HIV in der Ukraine: Die Seuche grassiert
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Interview mit Walerjia Ratschinska von der Nichtregierungsorganisation "Gesamtukrainisches Netzwerk von Menschen, die mit HIV/AIDS leben"
03. Dezember 2017, 20:19 Uhr
Die Ukraine ist nach Russland das Land auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit der höchsten Verbreitung von HIV. Jüngste Zahlen legen nahe, dass sich die Krankheit weiter ausbreitet. Und der Krieg im Osten des Landes verschärft die Situation noch.
Allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres registrierten die ukrainischen Gesundheitsbehörden im Schnitt täglich 48 Fälle von HIV-Neuinfektionen - insgesamt fast 15.000 Fälle. Etwa 240.000 Menschen in der Ukraine lebten im vergangenen Jahr mit HIV, schätzt UN-AIDS, das weltweite Hilfsprogramm der Vereinten Nationen zur Reduzierung von HIV und AIDS. Nur etwa 139.000 von ihnen sind offiziell registriert, sagt Walerjia Ratschinska von der Nichtregierungsorganisation "Gesamtukrainisches Netzwerk von Menschen, die mit HIV/AIDS leben". Die NGO kämpft seit Anfang der 2000er-Jahre für eine angemessene gesundheitliche Versorgung und die Rechte HIV-Infizierter in der Ukraine; sie hat 25 Regionalbüros überall im Land. Wir haben mit Walerjia Ratschinska gesprochen.
Wie groß ist das Problem mit HIV in der Ukraine heute?
Im Jahr 2017 ist HIV in der Ukraine kein Todesurteil mehr. Jeder Mensch kann behandelt werden, Medikamente sind vorhanden. Aber diese große Diskrepanz zwischen der Zahl der Infizierten, die offiziell registriert sind, und der Zahl derer, die infiziert, aber noch nicht entdeckt sind, ist erschreckend.
Was bedeutet das für die Ukraine?
Das Erschreckendste daran ist, dass etwa 50 Prozent derer, die als Infizierte neu registriert werden, schon an AIDS erkrankt sind. Das heißt, sie lassen keinen HIV-Test im Zuge eines Routine-Arztbesuches machen, wenn sie noch gesund sind, sondern erst, wenn es schon klinische Symptome gibt, wenn sich ihr Gesundheitszustand schon verschlechtert hat. Darum ist bei uns in der Ukraine die Sterblichkeit durch AIDS nach wie vor recht hoch.
Woran liegt das?
Das Thema ist in der Gesellschaft immer noch ein Tabu. Es gibt immer noch die Meinung: HIV - das ist ein Problem von Sexarbeitern, von Junkies oder von homosexuellen Männern. Die Leute vergessen, dass es jeden treffen kann. Allein in diesem Jahr stammten 63 Prozent der Leute, bei denen HIV neu festgestellt wurde, nicht aus diesen Risikogruppen.
Wie beeinflusst der Krieg im Osten des Landes die Situation?
Die Republiken (die selbsternannten "Volksrepubliken" von Donezk und Luhansk, Anm. d. Red.) schotten sich sehr ab, sie reden das Problem klein. Das Hauptproblem auf dem Gebiet, das derzeit nicht von der Ukraine kontrolliert wird, sind die Drogenabhängigen, die an der Nadel hängen. Es herrscht dort eine repressive Drogenpolitik, genauso wie in Russland. Alle Gesetze, die in den "Volksrepubliken" erlassen werden, haben ihr Vorbild in Russland. Das heißt, es sind Programme verboten, die den Schaden begrenzen könnten, also Drogenersatzprogramme. Die Verantwortlichen in Donezk und Luhansk stehen auch Spritzen-Austauschprogrammen oder der Ausgabe von Kondomen negativ gegenüber. Wir bekamen nicht nur einmal zu hören, wir würden mit der Ausgabe von Spritzen und Kondomen ihre gesunde Jugend nur anstiften, Drogen zu nehmen und Sex zu haben.
Wie ist die Versorgung von HIV-Infizierten im Kriegsgebiet sonst?
Das ist ein positiver Aspekt. Es ist uns gelungen, dass die medizinische Versorgung für HIV-Infizierte in den Gebieten, die nicht von der Ukraine kontrollierten werden, nicht abreißt. 2014 konnte die Ukraine wegen der Kriegshandlungen keine Anti-HIV-Medikamente mehr dorthin liefern, Russland hat sich darum auch nicht gekümmert, und die selbsternannten Republiken hielten das erst recht nicht für ihr Problem. Doch wir konnten mit dem Global Fund (der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria, Anm. d. Red.) ein Notfinanzierungsprogramm vereinbaren. Mit dem Geld wurde dann die UNICEF ausgestattet, und die haben dann Anti-HIV-Medikamente in die Gebiete um Luhansk und Donezk gebracht, sodass diese medizinische Versorgung bis heute nicht abgerissen ist.
Welche Rolle spielt die ukrainische Regierung im Kampf gegen HIV/AIDS?
Die Regierung, vor allem das Gesundheitsministerium, ist wohl unser wichtigster Partner. Alle unsere Programme verwirklichen wir in enger Partnerschaft mit dem Staat. Und trotzdem gibt es noch immer Diskriminierung, trotzdem mangelt es an Informationen. Das Thema HIV und AIDS findet nicht genug Beachtung in den Schullehrplänen.
Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im TV am: MDR | 01.12.2017 | 17:45 Uhr