Pegelhaus ragt aus dem Wasser.
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Das Oder-Hochwasser von 1997

Wie ein Hochwasser Deutschland verbindet

12. Juli 2017, 16:14 Uhr

Das Oderhochwasser ist die erste Bewährungsprobe der Deutschen Einheit. Die Wassermassen und die Verwüstung, die sie hinterlassen, bewirken ein Umdenken im Umweltschutz. Aber was ist 20 Jahre später daraus geworden?

Im Sommer 1997 blickt die ganze Nation voller Sorge in Richtung Oder: Ungeahnte Wassermassen reißen alles mit sich, lassen Deiche bersten, verwüsten ganze Landstriche. Eine Flutkatastrophe, die niemand je für möglich gehalten hatte. Die erste Bewährungsprobe der Deutschen Einheit und einer der größten Katastropheneinsätze der Bundeswehr geht als "Einheitsflut" in die Geschichtsbücher ein, lässt Ost- und West näher zusammenrücken. Das Hochwasser und die Not, die es mit sich bringt, lösen große Hilfsbereitschaft aus. Mehr als 50 Millionen Euro Spendengelder fließen nach Brandenburg. Der Klimawandel gerät mit Wucht ins gesamtdeutsche Bewusstsein und bewirkt ein Umdenken im Umweltschutz. Kanzler Helmut Kohls Forderung „Gebt den Flüssen mehr Raum“ wird zum geflügelten Wort. Doch was ist 20 Jahre später daraus geworden?

Verwüstung in Polen

Ortsschild Ratzdorf
Ratzdorf ist der erste Ort in Deutschland, der von dem Hochwasser getroffen wird Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Sintflutartige Regenfälle im polnischen und tschechischen Odereinzugsgebiet führen im Juli 1997 zu einer Flutwelle, die mit zerstörerischer Kraft nach Deutschland rollt. Auf ihrem Weg lässt sie allein in Polen an über 1.000 Stellen die Deiche brechen, flutet 650.000 Hektar Land und macht Tausende obdachlos, mehr als hundert Menschen sterben.

In Deutschland trifft die Flut zuerst auf Ratzdorf. Der kleine Ort am Zusammenfluss von Oder und Neiße wird mit einem Schlag prominent, das Pegelhäuschen zum Symbol für die Not der ganzen Oderregion. Doch als der Pegel wenige Tage zuvor zu steigen beginnt, sind die Ratzdorfer auf sich gestellt, weil die Behörden sich auf den Schutz der Städte konzentrieren.

Eine Frau im Vordergrund, im Hintergrund ein Pegelhaus.
Ute Petzel wurde 1997 von der Bürgermeisterin zur Einsatzleiterin in Ratzdorf Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In den ersten Tagen, vom Kleinkind bis zum Greis wurden hier Sandsäcke gefüllt, bis zur Erschöpfung. Es wurde gekämpft, jeder hat sich eingesetzt und das war was, was nachher ein Wunder war, dass nicht mehr passiert ist.

Ute Petzel, Bürgermeisterin von Ratzdorf
Pegelhaus aus der Froschperspektive.
Das Pegelhäuschen tut noch immer seinen Dienst Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

30.000 Soldaten der Bundeswehr kämpfen Tag und Nacht an der Oder. Mit tausenden Helfern füllten sie über acht Millionen Sandsäcke und verstärkten die aufgeweichten Deiche, die dem enormen Druck des Flusses kaum standhalten. An hunderten Stellen sickert Wasser durch, mehrere große Schadstellen können notdürftig abgedichtet werden. Es ist ein Wunder, dass die 200 bis 300 Jahre alten Deiche halten, das Oderbruch entgeht nur haarscharf der Katastrophe.

Ein Wunder: Die Deiche halten

Wasserbauingenieur Hans-Peter Trömel ist zum Oder-Hochwasser 1997 verantwortlich für mehr als 82 Kilometer Deich und verhindert eigenhändig einen Deichbruch: Als bei Hohenwutzen die Deichböschung abrutscht, steigt er als erster in das Loch im Deich, der gerade noch fünf Prozent Standfestigkeit besitzt und lässt sich Sandsäcke zureichen. Für die Rettung des Oderbruchs wird er später mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Ein älterer Mann blickt aufs Wasser.
Hans-Peter Trömel hat für seinen Einsatz beim Oderhochwasser das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Er hat jedes Hochwasser der Oder genau studiert und seine Lehren daraus gezogen, um für die nächste Flut gewappnet zu sein. Gerade durch die Flut 1997 lernen Wasserbauer viel über Hochwasserschutz – inzwischen ist Deichbau eine richtige Wissenschaft.

Deiche altern auch, Deiche schrumpfen und da muss man also auch diese Dinge bedenken wie der Deich aufgebaut worden ist und das sind hier ganz inhomogene Deiche. Das heißt, die Erdmassen sind nicht aufeinander abgestimmt. Wir mussten also jetzt die Deiche völlig neu aufbauen. Und da sind also von 1997 bis 2006 die Deiche hier erneuert worden an der Oder. Also eine Riesen-Aufgabe mit Millionen Kosten.

Hans-Peter Trömel, ehem. Flussbereichsleiter

Auch 20 Jahre später kein neuer Raum für die Oder

Ein Mann mit schwarzer Brille, die Oder im Hintergrund.
Sascha Maier vom BUND fordert nach wie vor mehr Raum für den Fluss Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Im Zuge des Deichneubaus werden auch Deiche zurückverlegt, um der Oder mehr Raum zu geben. Doch die Schaffung großer Überflutungsflächen erweist sich als langwierig, weil Grundbesitzer ihr Land nicht verkaufen wollen oder Verhandlungen am Preis scheitern. Deshalb hat auch 20 Jahre nach der Flut die Oder bisher kaum neuen Raum bekommen, wie Sascha Maier vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) kritisiert.

Manchmal wird von Deichrückverlegungen an der Oder geredet, die stattgefunden haben sollen, da reden wir über ein-, zweihundert Hektar. Da ist nicht wirklich nennenswert was geschehen. Wir müssten eigentlich über Dimensionen von mindestens 5.000 Hektar reden. Entsprechend mehr Druck wird also auch auf den Deichen sein und da denk ich, ist der technische Hochwasserschutz einfach viel zu kurz gegriffen, wir müssen den Flüssen mehr Raum geben, so wie Helmut Kohl das damals auch schon gefordert hat.

Sascha Maier, BUND Brandenburg

Wenig Überflutungsflächen bedeuten kaum Entlastungsmöglichkeiten für die Deiche im Ernstfall. Der Umweltschützer erinnert daran, dass durch die massiven Deichbrüche in Polen 1997 ein Großteil der Flut gar nicht erst in Deutschland ankam.

Ein grasbewachsener Deich von der Seite, links eine Treppe.
Nach dem Hochwasser werden Deiche neu gebaut und teilweise zurückverlegt Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Doch solche massiven Deichbrüche wird es in Zukunft am Oberlauf nicht mehr geben, weil auch Polen mittlerweile seine Deiche erneuert hat. Die Oder bleibt nach wie vor unberechenbar, hundertprozentigen Schutz vor Naturgewalten wird es wohl niemals geben.

Über dieses Thema berichtete der MDR im TV: MDR Zeitreise - Geschichtsmagazin: "20 Jahre nach der 'Einheitsflut'" | 11. Juli 2017 | 21.15 Uhr