Die Dokumentation
Wer bezahlt den Osten?
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07. Dezember 2020, 12:08 Uhr
1,6 Billionen Euro öffentliche Gelder sind seit 1990 in die neuen Bundesländer geflossen. Die MDR-Dokumentation "Wer bezahlt den Osten?" macht sich auf die Spur der gigantischen Transferströme zwischen West und Ost. Wo wurde das Geld investiert und wie hat es Ostdeutschland verändert?
Inhalt des Artikels:
1,6 Billionen Euro öffentliche Gelder sind von 1990 bis heute in den Osten transferiert worden: Das Geld floss in Infrastrukturprojekte, in die Wirtschaft, wurde für Sanierungen und Soziales ausgegeben. Dennoch hinkt die Wirtschaft in den neuen Bundesländern der im Westen deutlich hinterher: Die Gewerbesteuereinnahmen liegen bei gerade einmal neun Prozent der deutschlandweiten Einnahmen, ein Drittel der Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor. Hinter der schönen Fassade der teuer sanierten Innenstädte in der ehemaligen DDR zeigt sich ein noch immer von Geldspritzen abhängiges Ostdeutschland.
Teil 1: Geben und Nehmen
Auf der Spur der Anfangseuphorie. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen Ost- und Westdeutschland 1990 ist ein historisch einmaliges Experiment. Niemand kann damals die Folgen einschätzen. Auch nicht, welche Dimension die notwendigen Geldtransfers vor allem für Wirtschaft und Soziales erreichen würde. Der erste Teil der Dokumentation addiert die gigantischen Transferströme für den Aufbau Ost, zeigt, wohin das Geld geflossen ist, woher es kam und wer vor allem von den Milliarden für den Aufbau profitiert hat.
Erzählt wird von großen Projekten, beispielsweise der Höchstgeschwindigkeitsbahnstrecke Berlin-Leipzig-Erfurt-München. Symbol für die insgesamt 130 Milliarden Euro, die allein in den ersten fünf Anfangsjahren nach der Wiedervereinigung in die Infrastruktur des Ostens fließen. Dabei war der Anfang alles andere als einfach: Helmut Kohls Aufbau-Ost-Beauftragter Johannes Ludewig erinnert sich an den schon Anfang 1990 erbittert geführten Verteilungskampf zwischen dem Bund und den westdeutschen Bundesländern für den "Fonds Deutsche Einheit".
Die Unternehmerin Ingrid Weinhold aus Bitterfeld dagegen erzählt von der Euphorie des Aufbruchs nach der dramatischen De-Industrialisierung des Ostens, der Enttäuschung über die Förderpolitik von Treuhand und Banken und von den Folgen. "Man hätte engagierten Ost-Unternehmern mehr Geld in die Hand geben müssen", sagt heute das liberale SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi, damals Aufsichtsrat des DDR-Kombinates TAKRAF. Kurt Krieger, der Gründer des Möbel-Giganten HÖFFNER, wiederum berichtet, wie er vom neuen Markt im Osten profitierte – und warum er heute seinen Hauptsitz in Brandenburg hat und so Gewerbesteuern im Osten zahlt.
Teil 2: Soll und Haben
Bis Mitte der 1990er Jahre fließen mehrere hundert Milliarden Euro an öffentlichem und privatem Kapital in den Osten - und der holt schnell auf. Doch nach den ersten Jahren der Euphorie folgt eine lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation. Lag das Wirtschaftswachstum 1992 in Ostdeutschland bei 26 Prozent, liegt es fünf Jahre später bei gerade einmal 1,6 Prozent. Die notwendigen Transferleistungen in die neuen Bundesländer schnellen in die Höhe. Der zweite Teil der Dokumentation zeigt, wie sich die Transferleistungen verstetigen, wie die Schuldenquote von Bund und Ländern steigt, wie teils millionenschwere Fördergelder zu Leuchttürmen oder Investruinen werden.
Wolfgang Tiefensee ist um die Jahrtausendwende Oberbürgermeister von Leipzig. Er versteht früh, dass der Osten nicht nur Markt sein kann, sondern vor allem Wirtschaftsstandort werden muss, damit er für sich selbst sorgen kann. Deshalb arbeitet er daran, BMW und DHL nach Leipzig zu holen. Doch Geld fließt nicht nur in den Osten, sondern auch von dort weg. Indirekt. Alexander und Matthias Kuscher sind nach der Wiedervereinigung Schüler in Magdeburg. Mittlerweile arbeitet Alexander bei Google in Kalifornien, Matthias am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Die beiden stehen exemplarisch für den Wissenstransfer des Ostens in den Westen. Einen Transfer, der sich in Euro und Cent beziffern lässt. Einer Studie zufolge verlor allein Sachsen 2008 auf diese rund 720 Millionen Euro an die anderen Bundesländer. Geld, das Sachsen bis dahin in die Ausbildung all jener investiert hatte, die dann abwanderten. Allein nach Bayern flossen 319 Millionen Euro, weil die Besten immer noch in den Westen wollen.
Die Landwirtschaft im Osten hingegen bleibt ein Hort der Stabilität. Die in der DDR auf Effektivität getrimmte Großlandwirtschaft schlägt sich gut im Kapitalismus, in der Börde ist sie wichtige Einnahmequelle für die Gewerbesteuer.
Weißwasser in der Lausitz dagegen lebt lange sehr gut von den Gewerbesteuern der Braunkohleriesen. Doch mit der Energiewende beginnt vor zehn Jahren ein steter Abschwung, der sich kaum aufhalten zu lassen scheint.
Teil 3: Gewinn und Verlust
Die Kulisse steht dank gewaltiger Transfers, der Markt ist aufgeteilt. Die Wirtschaftskraft des Ostens stagniert bei rund 70 Prozent des Gesamtdeutschen Niveaus. Der Osten bleibt abhängig und wird sich auch auf längere Sicht nicht selbst finanzieren können. Der dritte Teil der Dokumentation zeigt, wie sich die Teilung von Arm und Reich inzwischen quer durch den Osten zieht. Wie reiche Regionen ihren hart erarbeiteten Wohlstand behalten wollen und arme den Anschluss zu verlieren drohen. Gleichzeitig wachsen die Sozialkosten im Osten überproportional. Hinzu kommt die Schuldenbremse, die sich Bund und Länder nach Jahren des Aufbaus und des Ausgebens auferlegt haben. Der Streit ums Geld wird weitergehen.
Die thüringische Kleinstadt Sonneberg ist ein Musterbeispiel für den Aufbau Ost. Hier herrscht heute Vollbeschäftigung. Und doch steht Sonneberg unter Druck: die Stadt bekommt immer weniger Geld vom verschuldeten Land Thüringen und muss immer mehr Geld an den Landkreis abgeben. Sonneberg will nun gemeinsam mit der bayerischen Nachbarstadt Neustadt bei Coburg einen regionalen Verbund, das "Oberzentrum", bilden, etwa für Infrastruktur- und Bildungsprojekte. Es könnte der erste Schritt Richtung Westen sein.
Ganz anders dagegen Leipzig. Dort profitiert man von den Vermögenden des Westens: Der Immobilienmarkt der Messestadt wächst unaufhörlich. Die Spekulation auf das Wachstum der Stadt ist so intensiv wie in den Nachwendejahren. Die Investoren kommen aus Westdeutschland und profitieren von dem starken Zuzug nach Leipzig, die Menschen brauchen Wohnraum. Ein Leipziger mit einem Durchschnittsgehalt von 1.250 Euro kann von einem Wohnungskauf allerdings nur träumen. Der Glanz der Stadt baut weiter auf das Geld von außen.
Denn auch die Sozialausgaben zeigen: Die Menschen in Ostdeutschland sind deutlich ärmer als in Westdeutschland. Ein Erbe der De-Industrialisierung. Der Posten für Sozialausgaben innerhalb der Geldtransfers in Ostdeutschland hat sich als der höchste etabliert. Allein 2010 lag er bei 70 Prozent des Geldes, das von West nach Ost floss.
Über diese Thema berichtet der MDR auch im TV: Wer bezahlt den Osten? | 12.02. & 19.02. & 26.02.2019 | 22:05 Uhr