Historiker Aliaksandr Dalhouski an Gedenkstein vor der ehemaligen Erschießungsstelle Blagowschtschina.
Historiker Aliksandr Dalhouski am Gedenkstein vor der ehemaligen Erschießungsstelle Blagowschtschina. Bildrechte: Constanze Müller

Belarus Vernichtungslager Maly Trostinez: Mahnmal für alle Opfer

11. April 2018, 13:15 Uhr

Maly Trostinez war ein deutsches Vernichtungslager in Belarus. Jahrzehntelang wurde an dessen Geschichte nur unvollständig erinnert. Doch langsam bewegt sich etwas in der Erinnerungskultur.

Zwanzig Zentimeter hoch liegt der Schee auch noch im März in dem Waldstück gut zwölf Kilometer südöstlich der belarussischen Hauptstadt Minsk. Der Historiker Aliaksandr Dalhouski stapft zwischen Kiefern entlang, bis er einen roten Steinpfeiler erreicht. "Hier stand das provisorische Krematorium von Maly Trostinez", erklärt er und zeigt ein verblichenes Foto der einstigen Grube. Heute erinnert an dieser Stelle außer dem Stein kaum etwas an das ehemalige Vernichtungslager der Nazis.

Größtes Vernichtungslager auf sowjetischem Boden

1941, kurz nach der Besetzung von Belarus, wurden über 60.000 Juden in das neu eingerichtete Minsker Ghetto gesperrt. Ab November 1941 auch Juden aus anderen europäischen Ländern, darunter Zehntausende Deutsche und Österreicher. Nachdem im Januar 1942 die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, errichteten die Nazis das Vernichtungslager nahe des Dorfes Maly Trostinez, das damals außerhalb des Minsker Stadtgebiets lag, aber über einen Eisenbahnabschluss verfügte.

Im nahegelegenen Wald von Blagowschtschina wurde die zentrale Mordstätte eingerichtet. Nach der Ankunft per Güterzug wurden die gefangenen Juden direkt am Gleis selektiert. "Arbeitsfähige" wurden in das Lager gebracht, die "arbeitsunfähigen" – größtenteils, Frauen, Kinder und Alte – etwa 700 Meter durch den Wald geführt, wo bereits Erschießungskommandos warteten. Die Leichen wurden an Ort und Stelle verscharrt. Die Täter waren grausam effizient. Nach Schätzungen einer sowjetischen Kommission sollen dort mehr als 150.000 Menschen ermordet worden sein. Westliche Historiker gehen von 50.000 Toten aus.

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Der sowjetische Narrativ der Geschichte

Das vermittelt der Gedenkstein so nicht. "Dieser rote Gedenkstein hier wurde in den 1960er-Jahren errichtet und die Inschrift besagt, man solle den Opfern der sowjetischen Zivilbevölkerung gedenken", übersetzt Dalhouski. Der Grund: Die Erinnerungskultur sei in Belarus bis in die 1990er-Jahre sowjetisch geprägt gewesen und auf den Krieg gegen die Besatzer fokussiert. Ein Gedenken an jüdische Opfer gab es nicht.

Der Historiker Dalhouski ist Referent der Minsker Geschichtswerkstatt "Leonid Lewin", ein Projekt für belarussisch-deutsche Zusammenarbeit. Er forscht schon lange zu Maly Trostinez und will dessen Geschichte in Belarus und Deutschland bekannter machen. Dafür müsse vor allem das Schicksal der jüdischen Opfer erzählt werden – endlich erzählt werden.

Jüdische Spuren verwischt

An die Ermordeten Juden in Blagowschtschina erinnern momentan lediglich gelbe Zettel. Hunderte davon sind an Bäume einer Waldlichtung angeheftet, die direkt neben der einstigen Erschießungsstätte liegt. "Name, Geburtsort und Todesdatum sind hier vermerkt. Angehörige haben diese Zettel seit 2009 hier angebracht", erklärt der Historiker.

Die Nachkommen der ermordeten Juden hatten die Erschießungsstätte zusammen mit Historikern "wiederentdeckt" Zuvor versperrte eine Mülldeponie jahrzehntelang den Weg dorthin. Die Massengräber aus dem Zweiten Weltkrieg existieren nicht mehr. Im Herbst 1943 hatte das Sonderkommando 1005 der SS die Gräber ausgehoben und die Leichen verbrannt, um das Morden zu vertuschen.

Der Weg zur europäischen Erinnerungskultur

Vor der ehemaligen Erschießungsstätte wurde 2002 ein weiterer Gedenkstein errichtet, grau und in der Form eines Grabsteins. Für Aliksandr Dalhouski steht er für ein Umdenken in Belarus. "Hier werden erstmals auch Juden als Opfer genannt, auch Juden aus anderen europäischen Ländern, und auch das Minsker Ghetto wird erwähnt. Das ist ein Schritt weg vom sowjetischen Narrativ hin zur europäischen Erinnerungskultur."

Auch in der Regierung und Stadtverwaltung hat ein Umdenken stattgefunden. Seit 2012 entsteht in Zusammenarbeit mit dem "Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk" (IBB) auf dem Weg vom ehemaligen Gleis zur Erschießungsstätte ein Gedenkkomplex. Die Pläne dafür stammen von dem 2014 verstorbenen jüdischen Architekten Leonid Lewin, der zahlreiche Gedenkorte in Belarus konzipiert hat. Erst Jahre nach seinen ersten Entwürfen begann der Bau, den seine Tochter Galina Lewina nun als Projektleiterin zu Ende führt.

Weg der Erinnerung

Ihr Kellerstudio in der Minsker Innenstadt ist übersät mit Zeichnungen, Plänen und Fotos von Projekten ihres Büros, der "Kreativwerkstatt Leonid Lewin". Das Zentrum des Hauptraums wird vom Modell der Gedenkstätte Blagowschtschina dominiert.

Rot erleuchtet führt der Pfad der künftigen Besucher durch das strahlend weiße Modell des Gedenkwegs. "Hier am Beginn ist der Platz der Hoffnung, wo es noch Hoffnung gab", erklärt die Architektin und tippt auf einen hellgrauen Halbkreis nahe der Bahnschienen.

Links und rechts des Weges stehen graue Wände, In Realität handelt es sich um meterhöhe Betonkonstruktionen, die den Umrissen der einstigen Güterwaggons nachempfunden sind. In denen wurden die Opfer hertransportiert. Noch am Gleis mussten sie alle ihre Wertsachen abgeben und erhielten dafür Quittungen. Sie sollten bis zum Schluss glauben, umgesiedelt zu werden. Minuten später wurden sie ermordet.

Aus der Hoffnung in den Tod

"In den symbolischen Wagen sollen die Besucher die Enge der Transporte am eigenen Körper spüren", sagt Lewina. Danach kommen die Besucher zum so genannten "Platz des Paradoxes". "Dort ist die Welt aus den Angeln gehoben, steht Kopf" erklärt die Architektin und deutet auf die Figuren am Wegesrand: "ein umgekipptes Haus, ein entwurzelter Baum, an anderer Stelle steht ein jüdischer Kerzenständer falsch herum. „Und die Besucher müssen dorthin gehen, denselben Weg weiter, den ganze Familien gegangen sind, bis zum Ort des Todes."

Lewina zeigt auf einen großen schwarzen Kreis, dort wo die Erschießungen stattgefunden hatten. "Diese Tragödie gehört zu uns. Wir müssen den Menschen, die nichts davon wissen, erklären, wie es dazu kommen konnte." Dies gelte auch über Landesgrenzen hinaus. Zur feierlichen Eröffnung im Juni sind internationale Gäste eingeladen, darunter Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und sein österreichischer Amtskollege Alexander Van der Bellen.

In kleinen Schritten voran

Wie grenzübergreifende Erinnerungskultur im kleineren Rahmen funktioniert, zeigt sich schon jetzt in Mogiljow. Gut 200 Kilometer entfernt von Minsk wird dort eine seit 2016 bestehende Wanderausstellung gezeigt, die in Zusammenarbeit deutscher und belarussischer Historiker erstellt wurde: "Vernichtungsort Maly Trostinez. Geschichte und Erinnerung." Konzipiert hat sie das IBB gemeinsam mit der "Stiftung Denkmal für die Ermordeten Juden Europas".

Seine Kollegen und er haben Dokumente, Pläne und Fotos gesammelt und auf zwei Meter hohe, hölzerne Schaukästen gedruckt. Die Gesichter der Opfer blicken überlebensgroß auf die Besucher. Auf kleinen Bildschirmen laufen Interviews mit Zeitzeugen in Endlosschleife. Zusätzlich gibt es erklärende Texte in Belarussisch und Deutsch.

Bislang gebe es in Belarus die Wahrnehmung, dass man nur eine Form der Erinnerung haben kann, erklärt der Historiker: "Wenn man dann etwa den jüdischen Opfern gedenken soll, meinen viele, dass man die eigenen darüber vergessenen würde." Genau das wolle er aber nicht, sondern ein differenzierteres Geschichtsbild, schließt Dalhouski: "Wir wollen, dass jede Opfergruppe ihren Platz im kollektiven Gedächtnis erhält."

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: TV | 23.03.2018 | 17:45 Uhr

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