Was wir aus anderen Pandemien lernen können Die neue Welt-(Un)-Ordnung

20. Mai 2020, 11:04 Uhr

Über vier Millionen Erkrankte, mehr als 290.000 Tote, eine Weltwirtschaft am Boden und Krisenstimmung überall: Aktuell taucht immer wieder das Wort Wirtschaftskrise auf. Die Frage "Wie geht es weiter?" beschäftigt weltweit alle Nationen. Vergleichbare Krisen in der Geschichte gab es - zum Beispiel die Spanische Grippe - immer mal wieder. Doch dienen diese als Vorbild, um die jetzige Krise lösen zu können?

Während meine Finger diese Zeilen tippen, hat es sich schon wieder verändert. Jeden Tag mutiert es. Und passt sich so immer besser an. Denn für das Coronavirus SARS-CoV-2 ist der Mensch als Wirt ein großartiges Experimentierfeld. Evolution halt.

Und nebenbei  hat dieser kleine Mutant binnen weniger Wochen brutalstmöglich in Erinnerung gerufen, wie verletzlich unsere Zivilisation auch im 21. Jahrhundert noch ist gegenüber Infektionskrankheiten. Fakt ist: Dabei hatten spätestens seit SARS 2003 Virologen auf permanenten Sirenen-Ton umgestellt. Denn klar war: Jedes Virus kann im 21. Jahrhundert, wo jeder Ort der Welt nur einen Flug weit weg ist, Kontinente überspringen. Was waren das noch für Zeiten, als es bei der Spanischen Grippe eine wochenlange Schiffspassage brauchte, um von Amerika nach Europa oder Asien zu gelangen. Hilft angesichts dieser gewaltigen Unterschiede überhaupt ein Blick zurück? Die großen historischen Plagen: Lepra, Pest, Tuberkulose, die Pocken oder Blattern, die Cholera und eben die Spanische Grippe – lässt sich aus ihnen etwas über die Folgen von Corona lernen?

Moderne Medizin am Abgrund: Influenza 1918

Die Zahlen kennt inzwischen jeder. 27 Millionen – mindestens. Viele Wissenschaftler gehen gar von deutlich über 50 Millionen Opfern aus. Die Spanische Grippe 1918 ist noch immer der Prototyp einer virologischen Katastrophe. Wobei etwas an dieser Pandemie meist nicht erzählt wird: Sie verschwand nämlich für mehrere Jahrzehnte fast völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Alte Werbung für das Grippemittel Formamint von 1918
Alte Werbung für das Grippemittel Formamint von 1918 Bildrechte: imago images/United Archives International

Wie kann das sein? Eine Seuche, die blitzartig rund drei Prozent der Weltbevölkerung hinwegrafft und allein in den USA die Lebenserwartung binnen Monaten um zehn Jahre senkt. Der Autor John Barry, Buchautor von "The Great Influenza" (2004) hat die Pandemie von 1918 als die "erste große Kollision zwischen Natur und moderner Wissenschaft" beschrieben. Denn bis zu diesem Zeitpunkt schien es, als hätten Forscher wie Pasteur und Koch und die Armada der vielen exzellenten Laboratorien in Berlin, Paris, London, New York einen fundamentalen Sieg über die Infektionskrankheiten errungen.

Medizin: "goldenes" Wissen des 20. Jahrhunderts

Vorbei die Zeiten, als Millionen Menschen vor Seuchen wie der Pest, Cholera oder Typhus verzweifelt flohen. Oder sich wochenlang - so sie überhaupt konnten - hinter Haustüren freiwillig isolierten. Die Medizin war 1918 gewissermaßen eine Art Leitwährung der modernen westlichen Gesellschaft. Mit diesem "goldenen" Wissen im Gepäck konnte man den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts quasi gelassen entgegensehen. Auch in so einem bestialischen Moment wie dem Ersten Weltkrieg.

Zwar erwartete die Elite der Zunft weltweit, dass das Gemetzel irgendeine größere Epidemie auslösen würde. Zu Recht: Denn allein durch das seit der Antike die Kriege begleitende Fleckfieber starben Hunderttausende Soldaten und Zivilisten in Osteuropa/Russland und dem Osmanischen Reich. Aber niemand dachte an so etwas wie Influenza.

Als man das Ausmaß und die Ursache der anfangs noch als "epidemische Bronchitis" diagnostizierten Häufung von Lungenentzündungen erkannte, war es längst zu spät. Und an Medikamente, gar Impfstoffe, war nicht zu denken. Die moderne Medizin hatte ihre erste herbe Niederlage erlitten. Und wenig Lust an dieses düstere Kapitel zu erinnern. Zumal diese Grippe bald als Anomalie galt, die letztlich nur der Ausnahmesituation Weltkrieg geschuldet schien.

So hat auch niemand so genau hingeschaut, was diese Seuche alles für Folgen hatte. Erst jüngst hat ein Team um den Harvard-Professor Robert J. Barro versucht, wirtschaftswissenschaftlich Licht ins Dunkel zu bringen. Sein Forschungsteam kam zu dem Ergebnis, dass die grippebedingten Auswirkungen zu einem Rückgang des BIP um sechs Prozent in den betroffenen Ländern führten. In Friedenszeiten ein krasser Einbruch. Allein: Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges waren deutlich schlimmer.

Ist gemessen daran die aktuelle Rezessionspanik also eventuell nur Teil einer medialen Erregungswelle, die beim nächsten Sturm wieder abebbt? So einfach ist es leider nicht.

Der ökonomische Fußabdruck einer Pandemie

Denn manche Erfahrungen gibt es historisch gar nicht. 1918/19 etwa hat es in keinem Land der Erde einen wirklichen Shutdown gegeben, d.h. ein komplettes Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Die Rezession war damit ausschließlich Ergebnis des massenhaften Sterbens von Millionen Menschen. In den nationalen Ökonomien fehlten sie. Als Konsumenten und Arbeitskräfte. Ein Effekt, den man aus der Geschichte kennt: Die Zeit nach den großen Pestkatastrophen des Mittelalters gilt Wirtschaftshistorikern als ein goldenes Zeitalter der Lohnarbeit. Die Ernte blieb auf den Feldern, weil niemand da war, sie einzuholen. Oder die wenigen verfügbaren Arbeitskräfte horrende Forderungen stellten. Die Folge waren frühe Formen der Arbeitsgesetzgebung.

Heute sieht die Situation um einiges komplexer aus. Denn allein eine Reisewarnung kann ein betroffenes Land ökonomisch hart treffen. Beispiel SARS 2003: In wenigen Sprüngen schaffte es damals dieses Coronavirus, sich weltweit zu verbreiten, wenngleich die Infektionszahlen verglichen mit 2020 fast marginal aussehen. 8.000 Menschen erkrankten. Jeder Zehnte starb. Als die Ausbreitung nach wenigen Wochen gestoppt war, lag der Schaden für die Weltwirtschaft nach Schätzungen von Ökonomen bei 40 Milliarden Dollar. Beispiel Ebola 2014 bis 2016: Von 28.000 Menschen, die erkrankten, starben mehr als 11.300. Insgesamt werden die Kosten durch den Ebola-Ausbruch in einer Studie der WHO auf rund 50 bis 60 Milliarden Dollar taxiert. Und das, obwohl die Krankheit sich sehr viel geringer pandemisch ausbreitete als zuvor SARS.

3,6 Milliarden Dollar gaben die betroffenen Länder und Staaten wie die USA und Deutschland davon für die Bekämpfung von Ebola aus. Gigantische Summen, verglichen mit dem, was bei der Spanischen Grippe 1918 in vielen Regionen der Erde zur Verfügung stand. Insbesondere ein Land hat das bitter bezahlen müssen. 

Täglich schwimmen Hunderte Leichen im Fluss

Ein Mann verteilt in Katra Sher Singh Gesichtsmasken an die Menschen
Ein Mann verteilt in Katra Sher Singh in Indien Gesichtsmasken an die Menschen. Bildrechte: imago images/Hindustan Times

In Indien hat die Spanische Grippe gewütet wie nirgendwo sonst. Geschätzte fünf Prozent der Bevölkerung fielen hier dem Virus zum Opfer. Und das, weil das gänzliche Fehlen jeglicher öffentlichen Gesundheitsorganisation die Infektionsgefahr einer durch Hunger bereits geschwächten Bevölkerung glatt verdoppelt hat. Und die Kolonialmacht England requiriert - z.T. kriegsbedingt - Nahrungsmittel trotz massiver Missernten und Nahrungsengpässen weiter und schickt diese nach Hause. Medizinische Hilfe fehlt. Die Folge: Selbst Pest und Cholera haben das Land nie zuvor auf einen Schlag so getroffen: Geschätzte 18 Millionen Menschenleben werden binnen Wochen ausgelöscht. Über 40 Prozent aller Pandemie-Opfer weltweit entfallen so auf Indien.

Einer der zehn Ärzte des Generalstabs der britischen Armee musste zugeben, dass die Sterblichkeit nicht so hoch gewesen wäre, wenn sofortige medizinische Hilfe und angemessene Ernährung für die Kranken hätte zur Verfügung gestellt werden können.

The Spanish influenza Pandemic of 1918-19: New Perspectives – London 2003

Für das Land wird die Pandemie daher zur Zäsur. Denn die Ungerechtigkeiten bei der von der Kolonialmacht organisierten medizinischen Versorgung - bzw. deren Nicht-Gewährung - stärken massiv die gerade erwachte Unabhängigkeitsbewegung. Mahatma Gandhi, der selbst an der Grippe erkrankt und überlebt, wird 1919 zum Führer dieser Widerstandsbewegung. Die Folgen sind bekannt.

Der kritische Punkt 2020: Corona als Wegscheide in eine neue Ära?

Und Indien heute? Indiens Premier Narendra Modi hat bereits gewarnt, die Coronakrise könnte sein Land um eine ganze Generation zurückwerfen. 90 Prozent der Wirtschaft arbeiten informell, außerhalb des Steuer- und Sozialnetzes. Durch den derzeitigen "Lockdown" sind in der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens Dutzende Millionen Menschen ohne Arbeit und Einkommen.

2006 hatte die Weltbank für den Fall einer weltweiten (mittleren) Grippe-Pandemie die Kosten für die Weltwirtschaft noch auf 800 Milliarden Dollar taxiert. Inzwischen haben die Ereignisse die Berechnungen mehrfach mit überrollt. Folgt man dem Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff, einem Spezialisten für historische Krisen, ist das gerade weltweit von Regierungen ausgeschüttete "Helikoptergeld" (Zuschüsse, Kaufprämien, Darlehen), um den Abschwung abzumildern, nur ein schwacher Vorgeschmack auf das, was kommt:

Die Notenbanken werden alle die Zinsen weiter ins Negative senken. Ich habe ja schon früher gefordert, dass die Zinsen bis minus sechs Prozent sinken sollen, um schneller aus Krisen zu kommen. Jetzt aber ist vor allem die Stunde der Fiskalpolitik, wir brauchen massive Ausgaben, sonst wird das enden wie 1929 in der Großen Depression. (…) Um es klar zu sagen: Das ist wie im Krieg. Die USA sollten eine Billion Dollar ausgeben, ohne mit der Wimper zu zucken. Und das ist vermutlich nur der erste Schritt.

Kenneth Rogoff Interview mit CAPITAL 17.März 2020

Auch Europa sollte besser schnell diese Billion locker machen, rät Rogoff. So man das Geld denn zusammen bekommt. Dass eine solche Krise selbst die besten Ökonomen etwas ratlos mit großen Zahlen jonglieren lässt, war schon 2006 - nach SARS und Vogelgrippe - zu beobachten. Damals schätzten deutsche Experten die Kosten einer Grippe-Pandemie allein für Deutschland auf 25 bis 75 Milliarden Euro. Mit dem Hinweis: Eine echte Studie dazu gebe es nicht, daher die große Schwankung. Und diese Zahlen waren wohlgemerkt noch ohne Einrechnung eines Shutdowns, den so damals noch niemand kommen sah.

Corona: Weltweit angespannte Lage

Und als wäre das alles nicht schon desaströs genug, weiten die wichtigsten weltwirtschaftlichen Akteure 2020 ihren Streit noch einmal gehörig aus. Dass dabei ausgerechnet die WHO mit ins Kreuzfeuer gerät, jene Organisation die 2003 bei SARS maßgeblich mit dazu beitrug diese "kleine" Pandemie schnellstmöglich zu bändigen, zeigt - die Kosten, ökonomisch wie politisch, könnten in den nächsten Wochen und Monaten noch um einiges wachsen.

Das kleine Licht am Ende des Tunnels: Vor zwei Wochen hat die Weltbank verkündet, sie habe im März, innerhalb von zwei (!) Wochen Hilfsprogramme für 25 arme Länder vorbereitet, damit auch diese Corona trotzen können. Normalerweise dauere so etwas neun bis zwölf Monate.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR Aktuell | 18.05.2020 | 13:44 Uhr