Rezension Russisches Seelendrama in tschechischer Sprache: Semperoper zeigt "Katja Kabanowa"
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29. April 2024, 14:00 Uhr
Slawisches Musiktheater gilt hierzulande beinahe als Rarität. Umso gespannter hat die Opernwelt die Premiere von Leoš Janáčeks "Katja Kabanowa" in der Regie von Calixto Bieito an Dresdens Semperoper erwartet.
Selbst ein anerkannter Komponist wie Leoš Janáček hat es in den Spielplänen derzeit nicht immer leicht. Umso verdienstvoller scheint das Engagement der Semperoper zu sein, dessen Dreiakter "Katja Kabanowa" herauszubringen (eine Kooperation mit dem Nationaltheater Prag).
Slawisches Musiktheater
Dieses Musikdrama aus dem frühen 20. Jahrhundert gehört zwar längst zum Kanon des aktuellen Musiktheaters, wird aber nach wie vor viel zu selten aufgeführt. Möglicherweise liegt das an den sprachlichen Hürden, die natürlich nicht unterschätzt werden sollten, aber ungemein reizvoll sind, denn Leoš Janáček hat sich sehr stark an der Volks- und Vokalmusik seiner Heimat orientiert und sollte daher unbedingt im tschechischen Original aufgeführt werden. Dieses Kolorit charakterisiert die Musik, prägt deren Wirkung. Wer sich diesen Hürden stellt, kann Großes erreichen.
Regie von Calixto Bieito
Der Semperoper ist dies mit ihrer zur Premiere leider nicht ausverkauften Neuproduktion gelungen. Womöglich muss der in seiner musikalischen Vielfalt und Schönheit immer noch nicht hinreichend bekannte oder gewürdigte Janáček doch stärker beworben werden? Vielleicht hat aber auch der Ruf des als Skandalregisseur gebrandmarkten Calixto Bieito Teile des Publikums verschreckt?
Wenn ja, wäre es grundlos, denn weder hat seine Umsetzung von Arnold Schönbergs "Moses und Aron" 2018 zu einem Skandal geführt noch ein Jahr später "Le Grand Macabre" von György Ligeti.
Auch bei "Katja Kabanowa" liegt der Skandal eher im Stück selbst. Es ist ein Spiegelbild der im Original russischen Gesellschaft mit ihrer Verlogenheit und ihrem Beharren auf alten, überkommenen Verhaltensweisen, was auf die Vorlage von Alexander Ostrowskis Drama "Gewitter" zurückgeht. Dieses Spiegelbild hat Janáček mit seiner Musik grandios auf den Punkt gebracht, es wurde von Bieito präzise bloßgelegt.
Inhalt der Oper
Die Geschichte ist nur auf den ersten Blick ein wenig verworren: Katja ist frisch verheiratet und umgehend enttäuscht, sie sehnt sich nach wahrer Liebe, hat mit Tichon aber einen sehr schwachen Mann, der komplett unter dem Pantoffel seiner hartherzigen Mutter steht.
Die alte Kabanowa drangsaliert ihre Schwiegertochter, wo sie nur kann. Als Tichon auf eine Geschäftsreise geschickt wird, nutzt Katja dies für einen Seitensprung - dazu verführt von der lebenslustigen Halbschwester Varvara. Danach ist für sie nichts mehr wie früher, sie hat zwar ein einziges Mal wahres Glück empfunden, schämt sich aber dafür, gesteht diesen "Fehltritt" und wird nun erst recht dermaßen ausgegrenzt, dass ihr als Ausweg nur der Selbstmord bleibt. Katja stürzt sich in die Fluten der Wolga.
In einer Nebenhandlung prügelt der alte Griesgram Dikój, ein brutaler Kaufmann, auf seinen Neffen Boris ein, Katjas Geliebten, dessen Erbe er bis zur Volljährigkeit verwalten soll. Auch hier tun sich menschliche Abgründe auf!
Stimmige Kostüme, genaue Personenführung
Calixto Bieito erzählt diese Geschichte ganz geradlinig und lenkt die Sicht vor allem auf unterdrückte Emotionalität, betont dabei die körperliche Lust. Das Bühnenbild von Aida Leonor Guardia wirkt bezwingend, ist ein grauer Kasten, dem nicht zu entrinnen ist, es vermittelt die emotionale Enge wie den Drang, da ausbrechen zu wollen. Dies gelingt nur Varvara und ihrem Geliebten, die für ein neues Leben nach Moskau ziehen.
Die alte Kabanowa aber verharrt in ihrem grausamen Regime, Dikój stürzt sich in Alkohol und Gewalt, Katja entflieht dieser verlogenen Prüderie in den Tod. Tichon macht seine Mutter dafür verantwortlich, die diesen Vorwurf eisig von sich weist.
Bieito hat die Personen allesamt sehr genau charakterisiert und geführt, woran auch die stimmigen Kostüme von Eva Butzkies ihren Anteil haben.
Überzeugendes Seelendrama
Die Sänger-Besetzung in diesem packenden Seelendrama ist absolut überzeugend gelungen. Glanzvoll mimt Amanda Majeski ihre Zerrissenheit als Katja, sie spielt mitreißend, ja, ergreifend, besticht mit ihrem kraftvoll glänzenden Sopran.
Als Tichon wächst Tenor Simeon Esper vor allem zum Schluss über sich hinaus, die Varvara wird von Štěpánka Pučálková in grandioser Vitalität dargestellt und mit glockenhell vielfarbigem Mezzo versehen, der Boris von Magnus Vigilius ist ein emotional starker Tenor, als Mutter Kabanowa betört Christa Mayer mit herrischem Alt, Kurt Rydl gibt mit grummelndem Bass eine Paraderolle, sein Dikój ist der Bösewicht per excellence – insgesamt sind gut zehn Solopartien auf durchweg bestem Niveau zu erleben.
Der von Jonathan Becker gewohnt überzeugend einstudierte Staatsopernchor sowie die unter dem argentinischen Gastdirigenten Alejo Pérez aufspielende Sächsische Staatskapelle verleihen dem Abend große, spannungsvolle Brillanz. Ein blühender, glühender Klangkosmos, der vom ersten Takt an besticht.
Besetzung
Musikalische Leitung Alejo Pérez
Inszenierung Calixto Bieito
Bühnenbild Aida Leonor Guardia
Kostüme Eva Butzkies
Licht Calixto Bieito
Dramaturgie Benedikt Stampfli
Choreinstudierung Jonathan Becker
Savël Prokofjevič Dikój Kurt Rydl
Boris Grigorjevič Magnus Vigilius
Marfa Ignatěvna Kabanová Christa Mayer
Tichon Ivanyč Kabanov Simeon Esper
Katěrina, genannt Káťa Amanda Majeski
Váňa Kudrjaš Martin Mitterrutzner
Varvara Štěpánka Pučálková
Kuligin Ilya Silchuk
Gláša Nicole Chirka
Fekluša Sabine Brohm
Ein Vorbeigehender Zhi Yi
Eine Frau Lucie Ceralová
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
In Kooperation mit dem Nationaltheater Prag
Dekoration und Kostüme des Nationaltheaters Prag
Weitere Aufführungen ... ... finden am 1., 6., 10. und 19. Mai 2024 statt.
Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 29. April 2024 | 09:10 Uhr