Georgien Ernüchterter Musterknabe

14. Juli 2017, 13:59 Uhr

Bei der Parlamentswahl in Georgien hat die regierende Partei offenbar das Rennen gemacht. 25 Jahre nach der Unabhängigkeit blickt das Land hoffnungsvoll nach Westen. Doch die EU verhält sich zögerlich.

Hupend rasen die Taxen von der Rustaweli-Allee in den Kreisverkehr am zentralen Freiheitsplatz in der Hauptstadt Tbilisi. Rund um den Platz wechseln sich in Gerüste gehüllte Fassaden mit renovierten Häusern ab. An einer Fassade prangt in brandneuen glänzenden Lettern: "Information Centre on NATO and EU".

Ein Beitritt zur Europäischen Union und dem Verteidigungsbündnis ist das erklärte Ziel nahezu aller georgischen Parteien. "Das hat hier oberste Priorität und wird langfristig auch als realistisch angesehen", sagt Julia Bläsius. Sie leitet das Regionalbüro Südkaukasus der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).

Grafik Georgien 1 min
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Die ehemalige Sowjetrepublik ist seit 1991 unabhängig. In Georgien, das ungefähr so groß ist wie Österreich, leben 3,7 Millionen Menschen - etwa so viele wie in Berlin.

Fr 08.07.2016 14:31Uhr 00:35 min

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Ambitioniertes Reformprogramm

Erste EU-Beitrittswünsche gab es, wie in vielen postsowjetischen Ländern, direkt nach dem Ende des Kalten Krieges. Doch erst mit der sogenannten "Rosenrevolution" von 2003 nahmen die Pläne Fahrt auf. Der damals neue amtierende Premierminister Mikheil Saakashvili setzte ein ambitioniertes Reformprogramm auf.

Die zutiefst korrupte Polizei und Justiz wurden fast komplett neu aufgebaut. Viele Köpfe des allgegenwärtigen organisierten Verbrechens landeten im Gefängnis oder flohen nach Europa. Auch die Wirtschaft erlebte in den Anfangsjahren der Regierung Saakashvili einen Aufschwung.

Neue Stadtverwaltung im neuen Glanz

Blick auf das Zentrum von Tiblissi
Blick auf Tbilisi: Das Gebäude mit weißem Dach ist die neue Stadtverwaltung. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel

Ein paar Gehminuten vom Freiheitsplatz erhebt sich direkt am Flussufer die gläserne Fassade der neuen Stadtverwaltung. Darüber fächert sich die weiße Dachkonstruktion kunstvoll zu einer Art Pilzgeflecht auf. Drinnen herrscht maximale Transparenz. Alle Arbeitsplätze sind offen einsehbar. Freundliche junge Frauen und Männer beraten ankommende Bürger direkt an der Tür: auf Georgisch, Russisch und Englisch. Amtsgänge dauern nur wenige Minuten.

Der lange Weg zur EU

Georgiens Ambitionen wurden in Brüssel mit Wohlwollen aufgenommen. Seit 2009 ist das Land Mitglied der "Östlichen Partnerschaft", seit 2014 in der europäischen Freihandelszone. Dieses Jahr trat das Assoziierungsabkommen in Kraft, das ähnlich wie bei der Ukraine und der Republik Moldau ursprünglich als eine Art Vorläufer zu Beitragsverhandlungen gedacht war.

"Einige Ergebnisse sind schon sichtbar", sagt Janos Herman, seit 2014 Botschafter der Europäischen Union in Tbilisi, tritt aber zugleich auf die Bremse: "Es geht um mehr als bloße Zusammenarbeit. Das erfordert einen großen Transformationsprozess in der georgischen Wirtschaft und Gesellschaft."

Osteuropa

Georgien: Land im Wandel

2016 schloss die EU ein Assoziierungsabkommen mit Georgien, um das Land näher an sich zu binden. Doch was für ein Land ist Georgien?

Tbilisi, Hauptstadt von Georgien
Die georgische Hauptstadt Tbilissi ist eine Stadt zwischen den Welten. Gelegen im Schnittpunkt zwischen Europa, Russland und dem Nahen Osten, hat das Land einen einzigartigen Kulturmix. Land und Hauptstadt suchen gerade ihren Platz in der Moderne. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Tbilisi, Hauptstadt von Georgien
Die georgische Hauptstadt Tbilissi ist eine Stadt zwischen den Welten. Gelegen im Schnittpunkt zwischen Europa, Russland und dem Nahen Osten, hat das Land einen einzigartigen Kulturmix. Land und Hauptstadt suchen gerade ihren Platz in der Moderne. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Typische Gasse in der Altstadt von Tbilisi
Eine typische Gasse in der Altstadt von Tbilissi. Stilprägend sind die ausladenden Balkone, auf denen sich ein Großteil des Lebens abspielt. Auch der Farb- und Stilmix sowie die wilde Bauweise prägen das Stadtbild. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Flohmarkt in Tbilisi
Es wird mit allem gehandelt in Georgien. Wie hier auf einem der berühmtesten Flohmärkte der Stadt an der "Trockenen Brücke". Das ganze Jahr über gibt es hier alles von der gebrauchten Sicherung über sowjetische Offizierstaschen bis hin zu Ölgemälden. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Markt  in Tbilisi
Aber die eigentliche Leidenschaft der Georgier ist das Essen. Das Land ist reich an ertragreicher Schwarzerde, das Klima ist mild und die Auswahl an Obst, Gemüse und vor allem Nüssen riesig. Nicht zu vergessen: georgischer Wein und "Chacha“", eine Art starker Grappa. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Das Pankisi-Tal in Georgien
Das meiste davon wächst in den Tälern des Kaukasus, dessen Gipfel im Norden mehr als 5.000 Meter hoch sind. Wie etwa im Pankisi-Tal, nahe der Grenze zu Tschetschenien. Die Gegend ist wunderschön, aber auch von Armut gekennzeichnet. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Ein Schweißer in Georgien bildet Menschen aus
Die staatliche Infrastruktur im Pankisi-Tal ist mangelhaft. Und so behelfen sich die Menschen selbst. So wie dieser Mann, der in der Sowjetunion Schweißer beim Militär war. Heute bildet er in seinem Hinterhof kostenlos junge Männer aus dem Tal aus. Die Alternativen wären Tierzucht oder Arbeitslosigkeit. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Die georgische Grenze zu den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien
Neben den wirtschaftlichen Schwierigkeiten macht Georgien vor allem die politische Lage zu schaffen. Konkret: der Dauerkonflikt mit den abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien. Den Krieg darum mit Russland verlor Georgien. Seitdem verläuft eine Grenze zwischen den Landesteilen. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Mitarbietr der European Monitoring Mission (EUMM)
Überwacht wird der Frieden auch von Mitarbeitern der European Monitoring Mission (EUMM). Sie beobachten bei ihren täglichen Patrouillen, was an der Grenze passiert und schreiben Berichte darüber. Die Einheimischen sind ihnen überaus wohlgesonnen und immer zu einem Gespräch bereit. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel
Lkws warten kilometerweit am Straßenrand an der Grenze zu Russland
Die Beziehung zu Russland bleibt weiter angespannt, auch wenn viele Touristen über die nahe Grenze kommen. Umgekehrt ist das Reisen schwerer. Selbst Lkw, die Waren exportieren, müssen regelmäßig Tage oder Wochen an der Grenze auf eine Genehmigung für die Fahrt nach Russland warten. So wie hier: 1.600 Meter über dem Meeresspiegel auf der Heeresstraße nahe Stepantsminda.
(Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV: 25.08.2018 | 19:30 Uhr.)
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Wettlauf gegen den Verfall

Tiblissi
An manchen Stellen der Altstadt von Tbilisi sieht man nur den Verfall. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel

In der hügeligen Altstadt ist die Transformation im vollen Gange. In ganzen Straßenzügen erstrahlen die Fassaden und allgegenwärtigen Balkone in farbenfrohem Glanz. Doch wenige Ecken weiter zeigt sich die desaströse Substanz der Stadt: Wohnhäuser, in denen ganze Etagen abgesackt sind, die nur von Stahlstreben und viel Phantasie zusammen gehalten werden oder bereits komplett eingestürzt sind. Die Restaurierung der Altstadt ist auch ein Wettlauf gegen den Verfall.

Das Geld dazu soll vor allem aus dem Tourismus und der Landwirtschaft kommen. Die Schwarzerde in Georgien ist ertragreich, das Klima mediterran-mild und der Wein ausgezeichnet. "Georgien ist aber einfach nicht wettbewerbsfähig, gerade im Agrarsektor", konstatiert Julia Bläsius von der FES kühl. Die Produktionsmengen sind zu klein, die Qualität zu schwankend, der Transport zu teuer.

Visumpflicht für Georgier

Ein Mann vor einigen Kisten mit Pflaumen
Weite Teile der Bevölkerung leben weiterhin von der Landwirtschaft. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel

Der Tourismus nach Georgien nimmt zu, jedoch auf niedrigem Niveau. Meist sind es abenteuerlustige Individual- oder zahlungskräftige Ökotouristen, die die traumhafte Landschaft zu schätzen wissen. Umgekehrt zieht es viele Georgier nach Europa. Aber anders als ihre Gäste brauchen sie für den Gegenbesuch ein Visum.

Dabei sollte die Visumspflicht für Georgier bereits im Mai dieses Jahres aufgehoben werden. Ein halbes Jahr zuvor sprach die EU-Kommission eine Empfehlung aus. Doch in letzter Sekunde wurde das Vorhaben im Europäischen Rat gestoppt.

Bayern stellte sich quer

Ein Mann befestigt eine EU-Flagge auf einem Auto
Die Flagge und die EU sind in Georgien enorm beliebt. Bildrechte: MDR/Alexander Hertel

Der maßgebliche Widerstand kam aus Bayern. Dort stellte Innenminister Joachim Hermann (CSU) die Behauptung auf, georgische Diebesbanden begingen in Deutschland mehr Straftaten als alle anderen Ausländergruppen. Die statistisch umstrittene Anschuldigung traf viele Georgier tief. Auf die Enttäuschung folgte Wut.

"Niemand hat das erwartet. Man hat auch die Glaubwürdigkeit der EU in Frage gestellt", erinnert sich Julia Bläsius von der FES. "Und das, obwohl man den ambitionierten Anforderungskatalog erfüllt hat und eine Art Musterschüler war." Und so mache sich langsam Ernüchterung breit.

Verriegelt und gähnende Leere

Nähern sich Besucher dem EU-Informationszentrum am Freiheitsplatz, können sie durch die raumhohen Fenster nur gähnende Leere erspähen. Die Türen sind verriegelt. Warum, weiß nicht einmal EU-Botschafter Janos Herman: "Eigentlich sollte das bereits geöffnet sein."