Estland Wird Narva die zweite Krim?
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20. September 2017, 12:03 Uhr
Im September hatten Russen und Weißrussen an der russischen Westgrenze das Militärmanöver "Sapad 2017" abgehalten. Die baltischen Länder beäugten das misstrauisch. Die estnische Stadt Narva grenzt an Russland. Über 90 Prozent der Einwohner dort gehören zur russischsprachigen Minderheit. Könnte Narva ein ähnliches Schicksal ereilen, wie 2014 die Halbinsel Krim?
Es waren starke Worte, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Hauptstadt Estlands am 23. August sprach - dem 78. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts und seiner Aufteilung des Baltikums und Polens unter der UdSSR, dem nationalsozialistischem Deutschland sowie – was hierzulande mitunter vergessen wird – dem 28. Jahrestag der noch zu Sowjetzeiten organisierten 600 Kilometer langen Menschenkette "Baltischer Weg" von Tallinn über Riga nach Vilnius: Dass sich die Russische Föderation zur "Schutzmacht" über Russischsprachige in welchem Ausland auch immer aufschwingt, nah oder fern, kann nicht hingenommen werden – weder in Deutschland (Stichwort "Fall Lisa") noch anderswo, sprich: Estland, aber auch Ukraine, Lettland, Moldova, Kasachstan und Litauen. Das hat man von diesem Redner in seiner früheren Funktion als Außenminister in dieser Klarheit nicht gehört. Der Kontext dieser Rede war natürlich die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, vom Redner genannt, und die russische Militärintervenion im ostukrainischen Donbass.
"Is Narva next?"
Aber ist das mit Blick auf das kleine und wehrlose Estland wirklich das eigentliche Problem beziehungsweise, um zahlreiche internationale Medien zu zitieren: "Is Narva next?" Ist also die drittgrößte Stadt des EU- und NATO-Mitgliedstaats, gelegen unmittelbar an der Grenze zur RussischenFöderation und mit einem Bevölkerungsanteil von über 90 Prozent Russischsprachigen, nach den beiden ukrainischen Territorien das nächste Interventions- und Annexionsziel Putinscher Expansionspolitik?
Wohl kaum. Denn anders als im Falle von Georgien und der Ukraine bekäme es Moskau erstmals unmittelbar mit der NATO zu tun, die im estnischen Ämari die nicht existente Luftwaffe des Landes ersetzt, darunter mit deutscher Beteiligung, und in Tapa britische Bodentruppen stationiert hat. Einen solchen Stolperdraht, und sei er auch noch so dünn, niederzutrampeln, würde zwangsläufig eine robuste militärische Antwort des transatlantischen Bündnisses provozieren. Narva und sein gleichfalls russischsprachiges Umland hat überdies keine strategische Bedeutung. Hinzu kommt, dass die Ausbeutung der dort befindlichen Ölschieferaufkommen und ihre Umwandlung in Energie eine hochgradig unökonomische Umweltkatastrophe ist, wie die russischsprachige Bevölkerungsmehrheit dort zu großen Teilen entweder alt oder arbeitslos oder als Arbeitsmigranten in der EU tätig ist. Mit anderen Worten Russland würde sich hier nach Krim und Ostukraine einen weiteren Klotz ans Bein binden.
Stadt mit intellektueller Elite
Dennoch ist Narva keine sterbende Stadt, auch wenn die Zahl ihrer vormals 90.000, heute wohl nur noch 50.000 Einwohner auch weiterhin jährlich um 1.000 abnimmt. Dafür gibt es zwei Gründe: Der eine ist, dass das Ende der Sowjetdiktatur 1991 die intellektuelle Elite sowohl Narvaer Russischsprachiger (was neben Russen auch Ukrainer, Belarussen und andere einschließt) als auch Vertreter der mit rund vier Prozent winzigen estnischen Minderheit dort motiviert hat, die Chancen der neuen Zeit zu nutzen. Unterstützung dafür gab es seitens der neuen Zentralregierung in Tallinn zumindest indirekt, so durch die 1999 erfolgte Gründung des Narva College, einer Außenstelle der estnischen Traditionsuniversität Tartu. Das architektonisch avantgardistische Gebäude dieser Bildungseinrichtung steht in unmittelbarer Nachbarschaft des barocken Rathauses aus dem 17. Jahrhundert und zahlreicher "Chruschtschow-Blocks" sowie in Sichtweite der mittelalterlichen Hermannsfeste und eines hässlichen Hochhausbaus aus der Zeit der "goldenen Stagnation" unter Breschnew. Das College fungiert somit inmitten von Historie und postsowjetischer Tristesse als raumschiffartige Außenstelle des hyperdigitalisierten High Tech-Staates Estland.
Parteiübergreifende Kooperation
Der andere Grund ist generationeller Art: In Narva haben viele Einwohner die Implosion des diktatorischen Sowjetregimes als veritable Befreiung empfunden. Diese über Parteigrenzen hinweg kooperierende generationelle Gruppe ist sich auf vielfältige Weise persönlich verbunden: Der amtierende Narvaer Bürgermeister Tarmo Tammiste von der konservativen Zentrumspartei ist gleich seiner liberalen Konkurrentin Katri Raik Este. Sie ist derzeit Rektorin der Sicherheitsakademie Estlands in Tallinn und wie er Absolvent der Universität Tartu. Sein Stellvertreter Wjatscheslaw Konowalow ist Russe und war zu Raiks Zeiten als Gründungsrektor des Narva Colleges Dozent für Englisch dort. Für den Tag nach der Bürgermeisterwahl am 15. Oktober haben sie sich unabhängig vom Ausgang zum Abendessen verabredet.
Gräben überwinden
In der Tat: "Narva is next", wenn es um die Überbrückung des kulturellen Grabens zwischen den beiden großen Bevölkerungsgruppen des kleinen Landes geht. Das was hier bereits im Gelingen befindlich ist, wird auf das ganze Land ausstrahlen, nicht zuletzt auf die Hauptstadt, in der die urbanistische Grenze zwischen spätsowjetisch-russophonen "Mikrorayons" und anderen Stadtteilen wenn nicht sozial, so doch kulturell wie politisch durchlässig wird.
Der an der EU- und NATO-Ostgrenze gelegene Kleinstaat Estland, dessen Wohnbevölkerung neben der estnischen Staatsangehörigkeit und der Staatenlosigkeit auch die Staatsangehörigkeit der benachbarten Russländischen Föderation hat, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Konfrontation globalen Maßstabs regional und lokal reduziert werden kann.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: FERNSEHEN | 23.08.2017 | 17:45 Uhr