FDGB-Feriendienst Massentourismus in der DDR: Ein ganzes Dorf lebte mit den Urlaubern
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14. Dezember 2020, 09:13 Uhr
Der kleine Ort Schellerhau bei Altenberg beherbergte in der Saison 1.700 Urlauber, das waren gut drei Mal so viele, wie das Dorf Einwohner hatte. Hinter dem Touristenboom der 1970er und 1980er stand der FDGB-Feriendienst, der nie genug Betten bereitstellen konnte. In Schellerhau nahm er deshalb die privaten Hauseigentümer unter Vertrag, die ihre freien Zimmer Urlaubern zur Verfügung stellten - gegen ein ordentliches Entgelt. Dem Ort tat das gut.
Die ersten Urlauber kamen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Eisenbahnschienen waren 1883 bis in den Nachbarort Kippsdorf gelegt worden - dort enden sie noch heute. Die Bahn brachte Wanderer und Wintersportler, die das gesunde Klima auf immerhin 761 Höhenmetern schätzten. In den 1920ern wurde das Skifahren populär, zumindest bei den Bewohnern von Dresden. Von dort kamen an einem Wochenende, so wurde damals gezählt, in nur zwei Stunden 11.000 Menschen mit dem Zug aus Dresden in Kippsdorf an. Manche blieben dort, andere fuhren mit Kutschen weiter ins schicke Bärenfels, und die Sportler und Naturfreunde liefen nach Schellerhau. Noch heute erkennt man anhand der Architektur, wer wo urlaubte.
Ohne Heizung, ohne Wasser, nur mit Waschschüssel
Die Schellerhauer waren Bauern, die den kargen Böden und dem Wald ihren Lebensunterhalt mühsam abtrotzen mussten. Als nun die Wanderer vor der Tür standen und eine Bleibe suchten, entstand daraus ein willkommenes Zubrot. Rainer Kunze, heute 82 Jahre alt, weiß, dass schon seine Großeltern Gäste beherbergten. "Auch meine Eltern haben schon vor der DDR-Zeit vermietet - aber nur im Sommer, ohne Heizung und ohne Wasser, und es gab nur eine Waschschüssel. Aber die Leute waren zufrieden und kamen wieder." Erst zu DDR-Zeiten beherbergte die Familie auch Wintersportler. "Die kamen Samstag zu Sonntag und hatten alles mit, was sie brauchten. Sie zahlten zwei Mark und waren in die Familie eingegliedert, saßen mit in der Stube und lagen auf dem Sofa. Wir haben uns gefreut, es waren eben ein paar Mark!"
FDGB: "Casino" als zentrales Haus für alle Mitglieder
Anfang des vergangenen Jahrhunderts entstanden auch in Schellerhau die ersten richtigen Pensionen und Gasthäuser. In der DDR dienten sie Betrieben als Ferienheime. Anfang der 1960er Jahre kam Ursula Schüller mit ihrem Mann zum Urlauben ins Heim des VEB Pentacon Dresden. Der Ort gefiel ihnen so gut, dass sie dort für immer bleiben wollten. Zu der Zeit baute der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) gerade ein zentrales Casino für seine Urlauber, die in verschiedenen Vertragszimmern im Ort verstreut wohnten. Die Schüllers nutzen die Gelegenheit, bewarben sich und wurden Hausmeister und Beschließerin in der neuen Einrichtung. Frau Schüller war nun unter anderem für die gesamte Wäsche des FDGB in Schellerhau zuständig und blieb es bis zum Ende des Jahres 1990.
Wenig Arbeit und gutes Gehalt für die Vermieter
Der FDGB baute in dem kleinen Ort ein perfektes System aus dem zentralen Casino und vielen privaten Vertragszimmern. Es hatte Vorteile für alle Beteiligten. Die Hausbesitzer stellten Zimmer zu Verfügung, die mindestens mit Betten, Schrank, Tisch, Stuhl und einem Waschbecken mit kaltem und warmem Wasser ausgestattet sein mussten. Zum Essen gingen die Gäste ins FDGB-Casino, wo sie auch einen Fernsehraum, eine Bibliothek und für die Kinder eine Spielecke fanden.
Im Casino nahm Ursula Schüller zu jedem Bettenwechsel auch die schmutzige Wäsche entgegen und gab frische aus. Die Vermieter hatten somit relativ wenig Arbeit mit den Gästen. In den Verträgen mit dem FDGB wurde zudem festgehalten, dass die Zimmer zu 90 Prozent ausgelastet werden mussten! Das bedeutete jeden Monat ein zusätzliches Gehalt für die Hausbesitzer. Eine Win-Win-Situation für alle: Der FDGB konnte seine immer knappen Übernachtungskapazitäten aufstocken, die Urlauber hatten ein Dach überm Kopf und bei den Hauseigentümern klingelte es in der Haushaltskasse. Man könnte fast meinen: ein Stück Marktwirtschaft unter den fittichen der sozialistischen Genossenschaft!
"Sei leise, die Gäste schlafen noch"
Vermieterin Evelyn Kunze erzählt: "Die Häuser waren alle in Schuss. Wenn man jeden Morgen aufsteht und für vier Betten je 7,50 Mark bekommt, dann kann man schon was anfangen damit." Ute Liebscher, ebenfalls Vermieterin, ergänzt: "Am 1. Januar wusstest du theoretisch, welchen Grundverdienst du am Jahresende hast. Damit konnte man rechnen und das auch wieder investieren."
Allerdings ist es ein spezielles Leben, immerzu Fremde im Haus zu haben. Die Kinder der Schellerhauer wuchsen auf mit Sätzen wie "Sei leise, die Gäste schlafen noch." Aber sie wussten die Situation auch zu nutzen. Da die FDGB-Gäste zentral am "Casino" ankamen, warteten dort die Kinder mit Leiterwagen oder Schlitten. Sie fuhren ihnen für ein paar Pfennige Taschengeld die Koffer durch den weitläufigen Ort zum Quartier.
Auch Ute Liebscher hat sich als Kind mit ihren Geschwistern um das lukrative Geschäft gestritten: "Da gab es eine Hierachie. Die Großen waren die Ersten in der Reihe und als Kleiner musstest du dich hinten anstellen, da konntest du dich nicht vordrängeln!"
Jedes Bett war unter Vertrag
Im Zuge der Wiedervereinigung 1990 wurde der FDGB-Feriendienst aufgelöst. Die Urlaube, die er vermittelt hatte, waren sogenannte sozial-touristische Pauschalreisen gewesen. Für 13 Tage zahlten die Mitglieder oft weniger als 100 DDR-Mark, und das für Unterkunft und Vollverpflegung. Finanziert wurde das aus den Gewerkschaftsbeiträgen und Zuschüssen aus dem Staatshaushalt. Fast von heute auf morgen war Schluss. Die Schellerhauer bauten Ferienwohnungen aus den Zimmern und gründeten einen Vermieterverein. Heute ist es viel ruhiger im Dorf. Touristen kommen immer noch, aber nicht mehr so viele wie in den 1970er und 1980er Jahren, als der FDGB jedes Bett, das er kriegen konnte, unter Vertrag nahm.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Zeitreise - Sofa frei im Erzgebirge | 22. März 2020 | 22:00 Uhr