SS-Veteranen: Helden oder Verbrecher?
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16. März 2017, 12:20 Uhr
Am 16. März wird in Lettland der "Tag der Legionäre" begangen. Erinnert wird an die Veteranen, die einst in der SS dienten. Der Gedenktag veranschaulicht den komplizierten Umgang mit der lettischen Geschichte.
Jeden 16. März liegt ein Teppich aus roten und weißen Blumen vor der Rigaer Freiheitsstatue. Niedergelegt werden die Blumen in den lettischen Landesfarben überwiegend von greisen Männern, viele sind älter als 90 Jahre. Es sind lettische Kriegsveteranen, begleitet von hunderten Nachkommen und Sympathisanten. Der Gedenkmarsch für Gefallene zieht jährlich von der Rigaer Johanniskirche zur Freiheitsstatue inmitten durch die lettische Hauptstadt. Polizisten müssen ihn begleiten, da es zu heftigen Protesten gegen den Marsch kommt. Denn die Veteranen dienten nicht in einer regulären lettischen Armee, sondern gehörten zur Waffen-SS.
Von einem "sensiblen Thema" spricht daher der lettische Journalist Ģirts Vikmanis. Denn über den "Tag der Legionäre" am 16. März herrscht in Lettland keine Einigkeit, wie auch über die Geschichte der lettischen SS-Legionen selbst. "Die einen wollen der Gefallenen gedenken, manche feiern sie als Helden, andere dagegen sehen sie als Nazis", beobachtet Vikmanis. "Historiker haben dagegen das Thema längst aufgearbeitet", konstatiert Jānis Tomaševskis, Mitarbeiter im Rigaer Kriegsmuseum. Der jährliche Gedenkmarsch und auch die Gegendemonstrationen seien vielmehr ein Spielball der Politik, glaubt er.
Denn unbestritten ist, dass rund 150.000 lettische Männer im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Deutschen kämpften. Neben einigen Freiwilligen, die sich schon seit 1941 für den berüchtigten Sicherheitsdienst (SD) meldeten, erhielten die meisten "Legionäre" ihren "Iesaukšanas pavēle" – den Einberufungsbefehl – 1943 oder später. Denn erst nach der Niederlage von Stalingrad befahl Hitler die Aufstellung einer lettischen SS-Freiwilligenlegion aus Zwangsrekrutierten. Die beiden Panzergrenadierdivisionen wurden bei schweren Kämpfen stark aufgerieben. Insgesamt rund 40.000 Letten in SS-Uniform fielen im Krieg, unzählige davon im Kurlandkessel, wo die Wehrmacht bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 gegen die Rote Armee kämpfte.
Freiwillige und Zwangsrekruten
Auch am 16. März 1944 war es eine der größeren Schlachten zwischen den deutsch-lettischen und sowjetischen Verbänden und der Tag wurde von den Überlebenden als "Leģionāru piemiņas diena" (Gedenktag der Legionäre) benannt. Aus nahezu allen lettischen Familien wurden Männer in die "Legion" rekrutiert und so hat jener Gedenktag für viele Letten eine private Bedeutung. Jedoch leben in dem Land an der Ostsee fast ein Drittel Russischstämmige, die Erinnerung wird damit kompliziert. "Manchmal wurde der eine Sohn in die SS und der andere in die Rote Armee eingezogen", erklärt Journalist Vikmanis. Und viele derjenigen, die in den SS-Verbänden kämpften, sahen den Krieg gegen die Rote Armee als einen Kampf um das eigene Land, ergänzt Tomaševskis. "Sie dachten, wenn wir mit den Deutschen gegen die Sowjets kämpfen, bekommen wir später unsere Unabhängigkeit zurück."
Der historische Kontext macht das klarer: Die erste Unabhängigkeit konnte das Land erst 1918 erklären. Im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts wurde das Land 1940 von der Roten Armee besetzt. Es setzten Deportationen und Erschießungen ein, rund 40.000 Letten wurde nach Sibirien verschleppt. Als die Wehrmacht 1941 in Riga einmarschierte, wurde sie als Befreier bejubelt und von den Letten mit Blumen begrüßt. Jene Wochenschau-Szenen wirken ohne Kenntnis des historischen Kontexts verstörend.
Denn als Nazi-Kollaborateure betrachteten sich die wenigsten der lettischen "Legionäre", vielmehr als Freiheitskämpfer gegen eine weitere sowjetische Besatzung. Mit dem Kriegsende kam diese in der Tat erneut über Lettland, wie über die beiden baltischen Nachbarn Litauen und Estland. Der Großteil der "Legionäre" kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft, die viele nicht überlebten und das Thema wurde tabuisiert. "Während der sowjetischen Besatzung gab es in der sowjetisch-lettischen Terminologie nicht einmal das Wort 'lettische Legionen'", weiß Historiker Tomaševskis. "Denn alle, die mit den Deutschen kollaborierten, galten als böse."
Komplizierte Erinnerung
Zwar wurde bei den Nürnberger Prozessen die SS als "kriminelle Organisation" eingestuft, die zwangsrekrutierten lettischen SS-Angehörigen wurden dabei jedoch ausgenommen. Zur komplizierten Wahrheit der lettischen SS-Verbände zählt jedoch auch, dass ebenso jene lettischen Strafkommandos des Sicherheitsdienstes (SD) in die "Legionen" integriert wurden, die zuvor beim Massenmord an den Juden beteiligt waren. Gerade deswegen stößt das Gedenken am 16. März auf Protest: Jüdische Verbände, aber auch antifaschistische Organisationen formieren sich alljährlich gegen den "Marsch der SS-Veteranen", wie Zeitungen das Gedenken betiteln.
Zwischenzeitlich, nämlich 1998, war der 16. März sogar ein offizieller Feiertag, mittlerweile aber hält sich die Regierung aus dem umstrittenen Gedenken heraus und untersagt den eigenen Mitgliedern die Teilnahme. Zuletzt kassierte 2014 ein Minister seine Entlassung, weil er selbst mitmarschieren wollte. Rechte, nationalistische Kreise nutzen das Gedenken aus, aber ebenso vermeintlich antifaschistische Gruppen. 2016 tauchte etwa der umstrittene, als kremltreu geltende Journalist Graham Phillips während der Blumenniederlegung am Rigaer Freiheitsdenkmal auf und wurde nach einem provokanten Auftreten von der Polizei abgeführt.
Doch es scheint so, dass die meisten Letten die Politisierung des 16. März satt haben. "Das Gedenken ist kompliziert", sagt Soziologin Vita Zelče von der Rigaer Universität. Und dass es die russischstämmige Bevölkerung von den Letten entzweit, zeigen neueste Untersuchungen, die sie zitiert. Demnach begehen elf Prozent der Letten und vier Prozent der Russischstämmigen den 16. März bewusst als Gedenktag. Beim 9. Mai, dem "Tag des Sieges", sieht es genau umgekehrt aus: Für zehn Prozent der Letten hat er eine Bedeutung, während es unter den Russischstämmigen 72 Prozent sind.
Markus Nowak, 1982 geboren, Studium der Neueren/Neusten Geschichte in Berlin, Warschau und Mailand, Redakteursausbildung am Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses (München) und in der Katholischen Nachrichten-Agentur (Bonn), lebt als freier Autor in Berlin