Joachim Gauck: "Ich wollte inmitten der Menschen sein"
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16. Juni 2021, 17:38 Uhr
Im Mai 1991 sendete der Deutsche Fernsehfunk, das ehemalige Fernsehen der DDR, ein Porträt des Chefs der Stasiunterlagenbehörde Joachim Gauck. Der Titel der Sendung: "Gauck im Visier". Sehen Sie hier einige Ausschnitte.
Als Joachim Gauck zur Schule ging, hingen noch Stalin-Porträts in den Klassenräumen. Daran erinnert sich der Theologe besonders. Man sollte den sogenannten Antifaschismus in der DDR nicht stilisieren, meint Gauck rückblickend. "Es war ein brutaler Stalinismus damals. Eine schlimme Zeit." Ein einschneidendes und prägendes Erlebnis seiner Jugend war die Verhaftung seines Vaters.
Gaucks Vater spurlos verschwunden
Im Juni 1951 wurde Gaucks Vater, der ebenfalls Joachim hieß, eines Nachts verhaftet und galt seitdem als spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen der Familie bei der Polizei, der Kriminalpolizei und der Staatssicherheit blieben ohne Ergebnis. "Wenn die Russen Ihren Mann geholt haben, können wir nichts machen", hieß es überall. Wenige Wochen später wurde Joachim Gauck in einem Geheimprozess vor einem sowjetischen Militärtribunal in Schwerin wegen "Spionage und antisowjetischer Hetze" – als Beweisstück hatte der Militärstaatsanwalt übrigens eine nautische Fachzeitschrift aus dem Westen präsentiert - zu zweimal 25 Jahren verurteilt und in ein Straflager in Sibirien gebracht. Erst im Oktober 1955 wurde Joachim Gauck begnadigt und konnte zu seiner Familie zurückkehren.
"Kirchenarbeit am Küchentisch"
Nach dem Abschluss eines Theologie-Studiums war Joachim Gauck zunächst Pfarrer einer Landgemeinde in Mecklenburg. 1971 übernahm er eine Pfarrerstelle in einem Neubaugebiet in Rostock. Es war "Kirchenarbeit am Küchentisch", erinnert sich Gauck, denn eine Kirche gab es nicht. Gauck sah seine Aufgabe darin, "inmitten der Menschen" zu sein, das "Feld der Politik" wollte er, anders als einige seiner Kollegen, "nicht betreten". Er wollte stets "gerade noch akzeptiert sein" von der Staatspartei SED, und "nicht eingeschränkt" sein in der kirchlichen Arbeit.
Handel mit der Staatssicherheit?
Die Reporterin Susanne Köpcke berührt in ihrem Porträt einen heiklen Punkt – die 1991 mäandernden Gerüchte, dass Joachim Gauck mit der Staatssicherheit kooperiert haben soll. Eine Boulevard-Zeitung hatte die Gerüchte in die Welt gesetzt. Damit seine beiden Söhne 1987 in den Westen ausreisen dürfen, habe Gauck mit der Staatssicherheit kooperiert, so der Vorwurf. "Hat es diesen Handel gegeben?", fragt die Reporterin.
"Das sind ja nun ganz bescheuerte Leute"
Bereits 1991 sah sich Joachim Gauck mit heftigen Vorwürfen konfrontiert. Er sei eigentlich nie ein Bürgerrechtler oder Oppositioneller in der DDR gewesen, hieß es. Und, schlimmer noch: Er sei regelrecht "staatskonform" gewesen. "Das sind ja nun ganz bescheuerte Leute!", poltert der stets so souverän und gelassen wirkende Kirchenmann. Freilich, fügt er nachdenklich an, habe er in seiner Arbeit stets ein "realistisches Konzept" verfolgt, indem er sich immer die ernste Frage gestellt habe: "Was ist politisch machbar?"
"Ich war ein starker Mann, trotzdem habe ich geheult!"
Auch in der "Bezirkshauptstadt" Rostock gab es im Herbst 1989 Montagsdemonstrationen. Der evangelische Pfarrer Joachim Gauck war natürlich dabei. "Was haben Sie empfunden?", fragt die Reporterin. Gauck, der sichtlich bewegt ist und mit den Tränen kämpft, sagt: "Ich war ein starker Mann, trotzdem habe ich geheult." Und an seine Söhne habe er gedacht, die schon lange im Westen waren. "Die sind jetzt nicht da", habe er sich immer wieder gesagt. Bittere Momente…
Was ist von den Träumen geblieben?
Mai 1991. Gut anderthalb Jahre sind seit der friedlichen Revolution, den Montagsdemos und dem Ende der SED-Herrschaft vergangen. "Was ist von den Träumen geblieben?", fragt die Reporterin Joachim Gauck. Für Gauck eine ganze Menge: Dass man jetzt tatsächlich frei reden könne und reisen, wohin es einen beliebt. "Aber wir empfinden das nicht so", konstatiert Gauck mit ernstem Gesicht und salbungsvoll betonten Worten, "weil wir jetzt viele andere Probleme haben."
"Gauck ist kein Schwein!"
Am 4. September 1990 besetzten Bürgerrechtler die Zentrale des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße. Die Forderung, die die Besetzer mit der Aktion durchsetzen wollen: "Wir verhindern die Vernichtung oder Überstellung der Stasiakten. Wir arbeiten sie auf, nicht der Westen!" Gauck lehnt die Aktion der Besetzer, unter ihnen Ingrid Köppe, Bärbel Bohley und Wolfgang Templin, rundweg ab. Zu einem Gespräch kommt er aber in die Räume, in denen sich die Bürgerrechtler verschanzt haben. Wolf Biermann, der gerade vorbeigekommen war, um sich mit den Besetzern zu solidarisieren, versucht zu vermitteln: "Gauck ist kein Schwein, sondern er ist ehrlich!"
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR AKTUELL | 13. März 2019 | 14:00 Uhr