Willkommen in "Stuttgrad" Die Plattenbausiedlung Studentski Grad
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06. Juli 2018, 08:33 Uhr
Was auf den ersten Blick wie eine triste Plattenbausiedlung anmutet, ist für die 30.000 Studenten, die in den 60 "Platten" an Sofias Stadtrand wohnen, Campus und Party-Meile zugleich - "der lebendigste Ort des Balkan".
Am Fuße des Vitoscha-Gebirges, knapp sieben Kilometer vom Zentrum der bulgarischen Hauptstadt Sofia entfernt, befindet sich eine heruntergekommene Plattenbausiedlung aus den 70er-Jahren: 60 Wohnblocks, meist acht Etagen hoch, von denen die Farbe schon vor vielen Jahren abgebröckelt ist. Durchzogen wird das Areal von holperigen Straßen, auf denen dreißig oder vierzig Jahre alte deutsche Autos parken - Mercedes, BMW, Audi.
An den Straßenecken stehen windschiefe Döner- und Bierbuden; in etlichen Erdgeschosswohnungen und ehemaligen Supermärkten haben sich Cafes, Discotheken und Nachtclubs etabliert. Sie heißen "Jim Beam", "Infinity", "Plaza" oder "Cotton Club". Aus den Etablissements dröhnt Musik und überall sind junge Leute, allesamt modisch gekleidet und mit großen Sonnenbrillen im Haar, zu sehen. Sie schlendern über die mit Müll übersäten Wiesen oder sitzen gut gelaunt in den Cafes herum. Die Plattenbausiedlung am Stadtrand ist gewissermaßen ihr Quartier. Sein Name: Studentskigrad, zu Deutsch Studentenstadt.
"Lebendigster Ort des Balkans"
Es ist europaweit ein einmaliger Ort. Mehr als 30.000 Studenten wohnen in Studentskigrad. Das Durchschnittsalter liegt bei 20 Jahren. Und was auf den ersten Blick wie eine Ansammlung trister Plattenbauten anmutet, ist für die Studenten Campus und Party-Meile in einem. Läden und Imbissbuden haben rund um die Uhr geöffnet, um die jungen Einwohner mit Bier und Burger, mit Kondomen und Klamotten zu versorgen. Und allabendlich öffnen Clubs, Discotheken und Konzerthallen ihre Türen und schließen erst im Morgengrauen wieder. Eine Sperrstunde gibt es in "Stuttgrad", wie die Studenten ihr Viertel nennen, nicht. "Es ist einfach ein toller Ort, um andere Studenten zu treffen, um mit ihnen zu reden und zu feiern", sagt Antoan Shotarow, Sprecher des Studentenrats, und fügt euphorisch hinzu: "Es ist der lebendigste Ort des Balkans."
Blasser Charme des Sozialismus
Die Wohnbedingungen der Studenten sind allerdings eher bescheiden. Die Zimmer der Plattenbauten sind winzig und unsaniert. Es herrscht der blasse Charme des Sozialismus. Meist teilen sich zwei Studenten ein Zimmer. Auf neun Quadratmetern sind zwei Betten, zwei kleine Schreibpulte, ein Regal und ein Schrank aneinandergezwängt. Das Mobiliar ist zerschlissen, die Teppiche ausgefranst. Dafür sind die Mieten selbst für bulgarische Verhältnisse unschlagbar günstig: 25 Euro monatlich für ein Bett im Doppelzimmer. Und wie die aussehen und eingerichtet sind, ist den meisten vollkommen egal: "Man ist doch eh kaum zu Hause", meint Antoan Shotarow.
Kneipe statt Bibliothek
Zum Studieren freilich ist Studentskigrad ein nicht eben übermäßig geeigneter Ort. Alles Mögliche sei hier vorhanden, nur keine akademische Atmosphäre, erzählen manche Studenten. Junge Menschen mit Büchern in den Händen oder vertieft in Dispute, suche man vergebens. Schreibtische seien hier nur eine Art verlängerter Tresen. Und so sei es denn auch gar nicht weiter verwunderlich, dass in den Räumlichkeiten, in denen eine Bibliothek eingerichtet werden sollte, schließlich eine Kneipe etabliert worden ist. Sie bringt natürlich auch viel mehr ein.
"Wir können nicht nur saufen!"
Denn natürlich geht es in Studentskigrad auch um viel Geld, das hier Nacht für Nacht umgesetzt wird. Aus ganz Bulgarien reisen Männer an, weil es hier Alkohol und Drogen und zudem etliche Studentinnen gibt, die sich ihr karges Stipendium durch diverse Dienste in den Nachtclubs aufbessern müssen. Seit einigen Jahren patrouilliert die Polizei jede Nacht verstärkt durch das Viertel und Sofias Stadtverwaltung fasste bereits eine nächtliche Ausgangssperre ins Auge, um den Exzessen im Studentenquartier ein Ende zu bereiten. "Totaler Quatsch", kommentierte ein Nachtclubbesitzer mit Goldkettchen am Handgelenk die Pläne, dann würden die Studenten eben in ihren Buden feiern.
Die Studenten selbst wehrten sich entschieden gegen den Vorwurf, nur Partys zu feiern, statt gewissenhaft zu studieren. "Wir können nicht nur saufen!", sagt Studentenvertreter Antoan Shotarow. "Was sollen wir denn sonst später machen, wenn wir jetzt nichts lernen?" Doch schon aus sehr naheliegenden Gründen sind sie gezwungen, einen gewissen Notendurchschnitt zu erzielen - denn nur Studenten mit guten Leistungen können in Studentskigrad ein Zimmer mieten. Wer den Notendurchschnitt nicht erreicht, muss sich anderswo eine Unterkunft suchen, beziehungsweise sein Zimmer räumen. Und das möchte nun tatsächlich kaum einer riskieren.
(zuerst veröffentlicht am 10.04.2013)
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Heute im Osten - Die Reportage: Leben in der Mega-Platte | 27.04.2013 | 18:00 Uhr