Solidarność in Polen: Vorbild für die Bürgerrechtler in der DDR
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22. Dezember 2021, 11:15 Uhr
Von der unabhängigen polnischen Gewerkschaft "Solidarność" haben die DDR-Bürgerrechtler viele wertvolle Impulse erhalten, sagt Stephan Bickhardt, einst DDR-Bürgerrechtler und heute Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen. Ein Gespräch über die Erfahrung "Solidarność" und wie die polnische Freiheitsbewegung in der DDR Wirkung entfaltet hat.
Herr Bickhardt, seit 1972 konnten DDR-Bürger ohne Visum nach Polen fahren. Sie haben sehr früh, sehr viel von dieser damals neuen Regelung Gebrauch gemacht. Wie kam es dazu?
Nun, es ging mir im Grunde so wie Tausenden anderen jungen Leuten, die einfach nur mit dem "kleinen Blauen", dem DDR-Ausweis, plötzlich losziehen konnten. Zum Jazzfestival nach Warschau. Zu Lagern der Aktion Sühnezeichen. Oder einfach zum Wandern und Urlaub machen in den Masuren. Das war fast eine richtige Jugendbewegung, die sich da jeden Sommer aufmachte nach Polen. Und dann kam noch dazu, dass ich 1976 schon, im Alter von 17 Jahren, dort auch mit kritischen Leuten zusammengekommen bin und da einen ganz anderen Atem der Freiheit erlebt habe als in der DDR.
Was war denn damals der große Unterschied?
In Polen gab es wirklich jede Menge junge kritische Leute rund um die Universitäten. Und dann diese sogenannten Klubs der Intelligenz in Warschau, Krakau und Breslau. Und aus diesen Gruppierungen heraus ist dann zum Beispiel auch dieses erste Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, kurz KOR, gegründet worden. Adam Michnik oder Tadeusz Mazowiecki, also wichtige polnische Intellektuelle, haben dort 1976 schon die Rechte der Arbeiter verteidigt, die in den berühmten Ursus-Traktorenwerken in Radom streikten und bessere Entlohnung forderten. Wir haben damals, in der DDR, unter jungen Leute im Umfeld der Aktion Sühnezeichen, für diese Arbeiter dann Geld gesammelt. Und auch einiges zusammenbekommen. Das war vor ein paar Jahren eine tolle Erfahrung, als der polnische Präsident Komorowski tatsächlich an diese kleine DDR-Spendensammlung erinnert hat. Daran, dass dadurch Geld ungefähr im Wert eines Polski Fiats zusammenkam - der damals einiges gekostet hat -, das dann in Radom an die Arbeiter verteilt werden konnte. Es gab also in punkto "Solidarnosc" eine ziemlich lange Vorgeschichte.
Im berühmten Sommer 1980, als Tausende Arbeiter der Danziger Leninwerft ihre Arbeit niederlegen und das Werftgelände besetzen, sind Sie auch in Polen. Zufall?
Ja, ich bin damals, zusammen mit einer Handvoll anderer Jugendlicher aus der DDR, in ein Versöhnungsdienstlager der kirchlichen Aktion "Sühnezeichen" nach Krasiczyn gefahren. In den wirklich südöstlichsten Zipfel Polens. Und dort, kurz vor der Ukraine, in Przemyśl, hatte ich gleich ein unvergessliches Ereignis. Der Busbahnhof war leer. Die Busfahrer streikten und unterstützten damit die Arbeiter auf der Leninwerft, die ja für die Zulassung einer unabhängigen Gewerkschaft kämpften. Freundlich wies man mir den 20 km langen Fußweg nach Krasiczyn. Und ich lief wirklich mit Begeisterung in dieses polnische Dorf. Denn ich fand das alles toll und aufregend, was sich da tat. Und in dem Lager kamen wir dann auch gleich mit kritischen jungen Leuten zusammen. Darunter zwei der Studentenführer, die da vom Geheimdienst schon verfolgt wurden. Jeden Tag haben wir mit denen gemeinsam Nachrichten gehört. Und ich habe da schon sehr deutlich gespürt - damals war ja bereits ein toter Student in Krakau zu beklagen - dass die beiden mit zu den Impulsgebern dieser neuen Protestbewegung gehörten.
Was 1980 zumindest außerhalb Polens viele überrascht, ist der immense Zulauf, den die Aktivisten der "Solidarność"-Bewegung binnen Wochen verzeichnen. Millionen Menschen schließen sich ihnen an. Auch für Sie überraschend?
Nein, das hat mich nicht überrascht. Denn was Polen und den inneren Zusammenhalt anbelangt, darf man überhaupt nicht unterschätzen, was 1979 der Besuch des polnischen Papstes ausgelöst hat. Da wurden plötzlich riesige Messen im Land abgehalten und er selbst ermutigte in seinen Ansprachen die Menschen immer wieder zur Solidarität. Diesem Slogan "Solidarność" wurde durch den Papstbesuch noch mal so richtig Futter gegeben wurde. Heute können sich die Leute das kaum vorstellen, dass die Kirche so ne Kraft hatte. Dass sie eine gesellschaftliche Umwälzung auf Freiheit hin, übrigens auch Religionsfreiheit, mitträgt und dafür den kulturellen Background gibt. Die kommunistische Partei war zu diesem Zeitpunkt im Prinzip von innen her wirklich erledigt. Sie kam gar nicht mehr dazwischen. Zwischen diese großen Bevölkerungsteile, die sich von der Idee der Solidarität und der Freiheit haben anstecken lassen.
Symbolisch steht für diese neue Qualität ja das berühmte Danziger Abkommen vom 31. August 1980, bei dem Lech Walesa die von ihm übergebenen 21 Forderungen nicht nur präsentiert, sondern als abgestimmten Forderungskatalog gemeinsam mit der Regierung unterschreibt.
Ja, das war der größte Sieg. Eine Rechtsanerkennung für die Forderungen der Opposition. Das hat mich richtig körperlich angefasst und begeistert. Das ist unvergesslich. Und umso mehr war dann das Erschrecken, als im Dezember 1981 diese Zeit der unabhängigen Gewerkschaft zu Ende ging.
Dazwischen liegt über ein Jahr. Was haben Sie und Ihre Mitstreiter in der DDR in diesen 15 Monaten mit dieser polnischen "August"-Erfahrung gemacht? Hat Sie das als "angehende“ DDR-Oppositionelle nicht beflügelt?
Doch. Ich würde schon sagen, ohne diese Impulse aus Polen und auch aus der Tschechoslowakei wären wir sicher viel weniger kritisch gewesen gegenüber dem System. 1980 kamen wir alle zurück mit dieser interessanten und befreienden Erfahrung eines breiten, gewaltfreien Aufstandes. Christoph Wonneberger, Jugendpfarrer in Dresden, kam aus Warschau und erzählte, wie er vor dem Präsidentenpalast gesehen hat, wie Männer und Frauen den Soldaten, die dort aufgebaut waren, Blumen in die Gewehre steckten. Das war für ihn das große Zeichen. Ich kam zurück und hatte erlebt, dass auch die ganzen jungen Leute diese 21 Forderungen wichtig finden und sich selbst auch organisieren. Denn es gab ja damals auch eine studentische Solidarnosc. Und diese Mischung aus symbolischer Aktion und tatsächlicher Selbstorganisation und die ganze Begeisterung, die dann im Gespräch war, die hat mich auch sagen lassen: Wir müssen hier auch was machen. Damals war die Idee von Christoph Wonneberger im Raum, einen sozialen Friedensdienst, eine Art Wehrersatzdienst, zu fordern vom Staat. Und wir haben damals den Entschluss gefasst, daraus eine große Aktion zu machen. Das war wirklich, kann man sagen, emotional gebrieft von der polnischen Opposition.
Sie sind damals freilich nicht die einzigen in der DDR, die jeden Schritt in Polen genau verfolgen. Die Partei- und Staatsführung samt MfS haben die Vorgänge ebenso in helle Aufregung versetzt. Nur in umgekehrtem Sinn: Von dort wird alles auf den Weg gebracht, um ein Überspringen des "polnischen Fiebers", wie man es öffentlich brandmarkt, zu verhindern. Was haben Sie davon mitbekommen?
Wie wir heute aus den Stasi-Akten wissen, ging das schon viel früher los. 1977 bereits, auf einen Hinweis des polnischen Innenministers an Erich Mielke hin, aufgrund einer Tagung in Breslau, zu der wir gefahren sind, ist mein Freund Ludwig Mehlhorn bereits operativ bearbeitet worden. Das wussten wir damals natürlich noch nicht. Aber ab 1980 wurde man dann auf Schritt und Tritt äußerst kritisch beäugt. Von all denen, die meinten: Man solle sich jetzt von Polen fernhalten. Übrigens selbst in der evangelischen Kirche, Ost wie West, sprachen einige davon: Es gäbe eine "polnische Krise". Ich erinnere mich noch, wir haben 1982 ein Papier verfasst nach dem Motto: Es gibt keine polnische Krise! Es gibt eine polnische Gewerkschaft, die für die Rechte der Menschen eintritt. Das ist keine Krise, sondern eine Freiheitsbewegung. Wir sahen darin eine Fortsetzung der Ressentiments, die die SED geschickt propagandistisch aufgebaut hat gegenüber dem polnischen Volk. Und wir fanden das ganz furchtbar, dass auch noch die Kirche diese Ressentiments verstärkt. Von einigen Leuten sicher eher unabsichtlich. Aber es gab eben auch von kirchlicher Seite keine wirklich positive Resonanz, also dass man bewusst für diese Gewerkschaftsbewegung eingetreten wäre.
Es ist in der Tat auffällig, dass in der DDR, befeuert durch die SED-Propagandabteilungen, so schnell uralte antipolnische Klischees plötzlich wieder im Umlauf sind. Von der "polnischen Wirtschaft" ist da die Rede. Das heißt: Man versucht über diese fast 150 Jahre alte Form der Diffamierung jegliche ostdeutsche Sympathie für die "Solidarność" abzuwürgen.
Ja, das Schüren von Ressentiments, der Appell an niedrigste Instinkte, das hat uns wirklich empört. Weil das ja auch geradezu eklatant im Gegensatz stand zu dem, was wir dort erlebt haben. Nämlich eine wirklich aufgeklärte, mit Gewaltfreiheit konnotierte Bewegung. Dieses Dreieck aus politischer Opposition, unabhängiger Kunst und Kirche. Das da wirklich drei Milieus in Polen immer wieder wunderbar zusammenrückten. Und dann durch diese Gewerkschaft Solidarnosc auch noch die Arbeiter und viele einfache Leute einbezogen wurde. Also aus Polen kommt das wirklich neue Signal und hier wird gewissermaßen ganz "alt" geantwortet. Das ist eben das Fiese des Populismus, was wir ja leider heute auch immer noch und immer wieder erleben. Und natürlich: durch diese Anknüpfung an alte Negativbilder, solche "Synonyme des Hasses", hat man der eigenen Bevölkerung auch klargemacht: Wer mit Polen-Sympathien unterwegs ist, ist auf Abwegen und ein Staatsfeind.
Mit dem 13. Dezember 1981, der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen, fühlen sich die Genossen auch in Ostberlin endlich wieder fest im Sattel. Nach rund einem Jahr des Bangens, Zitterns und publizistischen Zeterns. Wie haben Sie selbst diesen Moment erlebt?
Emotional war das ein extremer Rückschlag. Es war ein wirkliches Erschrecken. Ich kann mich noch erinnern, dass wir danach Besuch bekamen von polnischen Freunden und da war eine große Niedergeschlagenheit zu spüren. Mit der Ausrufung des Kriegsrechts sind ja auch einige Tausend Menschen verhaftet und in Lager gebracht worden. Darunter Freunde und Leute, die wir schätzten. Also das war plötzlich so ein tiefes Tal. Und in dem Moment weiß man einfach auch nicht, wie man da wieder rauskommt. Das war alles wirklich sehr frustierend. Auch dann die ganze Situation in Deutschland, die ganzen neu stationierten Waffen auf beiden Seiten. Und gerettet hat uns 1985 die Hinwendung zur Menschenrechtsfrage. Also irgendwann haben wir kapiert, Frieden kann nur dann wirklich herrschen, wenn es einen gesellschaftlichen Frieden auf der Basis von Freiheit gibt. Und wir haben dann durch diese Hinwendung zu den Menschenrechtsfragen letztlich wieder neu Tritt gefasst. Auch der Zivilgesellschafts-Gedanke, der sich ja nicht immer nur an der Macht abarbeiten will, sondern wo es auch darum geht, wie man Solidarität untereinander pflegt. Das war eine wichtige Erkenntnis, die sich dann Zug um Zug immer mehr verbreitete, auch unter jungen Leuten.
Dieses Thema im Programm: MDR Aktuell | 31. August 2020 | 21:45 Uhr