Interview mit Iris Rackwitz Wie das WGT in Leipzig vor 30 Jahren begann: "Wir wollten keine bunte Partywelt"
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27. Mai 2023, 17:58 Uhr
Das Wave-Gotik-Treffen (WGT) feiert 2023 großes Jubiläum: Vor 30 Jahren organisierten Leipziger Gothics an Pfingsten das erste WGT, um Gleichgesinnte zu treffen und Bands der Schwarzen Szene wie "Goethes Erben" bei Konzerten zu erleben. Iris Rackwitz hat in den Neunzigern beim WGT mitgearbeitet und erinnert sich im Interview an die Anfangszeit zurück – als Bands noch mit auf dem Zeltplatz schliefen, in der ehemaligen Fabrik Werk 2 erste Konzerte mit Lasershow stattfanden und eine Kommerzialisierung der Gothic-Kultur noch nicht in Sicht war.
MDR KULTUR: Das erste Wave-Gotik-Treffen in Leipzig fand Pfingsten 1992 statt. Waren Sie damals schon mit dabei? Wie sind Sie zum WGT gekommen?
Iris Rackwitz: Ich war 1992 erst im Herbst in Leipzig, nachdem ich am Internat im Harz mein Abitur gemacht hatte. In Leipzig habe ich an der HTWK, die gerade als Fachhochschule neu gründet wurde, mit meinem BWL-Studium begonnen. Zur gleichen Zeit war ich häufig in der Kinder- und Jugendvilla am Clara-Park. Die Villa stand leer und im Keller fanden immer dunkle Diskos statt. Da habe ich Leute kennengelernt wie Michael Brunner und Sandro [Standhaft, Mitbegründer des WGT, Anm. der Redaktion] und einige andere aus der Szene.
1992 bin ich auch das erste Mal zu Konzerten im Werk 2 gelandet. Dort haben Das Ich, Goethes Erben und Relatives Menschsein gespielt. Veranstaltet wurden die Konzerte von Moonchild, das waren Sandro und Michael Brunner. Die hatten im Werk 2 auch ihr Büro. Und wir, verschiedenste Leute - wir waren dann schnell 15, 18, 20 Leute - haben mitgemacht, von Schnittchen schmieren über Kasse. Ich habe viel beim Einlass und der Security geholfen oder war Auf- und Abbauhelferin. Das alles haben wir gemacht, weil wir wollten, dass dunkle Konzerte stattfinden. Ich war demzufolge erst 1993 zum zweiten WGT dabei.
Wie haben Sie das zweite WGT 1993 in Erinnerung?
Voller Tatendrang. Alle wollten mitmachen. Es gab viele Helfer, Freunde, Bekannte und Verwandte, die einfach mitgemacht haben. Wir haben uns alle zusammen um die Organisation der Spielorte bis hin zum Zeltplatz gekümmert. Wir hatten von früh an bis weit in die Nacht mit Vorbereitungen zu tun. Ich kann mich noch erinnern, wenn in der Halle D im Werk 2 Fegen angesagt war - das war immer fürchterlich früh, so um halb fünf - dann rannte da auch mal eine Maus durch die Massen von Flaschen, die da rumflogen. Es gab da noch kein Pfandsystem.
Alle wollten mitmachen. Es gab viele Helfer, Freunde, Bekannte und Verwandte, die einfach mitgemacht haben. Wir haben uns alle zusammen um die Organisation [...] gekümmert.
Die Bands haben damals auch bei uns privat verteilt geschlafen. Viele Bands haben auch mitgezeltet. Da gab es noch nicht diese Struktur von Hotels und einer großen professionellen Organisation. Damals war wirklich viel handgemacht. Es war eigentlich alles handgemacht.
Haben Sie ein besonderes Konzert in Erinnerung aus den ersten WGT-Jahren, an das Sie gerne zurückdenken?
Ja, es gab gleich zu Anfang ein Konzert, das hat sich mir sehr eingeprägt. Das war die Band In Slaughter Natives aus Schweden, die im Werk 2 aufgetreten sind. Damals war die Halle noch im Urzustand. Es gab, wenn man reinkam, rechter Hand eine ganz steile Treppe zu einem kleinen Maschinenführerhaus. Auf der Treppe sollte ich Security machen, damit dort niemand hochging. Während des Konzerts saß ich mit dem alten Hauselektriker, der schon zu DDR-Zeiten dort gearbeitet hatte, auf dieser Treppe. Wir saßen da wie die kleinen Kinder und haben über diese lange große Halle gesehen, die voll von Menschen war.
Die Halle war wie eine Industriekathedrale, eine dreischiffige Kathedrale. Am andere Ende stand der Sänger auf der Bühne und die Band spielte passenderweise Industrial. Es wurden dann Laserstrahlen durch die Halle geschickt – sowas hatten wir überhaupt noch nie gesehen. Das war beeindruckend. Das war irre. Das Licht, die Inszenierung, dieser Gesang. Das hatte was Filmmusikalisches, wie von dunklen Filmen oder Gruselfilmen.
War das Verhältnis zwischen WGT und der Stadt Leipzig in den 90er-Jahren so harmonisch wie heute?
In den 90er-Jahren, das sage ich mal so frech, gab es keine Stadt. Ich meine damit, dass es Anfang der 90er-Jahre ganz viel Freiraum gab. Freiraum, den es heute leider so nicht mehr gibt. Wir hatten andere Möglichkeiten, Raum zu nutzen, was zu entwickeln, Vereine zu gründen und Veranstaltungen zu machen.
Diese Kultur- und Clublandschaft, die heute existiert, ist ganz viel aus dieser Zeit damals hervorgegangen.
Diese Kultur- und Clublandschaft, die heute existiert, ist ganz viel aus dieser Zeit damals hervorgegangen. Aus lauter Leuten wie unserer Truppe. Eben weil wir diese Freiheit hatten. Die Reglements kamen erst von Jahr zu Jahr dazu. Mittlerweile sind die Auflagen sehr streng, was Brandschutz oder Lärmschutz angeht.
Und wie waren die Reaktionen aus der Bevölkerung auf das Wave-Gotik-Treffen in den Anfangsjahren?
Die Menschen um uns herum, gerade im Stadtteil in Connewitz, waren neugierig und aufgeschlossen. Na ja, manche haben sich bestimmt gefragt: Was sind das für Leute? Manche haben bisschen geguckt. Aber das war nicht negativ. Im Gegenteil, man ist viel ins Gespräch gekommen. Wir haben uns viel mit allen um uns herum unterhalten. Die Leute haben auch viel gefragt und waren offen. Erst in den Folgejahren und in späteren Jahren haben wir uns als Szene mit dem WGT rechtfertigen müssen.
Die Wave-Gotik-Treffen galten in 90er-Jahren auch als erstes Zusammentreffen mit der Schwarzen Szene aus dem Westen. Wie haben Sie das empfunden?
Das war kein Thema. Wir waren ja alle Gruftis. Zumindest bei uns Machern war es kein Thema. Klar, im Westen gab's die dunklen Sachen schon eher zu kaufen – wir dagegen haben sie selbstgemacht und uns zusammengestellt. Außerdem war für uns Dunkle im Osten das Anders-sein-wollen ja keine politische Schiene, sondern eine Haltung gegen den Mainstream. Es ging darum zu zeigen: Ich sehe anders aus, ich bin anders. Bei mir war es auch eine Art Revolte gegen das Elternhaus.
Wir wollten keine kommerzielle, bunte Partywelt. Wir wollten was zusammen machen, einfach gute Musik hören und zusammen sein. Das war eigentlich, was uns verbunden hat.
Während Punks provoziert haben und auch mal aggressiv waren, waren wir friedlich. Wir waren einfach interessiert an der Musik, an der Lebensart, an der Architektur. Mich persönlich hat besonders interessiert, wie Menschen in früheren Jahrhunderten gelebt haben, vor allem die Musik war mir wichtig. Dunkle Romantik bedeutete aber auch, viel über den Tod und über das Leben nachzudenken und sich darüber zu unterhalten. Wir wollten keine kommerzielle, bunte Partywelt. Wir wollten was zusammen machen, einfach gute Musik hören und zusammen sein. Das war eigentlich, was uns verbunden hat.
Das Interview führte Valentina Prljic für MDR KULTUR.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. Mai 2023 | 20:05 Uhr