Georgien Ernüchterter Musterknabe
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14. Juli 2017, 13:59 Uhr
Bei der Parlamentswahl in Georgien hat die regierende Partei offenbar das Rennen gemacht. 25 Jahre nach der Unabhängigkeit blickt das Land hoffnungsvoll nach Westen. Doch die EU verhält sich zögerlich.
Hupend rasen die Taxen von der Rustaweli-Allee in den Kreisverkehr am zentralen Freiheitsplatz in der Hauptstadt Tbilisi. Rund um den Platz wechseln sich in Gerüste gehüllte Fassaden mit renovierten Häusern ab. An einer Fassade prangt in brandneuen glänzenden Lettern: "Information Centre on NATO and EU".
Ein Beitritt zur Europäischen Union und dem Verteidigungsbündnis ist das erklärte Ziel nahezu aller georgischen Parteien. "Das hat hier oberste Priorität und wird langfristig auch als realistisch angesehen", sagt Julia Bläsius. Sie leitet das Regionalbüro Südkaukasus der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).
Ambitioniertes Reformprogramm
Erste EU-Beitrittswünsche gab es, wie in vielen postsowjetischen Ländern, direkt nach dem Ende des Kalten Krieges. Doch erst mit der sogenannten "Rosenrevolution" von 2003 nahmen die Pläne Fahrt auf. Der damals neue amtierende Premierminister Mikheil Saakashvili setzte ein ambitioniertes Reformprogramm auf.
Die zutiefst korrupte Polizei und Justiz wurden fast komplett neu aufgebaut. Viele Köpfe des allgegenwärtigen organisierten Verbrechens landeten im Gefängnis oder flohen nach Europa. Auch die Wirtschaft erlebte in den Anfangsjahren der Regierung Saakashvili einen Aufschwung.
Neue Stadtverwaltung im neuen Glanz
Ein paar Gehminuten vom Freiheitsplatz erhebt sich direkt am Flussufer die gläserne Fassade der neuen Stadtverwaltung. Darüber fächert sich die weiße Dachkonstruktion kunstvoll zu einer Art Pilzgeflecht auf. Drinnen herrscht maximale Transparenz. Alle Arbeitsplätze sind offen einsehbar. Freundliche junge Frauen und Männer beraten ankommende Bürger direkt an der Tür: auf Georgisch, Russisch und Englisch. Amtsgänge dauern nur wenige Minuten.
Der lange Weg zur EU
Georgiens Ambitionen wurden in Brüssel mit Wohlwollen aufgenommen. Seit 2009 ist das Land Mitglied der "Östlichen Partnerschaft", seit 2014 in der europäischen Freihandelszone. Dieses Jahr trat das Assoziierungsabkommen in Kraft, das ähnlich wie bei der Ukraine und der Republik Moldau ursprünglich als eine Art Vorläufer zu Beitragsverhandlungen gedacht war.
"Einige Ergebnisse sind schon sichtbar", sagt Janos Herman, seit 2014 Botschafter der Europäischen Union in Tbilisi, tritt aber zugleich auf die Bremse: "Es geht um mehr als bloße Zusammenarbeit. Das erfordert einen großen Transformationsprozess in der georgischen Wirtschaft und Gesellschaft."
Wettlauf gegen den Verfall
In der hügeligen Altstadt ist die Transformation im vollen Gange. In ganzen Straßenzügen erstrahlen die Fassaden und allgegenwärtigen Balkone in farbenfrohem Glanz. Doch wenige Ecken weiter zeigt sich die desaströse Substanz der Stadt: Wohnhäuser, in denen ganze Etagen abgesackt sind, die nur von Stahlstreben und viel Phantasie zusammen gehalten werden oder bereits komplett eingestürzt sind. Die Restaurierung der Altstadt ist auch ein Wettlauf gegen den Verfall.
Das Geld dazu soll vor allem aus dem Tourismus und der Landwirtschaft kommen. Die Schwarzerde in Georgien ist ertragreich, das Klima mediterran-mild und der Wein ausgezeichnet. "Georgien ist aber einfach nicht wettbewerbsfähig, gerade im Agrarsektor", konstatiert Julia Bläsius von der FES kühl. Die Produktionsmengen sind zu klein, die Qualität zu schwankend, der Transport zu teuer.
Visumpflicht für Georgier
Der Tourismus nach Georgien nimmt zu, jedoch auf niedrigem Niveau. Meist sind es abenteuerlustige Individual- oder zahlungskräftige Ökotouristen, die die traumhafte Landschaft zu schätzen wissen. Umgekehrt zieht es viele Georgier nach Europa. Aber anders als ihre Gäste brauchen sie für den Gegenbesuch ein Visum.
Dabei sollte die Visumspflicht für Georgier bereits im Mai dieses Jahres aufgehoben werden. Ein halbes Jahr zuvor sprach die EU-Kommission eine Empfehlung aus. Doch in letzter Sekunde wurde das Vorhaben im Europäischen Rat gestoppt.
Bayern stellte sich quer
Der maßgebliche Widerstand kam aus Bayern. Dort stellte Innenminister Joachim Hermann (CSU) die Behauptung auf, georgische Diebesbanden begingen in Deutschland mehr Straftaten als alle anderen Ausländergruppen. Die statistisch umstrittene Anschuldigung traf viele Georgier tief. Auf die Enttäuschung folgte Wut.
"Niemand hat das erwartet. Man hat auch die Glaubwürdigkeit der EU in Frage gestellt", erinnert sich Julia Bläsius von der FES. "Und das, obwohl man den ambitionierten Anforderungskatalog erfüllt hat und eine Art Musterschüler war." Und so mache sich langsam Ernüchterung breit.
Verriegelt und gähnende Leere
Nähern sich Besucher dem EU-Informationszentrum am Freiheitsplatz, können sie durch die raumhohen Fenster nur gähnende Leere erspähen. Die Türen sind verriegelt. Warum, weiß nicht einmal EU-Botschafter Janos Herman: "Eigentlich sollte das bereits geöffnet sein."