Bruckner zum 200. Geburtstag Dennis Russell Davies veröffentlicht mit MDR-Sinfonieorchester Bruckner-Urfassungen
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01. September 2024, 17:00 Uhr
Die Musikwelt begeht am 4. September ein großes Jubiläum: den 200. Geburtstag von Anton Bruckner. MDR-Chefdirigent Dennis Russell Davies schließt mit einem Livekonzert im Gewandhaus am 4. September 2024 seinen Bruckner-Zyklus mit allen Sinfonien in der Urfassung ab, die er in den vergangenen Spielzeiten mit dem MDR-Sinfonieorchester aufgeführt hat. MDR KLASSIK hat mit Dennis Russell Davies über den Zyklus und über das Jubiläumskonzert gesprochen.
MDR KLASSIK: Dennis Russell Davies, Sie beenden Ihren Bruckner-Zyklus mit dem MDR-Sinfonieorchester an Bruckners 200. Geburtstag mit der Achten Sinfonie. Bei Beethoven wäre an so einem Anlass sicher die Neunte fällig. Bei Bruckner ist es die Achte. Warum diese?
Dennis Russell Davies: Es ging damit los, als ich mit dem MDR-Sinfonieorchester 2019 mit der Achten gastiert habe. Nach dem Konzert kamen Kollegen aus dem Orchester zu mir und haben mich gefragt, ob ich bereit wäre, einen Gesamt-Bruckner-Zyklus zu machen. Meine Antwort war sofort ja, sehr gern. Die Idee entstand, die ersten Fassungen der Sinfonien aufzunehmen.
Dafür gibt es einen guten Grund: Natürlich hatten wir gerade eben die Achte gespielt. Alle Sinfonien sollten dann nacheinander im Programm kommen. Es hat alles darauf hingedeutet, dass wir dann auch mit der Achten aufhören würden. Es hat aber auch einen anderen Sinn. Die Achte ist die Sinfonie, mit der Bruckner alles vollendet hat. Mit der Neunten war er unsicher. Er tat sich mit dem vierten Satz schwer. Meiner Meinung nach war es nicht möglich, nach diesem wunderschönen dritten Satz der Neunten etwas anzuhängen. (...) Aber tatsächlich ist die Achte die letzte der Sinfonien, die er vollendet hat.
Das Festkonzert für ganz Deutschland zum Bruckner-Geburtstag kommt aus Leipzig. Das MDR-Sinfonieorchester unter Chefdirigent Dennis Russell Davies spielt am 4. September 2024 im Leipziger Gewandhaus ab 19.30 Uhr Bruckners Achte Sinfonie – live zeitversetzt ab 20 Uhr zu hören bei MDR KLASSIK und deutschlandweit im ARD Radiofestival.
MDR: Sie haben es angesprochen, dass Sie in ihrem Zyklus jeweils die Urfassung aller Bruckner-Sinfonien aufgeführt haben mit dem MDR-Sinfonieorchester. Auch die Achte hat Bruckner umgearbeitet. Was ist das Besondere an der Urfassung im Vergleich zu der späteren Fassung, die heute bekannter ist?
DRD: Bruckners erster Impuls war immer: Er dachte, er sei fertig. Und dann kam Kritik von Dirigenten, vom anderen Komponisten, wohlwollenden Freunden. Bruckner war äußerst sensibel, unsicher manchmal. Statt sich zu verteidigen, machte er sich an die Arbeit und änderte es um. Ich finde aber, dass es sich lohnt, die ersten Fassungen seiner Sinfonien zu kennen, sie zu hören, weil sie wunderbare Musik sind.
Wir haben durch Bruckners menschliche Unsicherheit und durch diese ganzen Gegebenheiten nicht nur elf Sinfonien, wir haben eigentlich 19 Sinfonien. Denn er hat mehrere Fassungen von allen gemacht und sie sind alle gut.
MDR: Gibt es bei Bruckners Kompositionen Stellen, die aus Ihrer Sicht besser gemacht werden könnten?
DRD: Ich glaube, Bruckner hat wirklich viel über seine Kompositionen nachgedacht. Es geht nicht um besser. Es geht um "mal anders". Als Komponist war er sicher mit sich selbst manchmal sehr streng. An seiner Ersten Sinfonie, der sogenannten Linzer Sinfonie, hat er beinahe 30 Jahre lang gearbeitet. Heute würde man sagen, "gefummelt". (lacht)
Es gibt Stellen, wo er statt einem Takt Begleitung, zwei Takte Begleitung niederschrieb, und dann wieder zurück auf einen Takt wechselte. Die Proportionen waren ihm sehr wichtig. Das sind Sachen, die einem normalen Zuhörer nicht auffallen, aber Musikern schon.
MDR: Sie sind neben ihrer Bruckner-Expertise auch ausgewiesener Experte für die Musik des 20. Jahrhunderts, vor allen Dingen auch mit ihren vielen Kontakten in die amerikanische Musik. Welche Anknüpfungspunkte gibt es von Bruckner Richtung 20. Jahrhundert? Oder steht er eher als historisches Monument?
DRD: Viele Komponisten empfanden nach Beethoven und vor allem nach dessen Neunter Sinfonie eine große musikalische Krise. Schubert ist seinen eigenen Weg gegangen, aber Brahms war nicht in der Lage, eine Sinfonie zu komponieren und hat jahrelang gewartet, bis er es gewagt hat. Bruckner war das irgendwann sozusagen egal. Er hatte zwar großen Respekt vor Beethoven, aber Wagner hat ihn von einem, sagen wir mal, "Knechteverhältnis" zu Beethoven befreit.
Bruckner ist seinem eigenen Weg gefolgt, seiner sehr modernen Denkweise, die sich in späteren Werken spiegelt. Wir sagen oft die Schule der Minimalisten: Terry Riley, Philip Glass, John Adams. Manchmal hört man Passagen bei Bruckner, bei denen man denken könnte, er habe bei Philip Glass abgeschrieben, sarkastisch gemeint.
MDR: Das heißt also, diese Kleinteiligkeit, die so viel ausmacht in der Musik der Minimalisten, ist eigentlich schon bei Bruckner zu finden.
DRD: Das ist die Möglichkeit, die sogenannte Baustelle der klassischen Musik. Die Begleitungsfloskeln zur Hauptangelegenheit zu machen, hat Bruckner häufig verfolgt. Das wurde später, im 20. Jahrhundert, nicht nur von den Minimalisten, auch aus Idealform angesehen.
MDR: Wenn Sie am Bruckner-Geburtstag am 4. September Ihren Bruckner-Zyklus mit der Achten abschließen: Ist das für Sie ein wirklicher Schlusspunkt? Oder ist es umgekehrt, so, dass im Hintergrund die Bruckner-Beschäftigung schon wieder weitergeht?
DRD: Ich habe mich sehr mit den Bruckner-Aufnahmen beschäftigt. Wir stellen alle unsere Aufnahmen online bei mdrklassik.de zur Verfügung. Es gab dabei in der Vorbereitung einiges anzuhören, nachzuhören, zu prüfen oder zu überlegen. Dabei habe ich aber immer gedacht: Gott, das möchte ich wieder machen. Also, ich werde es sicher wiederholen.
Ab dem 4. September 2024 veröffentlichen wir auf mdrklassik.de alle elf Sinfonien inklusive der "Nullten" und der frühen f-Moll-Sinfonie, eingespielt vom MDR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Dennis Russell Davies.
Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 04. September 2024 | 09:10 Uhr