Exhumierung der Smolensk-Opfer verstößt gegen Menschenrechte

20. September 2018, 12:46 Uhr

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die Exhumierung der Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk gegen die Menschenrechte verstößt. Die Bewertung der Katastrophe spaltet seit Jahren die polnische Öffentlichkeit.

Das Gericht in Straßburg urteilte am Donnerstag, dass die Exhumierung der Opfer ohne die Einwilligung der Familien gegen Artikel 8 der Menschenrechtskonvention verstößt. Daher muss die polnische Regierung nun jeweils 16.000 Euro Entschädigung an zwei Hinterbliebene zahlen, die gemeinsam vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Exhumierung geklagt hatten.

Exhumierung entfacht emotionale Debatte

Im November 2016 hatte die polnische Staatsanwaltschaft veranlasst alle 96 Todesopfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk exhumieren zu lassen, darunter der ehemalige Präsident Polens, Lech Kaczyński. Dessen Zwillingsbruder und Vorsitzender der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), Jarosław Kaczyński, hat die Exhumierung maßgeblich vorangetrieben.

Kaczyński zweifelt seit Jahren am offiziellen Bericht zur Absturzursache der Regierungsmaschine und spekulierte immer wieder öffentlich über eine Beteiligung Russlands an dem Absturz. Die Regierungsmaschine vom Typ Tupolew Tu-154M war am 10. April 2010 Landeanflug auf den Militärflughafen Smolensk-Nord in Belarus in einem Waldstück zerschellt.

Laut dem offiziellen Abschlussbericht der polnischen Untersuchungskommission hatte die Besatzung bei extrem dichtem Nebel einen falschen Höhenmesser benutzt und die wiederholte Aufforderung des Bordcomputers zum Hochziehen der Maschine ignoriert. Auch eine Mitschuld der belarussischen Anflugkontrolle, die die Piloten ebenfalls zu spät zum Abbruch des Landeanflugs aufgefordert hatte, stellte der Bericht fest.

Schmerzhafte historische Parallelen

Bei dem Absturz kamen 96 Menschen ums Leben, die Teil einer offiziellen Regierungsdelegation waren. Darunter der polnische Präsident Lech Kaczyński und seine Frau Maria, mehrere Regierungsmitglieder, Parlamentsangeordnete, hochrangige Militärs, sowie Vertreter von Kirche und Zivilgesellschaft.

Die Delegation war auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung für die Opfer des so genannten "Massakers von Katyn". Dabei hatten im April und Mai 1940 Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes NKWD auf Befehl Stalins schätzungsweise 4.400 hochrangige Militärs erschossen. Daneben gab es eine Reihe anderer Massenmorde an polnischen Politikern, Beamten und anderen Mitglieder der polnischen Elite mit bis zu 25.000 Opfern.

Regierungspartei nährt Verschwörungstheorien 

Die Massaker gelten als eines der nationalen Traumata Polens, wodurch der Absturz der Delegation im Jahr 2010 eine emotionale Debatte auslöste und diverse Verschwörungstheorien im Umlauf sind, insbesondere unter Anhängern der Regierungspartei PiS. Auch hochrangige Parteifunktionäre haben den offiziellen Absturzbericht während ihrer Oppositionszeit öffentlich angezweifelt und sprachen von einem "Attentat" unter Beteiligung russischer Geheimdienste.

Nach dem Wahlsieg der PiS im Oktober 2015 setzte die Regierung eine neue Untersuchungskommission ein und veranlasste die Exhumierung der Opfer. Dabei wurde entdeckt, dass in einigen Fällen Leichenteile vertauscht wurden. Indizien für einen Anschlag oder andere Absturzursache wurden jedoch nicht gefunden. Der Abschlussbericht der neuen Untersuchungskommission steht noch aus.

(ahe/afp)

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im: Radio | 10.04.2017 | 08:45 Uhr