Geschichte des Reisens Von der Pilgerreise bis zum 9-Euro-Ticket
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12. August 2022, 16:40 Uhr
Flugausfälle, verlorene Koffer, verspätete Züge und das 9-Euro-Ticket: Der Sommer 2022 ist vom Reisechaos bei den Fluggesellschaften und bei der Bahn geprägt. Doch nicht immer fuhr oder gar flog der Mensch zur Erholung in den Urlaub. Lange ist das Reisen ein Privileg der Reichen und Mächtigen. Händler reisen, um Geld zu verdienen. Pilgerreisen werden zu Vorläufern des heutigen Massentourismus. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts können wir für wenig Geld fast in jeden Winkel der Welt fliegen.
Inhalt des Artikels:
- Beschwerliche Wege im Mittelalter
- Pilgern: Frühe Form von Massentourismus
- Bürgerliche Bildungsreise mit der Postkutsche
- Eisenbahn macht Reisen erschwinglich(er)
- Das Recht auf Urlaub demokratisiert das Reisen
- Die ersten Billigflieger scheitern
- Urlaub zwischen Massentourismus und Individualität
- Ist der Massentourismus am Ende?
Beschwerliche Wege im Mittelalter
Im Frühmittelalter sind Reisen eine große Ausnahme. Die meisten Menschen leben in kleinen ländlichen Siedlungen, die sie kaum verlassen – weil sie sich das kaum leisten können, bemerkt der Kulturhistoriker Wolfgang Kaschuba: "Die Leute mussten den ganzen Tag arbeiten, um ihre Nahrungsmittel zu produzieren. Straßen in unserem Sinne gab es noch nicht und die Fortbewegungsmöglichkeiten waren natürlich begrenzt."
Ein Pferd können sich nur die Reichen und Mächtigen leisten – etwa Könige, die damals noch keine feste Residenz besitzen, sondern von einem Ort zum nächsten ziehen. Der Durchschnittsuntertan ist auf seine Füße angewiesen, wenn er reisen will. Deshalb misst man Reise-Entfernungen noch in Einheiten, die der menschliche Körper vorgibt: in Füßen und Ellen.
Ab dem 13. Jahrhundert erobern Händler die Wege. Die Fürstenhöfe mit ihrer Prunksucht und dem gesteigerten Repräsentationsbedürfnis treiben diese Entwicklung an: "Schmuck, bestimmte Gegenstände aus dem optischen Bereich und vieles andere mehr, das nur in Oberitalien hergestellt wurde oder nur in Paris oder nur in London, wurde dann vermehrt transportiert", so Kaschuba.
Pilgern: Frühe Form von Massentourismus
Zu den Pionieren des Reisens gehören neben Kaufleuten auch Pilger. Besonders beliebt ist die Pilgerfahrt zum Grab des Heiligen Jakobus in Santiago de Compostela. Bis zu einer halben Million Menschen machen sich im Spätmittelalter Jahr für Jahr auf den Weg dorthin, quer durch Europa.
Entlang der Pilgerstrecken entstehen relativ früh regelrechte Infrastrukturen mit Herbergen, Händlern und Kaufleuten, die die Pilger abzocken, wie man heute sagen würde. Also das Reisen wird dann schnell teurer, weil die Kaufkraft der Pilger abgeschöpft wird, genauso wie bei heutigen Touristen.
Durch Pilger wird das Reisen zu einer Angelegenheit für die breiten Massen – eine frühe Form von Massentourismus. Doch Reisen bleibt noch Jahrhunderte lang nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich. Der Reisende ist dem Wetter ausgesetzt, Krankheiten, wilden Tieren und: der Willkür der Wegelagerer.
Die Wege sind zudem schlecht, Brücken sehr selten und weite Teile Europas noch von dichten, undurchdringlichen Wäldern bedeckt. Gute Landkarten sind Mangelware – das Risiko, sich zu verlaufen ist dementsprechend groß.
Neue Reiseinfrastruktur
Erst das 17. Jahrhundert bringt einen Fortschritt in Sachen Reisekomfort und -geschwindigkeit. Und wieder einmal geben die Mächtigen den Anstoß, berichtet Kaschuba: "Eines der Motive ist in der Tat der Fürstenhof, der immer prunkvoller und prächtiger wird. Dazu braucht man eben Edelsteine aus Afrika, Gewürze aus Indien, feines Geschirr aus Italien und anderes mehr. All das muss transportiert werden und man braucht das Geld, um es bezahlen zu können!"
Und deshalb fördern die Fürsten den Wegebau. Die Logik dahinter: Je besser die Wege, umso schwungvoller der Handel und umso höher die Steuereinnahmen. Die Distanzsäulen August des Starken zeugen in Sachsen bis heute davon. Sie sind die Vorläufer der heutigen Wegweiser. Die besseren Wege erlauben den nächsten großen Schritt: die Einführung der Postkutsche, die jedermann zugänglich ist und regelmäßig auf festen Routen verkehrt. Für Kaschuba ist das ein Meilenstein: "Damit wird es um 1800 möglich, dass man zwischen den wichtigen europäischen Hauptstädten Reisen fast schon wie heute planen kann. Man kann zumindest sagen, wann man abfahren will, wo man übernachten wird usw. Das ist der Beginn der planbaren Reise mit einem Fahrplan."
Bürgerliche Bildungsreise mit der Postkutsche
Mit dem Postkutschennetz entsteht auch die bürgerliche Bildungsreise. Erstmals in der Geschichte machen sich Menschen nicht aus Notwendigkeit auf den Weg, sondern zum Vergnügen.
Diese neue bürgerliche Weltanschauung sagt, du musst mehr kennen als nur deinen Heimatort und die Umgebung, sonst weißt du zu wenig über die Welt. Natürlich musste man nicht in Thailand gewesen sein, aber eben in Paris oder Venedig.
Um 1800 taucht auch erstmals das Wort "Tourist" auf. Drei Jahrzehnte später erscheint der erste Reiseführer aus der berühmten Reihe von Karl Baedeker.
Eisenbahn macht Reisen erschwinglich(er)
Doch noch ist das Reisen ein Privileg der Reichen. Erst die Erfindung der Eisenbahn, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts endgültig durchsetzt, wird das Reisen wirklich jedermann zugänglich machen. Doch das sehen die Reichen und Mächtigen nicht gern, berichtet der Kulturwissenschaftler Kaschuba: "Viele haben ihren Status gefährdet gesehen, denn Reisen war vorher ein Privileg. Der Adel konnte über lange Jahrhunderte davon ausgehen, dass, wer in einer Kutsche fuhr, auch adlig war. Dann fing mit dem Eilkutschensystem die Demokratisierung an, weil dieselben Stationen die adligen und die bürgerlichen Reisenden versorgten. Und im Eisenbahnabteil können jetzt fast alle Volksschichten reisen."
Kein Wunder, dass sich viele Adlige anfangs aus Standesdünkel der Eisenbahn verweigern und weiter Kutsche fahren. Doch den Wandel können sie dadurch nicht aufhalten und am Ende lassen auch sie sich von den Vorzügen der Bahnreisen überzeugen. Die legendäre Kaiserin Sissi (Elisabeth von Österreich-Ungarn), die ausgesprochen viel durch Europa reist, leistet sich beispielsweise einen luxuriösen Schalf- und einen Salonwagen. Ihr Gatte, Kaiser Franz Joseph I., hatte ab 1891 gleich einen ganzen Hofzug, der sich wahrlich imperial präsentierte: mit schweren Samt- und Plüsch-Vorhängen, Täfelungen aus dunklem Nussholz, Seidentapeten und vergoldeten geschnitzten Tür- und Fensterrahmen. Übertrumpft wird er von seinem deutschen "Amtskollegen" Wilhelm II., der sich einen luxuriösen Hofzug mit bis zu 30 Waggons leistet. Und da er sehr viel darin reiste, wurde die erste Zeile der Kaiserhymne – "Heil dir im Siegerkranz" – von Spöttern zu "Heil dir im Sonderzug" umgedichtet.
Das Recht auf Urlaub demokratisiert das Reisen
Zwar gibt es mit der Bahn das passende Transportmittel, mit dem jedermann halbwegs erschwinglich verreisen kann. Dennoch ist das noch kein Massenphänomen, denn für eine erholsame Auszeit fehlt den meisten Menschen eine essenzielle Komponente: Zeit.
Bereits im deutschen Kaiserreich gibt es Regelungen, die Staatsbeamten einige Tage bezahlten Urlaub gewähren. In der Endphase des Kaiserreichs und in der Weimarer Republik können sich Arbeiter allmählich Tarifverträge erstreiten, die einen Urlaubsanspruch vorsehen, es handelt sich aber nur um einige wenige Tage im Jahr. Die wichtigste Entwicklung vollzieht sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ab 1945 schreiben die meisten Länder der Bundesrepublik einen Urlaubsanspruch von zwei Wochen gesetzlich fest. Seit 1963 haben alle Beschäftigten in Westdeutschland Anspruch auf mehrere Wochen bezahlten Urlaub. In der DDR gilt seit 1965 ein Urlaubsanspruch von mindestens 15 Tagen.
Für den Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Harald Zeiss, der an der Hochschule Harz zum nachhaltigen Tourismus forscht, ist das der eindeutige Zeitpunkt, an dem das Reisen zum Zweck der Erholung ein Massenphänomen wird: "Für einen Erholungsurlaub brauchten die Leute Zeit. Mit dem Urlaubsanspruch begann quasi eine Demokratisierung des Reisens."
Bis zum globalen Massentourismus wird es allerdings noch einige Jahrzehnte dauern. Über weite Entfernungen zu reisen, ist für viele astronomisch teuer. Der Flugverkehr unterliegt strengen staatlichen Auflagen und Preisvorgaben. So dürfen deutsche Fluggesellschaften beispielsweise Flüge zwischen Paris und Hamburg anbieten, jedoch keine innerhalb Frankreichs. Den allermeisten DDR-Bürgern bleiben Weltreisen aufgrund der Grenzschließungen bis zur Wende ohnehin verwehrt.
Die ersten Billigflieger scheitern
Die Situation ändert sich im Westen ab Ende der 1970er-Jahre. 1977 hebt der erste Billigflieger der Geschichte zwischen London und Los Angeles ab – Ticketpreis: 59 britische Pfund (heute umgerechnet etwa 450 Euro). Das Flugzeug gehört der Fluglinie Laker Airways, die als erste so genannte No-frills-Flüge, also Flüge "ohne Schnickschnack", anbietet, die deutlich günstiger sind als die der Konkurrenz. Aufgrund von fehlenden Lizenzen, Konkurrenzdruck und Problemen mit dem eingesetzten Airbus-Modellen gelingt es der Airline jedoch nicht, ein dauerhaftes Netz von Billigfluglinien zu etablieren. 1982 muss das Unternehmen Insolvenz anmelden. Das Geschäftsmodell "Billigflieger" scheint am Ende.
In Wahrheit ist es nur ein vorübergehender Rückschlag. In der Europäischen Union wird der Flugverkehr bis 1992 komplett geöffnet. Fluggesellschaften dürfen nun fast ohne Beschränkungen zwischen allen EU-Mitgliedsstaaten fliegen. Preisvorgaben und Kapazitätsgrenzen für Passagiere werden abgeschafft. Das Zeitalter der heute bekannten Billigfluggesellschaften wie RyanAir oder Germanwings bricht an.
Für Reisende bedeutet das: ein deutlich größeres Angebot an Flügen und vor allem günstigere Flugpreise. Die Passagierzahlen steigen in den kommenden Jahren deshalb rasant an. 1993 fliegen circa 360 Millionen Reisende innerhalb der EU-Staaten. 2015 verzeichnen die Flugunternehmen bereits 918 Millionen Flugreisen.
Urlaub zwischen Massentourismus und Individualität
Die günstigen Flüge ermöglichen es vielen Reisenden, immer weitere Ziele zu erreichen. Längst sind nicht nur die Reiseziele sehr individuell, sondern auch die Dauer und Art des Urlaubs. "In den Urlaub zu fahren, mit dieser Aktivität verbindet jeder heute etwas Eigenes, Individuelles, angefangen mit der Frage, wohin es gehen soll und wie lange. Von daher ist es sehr schwierig, zu den Begriffen wie 'Urlaub' und 'Reisen' überhaupt Statistiken zu erheben," erklärt Tourismusforscher Harald Zeiss.
Dennoch sei es möglich, einige Muster im Reiseverhalten der Deutschen abzulesen. Ungefähr 70 Prozent der Bundesbürger schmieden jedes Jahr Reisepläne. In der Zeit vor der Corona-Pandemie entschieden sich zwei Drittel der deutschen Touristen dafür, im Inland Urlaub zu machen – erst dann seien Reiseziele wie die Türkei oder Spanien gekommen. Etwa 70 Millionen Urlaubsreisen habe es in Deutschland gegeben. Bevorzugtes Verkehrsmittel sei dabei weiterhin das Auto, so Zeiss.
Ist der Massentourismus am Ende?
Die vielen Millionen von Touristen sind inzwischen in manchen Orten und Landstrichen Europas zum Problem geworden. Denn Scharen von Reisenden bringen nicht nur Geld, sondern auch Lärm und Müll in ohnehin schon überfüllte Städte wie Paris, Barcelona oder London. Einheimische und die Umwelt leiden. Touristen, die bereit sind, viel Geld für ihre Unterkunft auszugeben, treiben selbst in kleinen deutschen Urlaubsdörfern die Immobilienpreise in die Höhe, so dass sie für Einheimische unerschwinglich werden. Wohnungen tage- oder wochenweise an Reisende zu vermieten ist lukrativer, Einheimische, die eine dauerhafte Bleibe suchen, haben das Nachsehen.
Städte und Regionen versuchen deshalb, den massentourismus mit Gebühren, Verboten und Auflagen einzudämmen. Viele deutsche Ortschaften verlangen Kurtaxe von ihren Gästen. In Barcelonas Innenstadt sind Stadtführungen nur noch für kleine Touristengruppen gestattet. Venedig erhebt ein Eintrittsgeld für Tagesgäste, die die Stadt besuchen wollen und nicht vor Ort übernachten. Und aufgrund der chaotischen Zustände im Flugverkehr nach der Corona-Krise haben Fluglinien wie die Lufthansa bereits angekündigt, die Ticketpreise dauerhaft anzuheben.
Bedeutet all das ein Ende des Massentourismus, wie wir ihn kennen? In der Tat könnten Reisen in ihrer bisherigen Form für viele Menschen zu teuer werden. "Das wird diejenigen, die wirklich reisen wollen, jedoch kaum vom Reisen abhalten. Die Touristen suchen sich einfach neue, günstigere Ziele", ist sich Harald Zeiss sicher. An ein Ende des Massentourismus glaubt er nicht.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Unterwegs in Sachsen-Anhalt | 06. August 2022 | 18:15 Uhr