ein Lernspiel einzusetzen und dann nach 45 Minuten spielen zu sagen: Jetzt habe ich genauso viel gelernt, wenn ich mir das erarbeitet hätte über einen Text oder sowas. Und es hat im Idealfall noch Spaß gemacht und es ging ganz schnell und dann bleibt es ewig hängen. Von allein läuft es nicht. Das überfordert die Kids, das überfordert sozusagen das Spiel selbst.
Aber ich glaube, wenn man es als Medium gezielt einsetzt, dann holt es vielleicht auch Schülerinnen und Schüler ab, die man über einen anderen Zugang eventuell nicht erreicht hätte. Und darum geht es mir zumindest auch immer. Ich unterrichte ja auch nicht ausschließlich mit Games. Das ist ja nicht so, dass man nichts anderes macht. Aber einfach, dass man diese Möglichkeit mit einbaut und damit Schülerinnen und Schülern eine Möglichkeit einräumt, die auf einem anderen Weg sich vielleicht weniger eingebracht hätten.
MEDIEN360G: Vielen Dank, Herr Kehl für den Einblick in ihren Unterricht mit Videospielen.