16 Familien-Rundbriefe aus dem 1949 sind im Familiennachlass von Maria Bastille zu finden
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Vor 75 Jahren 1949 in Ost und West: Wie prägt uns Familie?

07. Oktober 2024, 18:00 Uhr

Als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wird, wird im thüringischen Petriraoda aus Strohsäcken eine Matratze gemacht. Und als wenige Monate zuvor, am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Bonn verabschiedet wird, ist in Bremen große Wäsche. Zwei Frauen aus Ost und West machen sich auf persönliche Spurensuche, wie es ihren Familien 1949 ergangen ist. Einem Jahr, das für die Deutschen die wichtigste Zäsur für viele Jahrzehnte sein wird: die Teilung in zwei deutsche Staaten vor 75 Jahren.

Im Zug von Halle nach Thüringen liest Maria Bastille noch einmal die Briefe ihrer Großmutter durch. Die 45-jährige reist anhand von Briefen und Fotos ins Jahr 1949. Ein besonderes Jahr deutscher Geschichte. Das Ende der Besatzungszeit. Der Beginn der deutschen Teilung. Ein Schicksalsjahr für 70 Millionen Deutsche. Auch für Bastilles Familie, die in dieser Zeit aus Schlesien flüchten muss und auseinandergerissen wird. Ein Teil landet im Westen. Ein anderer Teil im thüringischen Petriroda.

Maria Bastille, Jahrgang 1979 aus Sachsen-Anhalt, fragt sich: Was hat meine Großeltern im Osten gehalten?
Maria Bastille, Jahrgang 1979 aus Sachsen-Anhalt, fragt sich: Was hat meine Großeltern im Osten gehalten? Bildrechte: MDR/Radio Bremen/Kinescope

Je mehr ich mich mit der Geschichte meiner Großeltern beschäftige, glaube ich, dass es mit mir zu tun hat.

Maria Bastille

Bewachte Zonengrenzen, Kriegsverluste, Trauer

"Vielleicht tritt ja doch bald eine Wendung der Dinge ein und die Grenze der Welt wird wieder aufgehoben", steht auf einem der gelblichen Papiere, die Maria Bastille in den Händen hält. Insgesamt 16 Familien-Rundbriefe gibt es aus diesem Jahr, handgeschrieben, in denen sich vor allem die Ehefrauen austauschen. Oft geht es um Schwester Hanna, die ihren Mann 1943 im Krieg verloren hat. Vom Wunsch, die Verwandten im Westen einmal wiederzusehen. Trotz bewachter Zonengrenzen.

Käte und Heinrich Krebs, die Großeltern von Maria Bastille, sind 1949 nicht mit der Politik befasst, sondern damit beschäftigt, zwei Strohsäcke zu bündeln.

16 Familien-Rundbriefe aus dem 1949 sind im Familiennachlass von Maria Bastille zu finden
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Als am 7. Oktober 1949 die DDR gegründet wird, so erfährt Maria Bastille aus den Briefen, wird aus diesen Strohsäcken eine Matratze gemacht. Die Flüchtlinge aus Schlesien sind erst vor wenigen Monaten im thüringischen 300-Seelen-Ort Petriroda gestrandet. Aber ihr Vermieter will das kleine Dachzimmer schon wieder anders vergeben. Dass Käte schwanger ist, hält sie vorerst geheim. "In einem der Briefe steht, es war eine schwierige, aber auch gottgegebene Zeit", erzählt die 45-jährige Bastille.

Transgenerationale Traumata: Was macht das mit einem?

Doch was haben Vertreibung und Neuanfang mit ihren Großeltern gemacht? Reichen diese Narben der Geschichte bis zu Maria? Sind sie der Grund für ihre eigene Wut und Trauer? "Ich habe mich irgendwann gefragt, ob es irgendwelche Ängste bei mir gibt, was mich so verspannen lässt. Je mehr ich mich mit der Geschichte meiner Großeltern beschäftige, glaube ich, dass es damit zu tun hat", so Bastille.

Schlesische Flüchtlinge: Nicht erwünschte Bittsteller

Katja Hoyer, Historikerin und Autorin
Katja Hoyer, Historikerin und Autorin des Buches "Diesseits der Mauer". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Offiziell nimmt im Osten Deutschlands das Leben 1949 wieder Fahrt auf. Es gibt Modenschauen, Faschingsfeiern und Turnmeisterschaften. Es geht scheinbar bergauf. Doch im Kleinen haben die Familien mit ihrem Schicksal zu kämpfen. In der sowjetischen Besatzungszone halten sich zu der Zeit über vier Millionen Flüchtlinge auf. Viele suchen Arbeit. Der Großvater von Maria Bastille findet eine Anstellung als Drucker im Nachbar-Städtchen. Die Familie bleibt in der "Ostzone", die sie ab da ihre neue Heimat nennen. "Die vielen Flüchtlinge, die aus den ehemaligen Ostgebieten gekommen sind haben sich nicht nach dem politischen System ihre neue Heimat ausgesucht, sondern danach, wo man irgendwie ankam und wieder Fuß gefasst hat", erklärt die Historikerin Katja Hoyer.

Wie sah das Leben im Westen aus?

In der "Westzone" erlebt eine Familie aus Bremen im Jahr 1949 eine andere Geschichte. Das erfährt die 21-jährige Jördis Krey von ihrer Großmutter Ingrid. "Meine ganze Familie kommt aus Bremen", erzählt die Geschichtsstudentin. "Alle, die den Krieg überlebt haben, sind im Westen geblieben." Aber wie sah das Leben damals aus?

Jördis Krey mit einem Bild ihrer Großmutter Ingrid am Tag der Jugendweihe 1949.
Jördis Krey mit einem Bild ihrer Großmutter Ingrid am Tag der Jugendweihe 1949. Bildrechte: MDR/Radio Bremen/Kinescope

Alliierte Soldaten: Auf der Suche nach Schmuck

Großmutter Ingrid ist damals 14 Jahre alt, die Konfirmation steht kurz bevor. Dafür will die Familie Schmuck eintauschen, um Stoff für ein neues Kleid zu bekommen. An diesem aber haben auch die alliierten Soldaten Interesse. Offiziell suchen sie nach versteckten Waffen.

Ingrid Krey im Jahr 1949 zu ihrer Konfirmation.
Ingrid Krey im Jahr 1949 zu ihrer Konfirmation. Den Stoff fürs Kleid haben sie gegen Schmuck getauscht. Bildrechte: MDR/Radio Bremen/Kinescope

"Ich war ganz verängstigt, das war schrecklich", erzählt die heute 89 Jahre alte Ingrid Krey ihrer Enkeltochter Jördis. "Und dann hatten wir noch so Schmuck von meiner Mutti und das hätten die ja auch mitgenommen. Da hat meine Oma gesagt: Steck das mal schnell in deinen Schlüpfer." Das Manöver gelingt. Und am 10. April 1949 wird Ingrid konfirmiert. In ihrem neuen blauen Kleid.

Eine Kindheit auf den Trümmern der Geschichte

Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz in Bonn verabschiedet wird, ist in Bremen große Wäsche. Und es ist der zehten Geburtstag von Jördis Opa Dieter Eck. Der lebt damals mit seiner Mutter und dem Bruder in zwei Zimmern im Erdgeschoss bei der Tante. Bisher kennt er nur ein Leben zwischen Ruinen. "Letztendlich haben wir eine tolle Kindheit gehabt auf den Trümmern, den Trümmern der blöden Geschichte", so Dieter Eck.

Im Mai 1949 kommen überraschend noch einmal zehntausend Heimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft. Dieters Vater ist nicht dabei. Es gibt keine Hoffnung mehr auf seine Rückkehr.

Recherche in Briefen und Archiven

Nun steht Jördis am Beginn ihres eigenen Lebensweges. Sie kann ihre Großeltern noch fragen. Anders als Maria Bastille, die in der Mitte des Lebens angekommen ist, und nur über Briefe vom Leben ihrer Großeltern erfahren kann. So entfaltet sich dieses Jahr 1949, das so viel Veränderung bringen wird und sowohl den Weg von Jördis Krey aus Bremen, als auch den von Maria Bastille aus Halle, mit prägen wird.

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 1949 in Ost und West: Zwei Familien und ihre Träume | 08. Oktober 2024 | 22:10 Uhr