Das Untergrund-Gymnasium von Minsk
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06. Juli 2017, 12:25 Uhr
Ein Gymnasium am Stadtrand von Minsk bildet Schüler illegal zu aufgeklärten Staatsbürgern aus. In Belarus wird ihr Schulabschluss nicht anerkannt. Also gehen die meisten von ihnen zum Studium ins Ausland.
Anna Karnei ist 20 Jahre alt, lebt in Belarus und bereitet sich aktuell auf ihr Studium in den USA vor. Sie möchte internationale Beziehungen und Konfliktmanagement studieren. Ihren Platz am renommierten Bennington College hat sie bereits sicher. Auf ihrem Weg dorthin hat die Wahl der Schule eine wichtige Rolle gespielt. Karnei gehört zu den wenigen Schülerinnen, die ihren Abschluss an dem verbotenen Gymnasium in Minsk gemacht hat - dem Kolas-Lyzeum.
"Bis zur siebten Klasse ging ich auf ein Gymnasium, wo der Unterricht eigentlich auf Belarussisch sein sollte. War er aber nicht. Erst als ich auf diese Schule kam, habe ich verstanden, was echte belarussische Bildung bedeutet. Es gibt hier eigene Lehrpläne. Es wird nach Lehrbüchern unterrichtet, die es in staatlichen Schulen heute nicht mehr gibt. Und die meisten unserer Lehrer waren Abgeordnete im belarussischen Parlament, bevor Lukaschenko an die Macht kam."
Schon zu Sowjetzeiten im Untergrund
Tatsächlich hat das Jakub Kolas-Gymnasium eine lange Tradition. Die Schule gab es bereits zu Sowjetzeiten, als kaum eine Schule in der sowjetischen Teilrepublik einen Unterricht in Belarussisch anbot. Schon damals wurde im Untergrund unterrichtet. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien die Zeit gekommen, an die "Oberfläche" zu treten. Anfang der 1990er Jahre bezog die Schule sogar ein repräsentatives Gebäude im Herzen der belarussischen Hauptstadt und avancierte zu einer der besten Bildungseinrichtungen des Landes. Doch dann kam Alexander Lukaschenko an die Macht. 1994 war das, seitdem ist der Prozess nationaler Selbstfindung wieder unterbrochen.
Nationales Bewusstsein unerwünscht
In seinem Streben nach einer Sowjetisierung der belarussischen Gesellschaft war dem Machthaber jede Art von Ausbildung eines nationalen Bewusstseins im Land zu wider. Bis 2003 konnte die Schule noch offiziell fortbestehen. Dann wurde sie verboten, der Schuldirektor sollte ausgetauscht und die Lehrpläne an das staatliche russischsprachige Programm angepasst werden. Wieder mussten Lehrer und Schüler abtauchen. Und das Gebäude, in dem sich die Schule bis dahin befand, wurde zum Gericht umfunktioniert, wo unter anderem auch Urteile gegen Lehrer des Gymnasiums gesprochen wurden, wenn diese wieder einmal von der Staatssicherheit ausfindig gemacht werden konnten.
Unterricht mal hier und mal da
In den folgenden zwei Jahren wechselte das Lyzeum öfter seinen Aufenthaltsort und wurde von den Sympathisanten schlicht "Partisanenschule" genannt. Privatwohnungen, Büroräume und selbst der Keller einer Kirche dienten zeitweilig als Unterrichtsorte. Seit 2005 ist es ein Haus am Stadtrand von Minsk. Seit dem führt das Gymnasium ein halblegales Dasein – zwar offiziell verboten, aber doch irgendwie geduldet. Zumindest sind keine weiteren Umzüge geplant, obwohl den Behörden der Aufenthaltsort in den letzten zehn Jahren kaum verborgen geblieben sein dürfte.
Belarus verliert sein intellektuelles Potenzial
Aus Sicht des Gründers und stellvertretenden Rektors des Gymnasiums Ljawon Borschewskij hat Belarus mit dem Verbot der Schule ein großes und unabhängiges intellektuelles Potenzial verloren. Das größte Problem des aktuellen belarussischen Bildungssystems bestehe darin, dass die Lehrer nur die offizielle politische Linie weitergeben, die von der Bevölkerung erfüllt werden solle, sagte Ljawon Borschewskij 2015 aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der Schule. "Die Schüler sind in diesem System einfach nur das letzte Glied", so Borschewskij weiter. "Sie können nicht wählen, haben nicht das Recht selbstständig zu denken."
Platz für nur 60 Schüler
Aber wie findet man Zugang zu dieser wundersamen Welt des aufgeklärten Wissens mitten in einem System, das blinden Gehorsam und Kritiklosigkeit fordert? "Meistens geht das von den Eltern auf", sagt Anna Karnei. "Mein Vater arbeitet bei Radio Freedom, ein kritischer Sender der von unserem Staat auch nicht gerade geliebt wird. Außerdem ging meine fünf Jahre ältere Schwester ebenfalls auf dieses Gymnasium, also wollte ich auch dorthin". Doch weil die Plätze in der Schule begrenzt sind – die letzten Jahrgänge hatten durchschnittlich 60 Schüler - müssen die Anwärter einen anspruchsvollen Test ablegen, der weit über die Inhalte der staatlichen Schulen hinausgeht. Dabei geht es vor allem um die belarussische Sprache, die Landesgeschichte und Literatur. Überhaupt wird auf dem Gymnasium großer Wert auf Humanwissenschaften gelegt. Dafür ist schon der Namenspatron ein guter Beleg – Jakub Kolas war ein belarussischer Volksdichter, Schriftsteller und Philologe.
Unterstützung aus Polen
Und auch wenn der Abschluss staatlich nicht anerkannt ist, fallen die Absolventen des Gymnasiums nicht aus dem belarussischen Bildungssystem heraus. Das weist nämlich eine Besonderheit auf: Kinder können in Belarus auch zu Hause unterrichtet werden und müssen dann nur noch die offizielle staatliche Prüfung ablegen. Genau davon profitieren auch die Untergrundschüler. Hinzu kommt ein eigener Abschluss, der am befreundeten International College im polnischen Danzig abgelegt wird. Hat man einen solchen erstmal in der Tasche, winken Stipendien für ein Studium an einer polnischen Uni und in weiterer Perspektive sogar eine polnische Staatsbürgerschaft. Viele Absolventen des Kolas-Gymnasiums entscheiden sich für diesen Weg.
"Ich hoffe, dass sich die Situation in Belarus bald ändert"
Bei Anna Karnei war das anders. Nach ihrem Schulabschluss vor drei Jahren ging sie zum Studium an das United World College in Armenien, um dann das Global Citizen Year in Ecuador zu absolvieren. Und nun ist das Bennington College in den USA an der Reihe. Ein Weg, der ohne das Untergrundgymnasium nicht möglich gewesen wäre, ist Karnei überzeugt. Welche Pläne sie auf lange Sicht hat? Darauf falle ihr die Antwort immer schwer, sagt die junge Kosmopolitin. "Ich glaube nicht, dass ich in Amerika bleiben werde, denn die dortige Mentalität passt nicht wirklich zu mir. Ich werde wohl zurück nach Europa kommen. Je älter ich werde, desto lieber möchte wieder in Belarus leben und das Land verändern. Auch wenn mir natürlich klar ist, dass es sehr schwer sein wird, solange die gleichen Leute an der Macht sind. Deswegen hoffe ich, dass sich die Situation bald ändert und ich nach dem Studium in ein freies Belarus kommen kann."
Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im TV: MDR | 03.03.2017 | 17:31 Uhr