20 Jahre Jahrtausendflut: Als das Hochwasser nach Breslau kam
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12. Juli 2017, 15:57 Uhr
Wie in Deutschland verwüstete auch in Polen das Oderhochwasser von 1997 ganze Landstriche. 56 Menschen starben, tausende Wohnungen wurden zerstört. Die Katastrophe brachte die Menschen aber auch näher zusammen.
12. Juli 1997: Ganz Breslau bereitet sich auf die große Flutwelle vor, die in der Nacht die Stadt erreichen soll. Aus dem Fernsehen wissen die Einwohner, welch verheerende Kraft da auf sie zukommt: Die Städte Opole und Raciborz wurden bereits von den, aus Süden herannahenden Wassermassen überrollt. Man will besser vorbereitet sein.
Fieberhaft befüllen die Einwohner Sandsäcke und errichten notdürftige Wälle, um wenigstens den historischen Komplex auf der Halbinsel Ostrow Tumski zu retten. Auch die damals 56-jährige Agnieszka Dubaniowska beteiligt sich an den Arbeiten. Sie will nicht untätig, alleine mit ihrer Angst zu Hause sitzen, während sie auf die Katastrophe wartet.
Wasser aus dem Nichts
Sie steht in der Nähe des Oderufers und befüllt Sandsäcke, als sie plötzlich feststellt, dass ihre Füße nass sind. Das Wasser kommt wie aus dem Nichts, als hätte es sich unbemerkt in die 600.000-Einwohner-Stadt geschlichen. Einen Augenblick später reicht es ihr schon bis an die Knöchel.
Die 56-jährige Ingenieurin weiß, dass es jetzt an der Zeit ist, so schnell wie möglich nach Hause zu gehen. Sie hat die Todesopfer im Hinterkopf, die die Fluten bereits gefordert haben. Zu ihrer zentrumsnahen Wohnung in der Miernicza-Straße sind es knapp zwei Kilometer. Sie muss sich beeilen.
Höchster Wasserstand aller Zeiten
Vom 3. bis zum 10. Juli 1997 hat es im Süden Polens, sowie in Tschechien und Österreich über Tage hinweg heftig geregnet. Dadurch hat die Oder im Juli dieses Jahres den höchsten Wasserstand, der je registriert wurde. In Polen wird das Ereignis deshalb als Jahrtausendhochwasser bezeichnet. Die Wassermassen verwüsteten in Tschechien, Deutschland und Polen ganze Dörfer und Städte. 114 Menschen verlieren in den Fluten ihr Leben, 56 davon in Polen.
In dem Dorf Blota, 40 Kilometer südlich von Breslau, schlägt das Hochwasser besonders erbarmungslos zu. Der Ort ist sehr tief gelegen. In der Nacht vom 10. auf 11. Juli fährt jemand mit einem Megafon durch das 400-Seelen-Dorf und ruft die Einwohner auf, zu fliehen. Einige bleiben dennoch zurück. Am Morgen des 11. Juli reißt das Wasser Häuser, Autos und Tiere mit.
Helfende Nachbarn überall
Agnieszka Dubaniowska rennt jetzt. Zumindest versucht sie das, doch inzwischen reicht ihr das Wasser schon bis zu den Schenkeln. Sie hat Angst, als sie merkt, wie schnell der Pegel steigt. Als sie zu Hause ankommt, trifft sie die Nachbarn im Treppenhaus. Die helfen, die Möbel und Elektrogeräte aus dem Parterre in den ersten Stock zu bringen. Die Bewohner der Erdgeschoss-Wohnung müssen zusehen, wie ihre Wohnung trotz Schutzmaßnahmen mit Wasser vollläuft. Einen halben Meter ist es hoch.
Sie kommen bei den Nachbarn unter. Alle helfen sich gegenseitig. Dubionowska hat sich noch rechtzeitig mit Brot und Wasser eingedeckt und teilt ihre Vorräte gerne.Und im zweiten Stock hat ein Bewohner des Mietshauses ein Autoradio und eine Autobatterie. Hier treffen sich die Mieter, um die neuesten Nachrichten über die Flut zu hören. Das Wasser steigt in der Miernicza-Straße auf bis zu 2,30 Meter an und breitet sich beinahe über das gesamte Zentrum aus.
Fernsehsender als Krisenstab
Der Fernsehsender "TeDe" stellt sich schnell als der Ort heraus, an dem die meisten Informationen hereinkommen. Er sitzt damals im 19. Stock des Hochhauses Poltegor im Süden der Stadt, der vom Hochwasser verschont bleibt. In den Räumlichkeiten der Redaktion entsteht ein spontaner Krisenstab.
Der Bürgermeister, Ärzte, Polizei und freiwillige Helfer koordinieren von hier aus die Hilfsaktionen. Der Fernsehsender hilft bei der Koordination, nimmt Anrufe von Bürgern entgegen und sendet alle wichtigen Informationen. Auch zu Agnieszka Dubionowska und ihren Nachbarn kommen Helfer mit einem Boot, die Wasser und Lebensmittel verteilen.
Neue Freundschaften bei Schach und Abwarten
Die hat sich inzwischen an die Situation gewöhnt. Seit der Wasserpegel nicht mehr steigt, ist die Angst weg und es wird gemütlich in der Miernicza-Straße. Man kann die Wohnung nicht verlassen, also macht man das beste draus: Alle Nachbarn treffen sich im zweiten Stock zu gemeinsamen Abendessen. Jeder trägt etwas dazu bei, niemand geizt mit seinen Konserven.
Um die Zeit totzuschlagen spielt man Bridge und Schach. Es entstehen neue Freundschaften. "Wir sind bis heute alle in dem Haus per Du", sagt die 76-jährige Dubionowska. Und dabei klingt sie fast so, als würde sie an gute Zeiten zurückdenken: "Die Leute sind in dieser Krisensituation näher zusammengerückt und haben sich gegenseitig unterstützt", erklärt sie.
Sandsäcke halten Stand
Als das Wasser langsam zurückgeht, wird langsam deutlich, welche Schäden die Flut angerichtet hat. Leszek Miller, der Innenminister, besucht den Krisenstab in den Räumen des Fernsehsenders TeDe. Seine Einschätzung klingt wenig optimistisch: "Es zeigt sich eine Schlachtfeld. Die Aufbauarbeiten werden noch viele Jahre dauern. Die Kosten dafür gehen in die Milliarden (Zloty)."
Doch das Autoradio in der Miernicza-Straße vermeldet auch gute Nachrichten: Zumindest die Kathedrale und den historische Komplex auf der Halbinsel Ostrow Tumski konnten die Anwohner durch ihren Einsatz retten: Die Sandsäcke, die sie die ganze Nacht über aufgeschichtet hatten, hielten den Fluten stand.
Und wenn der Pegel wieder steigt?
Heute ist man in Polen besser gegen Überschwemmungen gerüstet. In den letzten Jahren wurden hunderte Millionen Euro in Systeme investiert, die die Oder bändigen sollen, sollte sie sich wieder von ihrer wildesten Seite zeigen: Deiche, Schleusen und Stauanlagen wurden verbessert oder neu gebaut. Doch auf ein Rekord-Hochwasser wie 1997 ist man nach wie vor nicht vorbereitet. Das Problem: Das Schlüsselprojekt des gesamten Sicherungssystem wurde bisher noch nicht fertiggestellt. Bei Raciborz soll ein riesiger Polder, ein Auffangbecken für Überschwemmungen, entstehen. Dieses würde einer Flutwelle den Druck nehmen und die Städte flussabwärts entlasten. Raciborz, Opole und Breslau könnten dann eine weiteres Oderhochwasser weitestgehend trocken überstehen.
Warten bis 2019
Die Arbeiten sollten dieses Jahr pünktlich zum 20. Jahrestag der Jahrtausendflut fertiggestellt werden. Doch der Termin wurde nicht eingehalten, die beauftragte Firma hatte die Kosten um 100 Prozent überschritten. Jetzt soll das Projekt bis 2019 fertiggestellt werden. Eine neue ausführende Firma wird allerdings noch gesucht.
Entslastung auch für Deutschland
Außerdem werden zurzeit im Glatzer Kessel (Kotlina Kłodzka), einer Region nahe der tschechichen Grenze, entlang der Glatzer Neiße vier weitere Polder angelegt, die bis 2021 fertiggestellt werden sollen. Der Zufluss der Glatzer Neiße in die Oder hatte 1997 eine weitere Erhöhung des Pegels zur Folge. Die Maßnahmen in Polen werden nach ihrer Fertigstellung also auch die Regionen in Deutschland entlasten, die an der Oder gelegen sind.
Über dieses Thema berichtet MDR AKTUELL auch im: TV | 14.07.2017 | 17:45 Uhr