Flugzeugabsturz in der Sächsischen Schweiz Der Skandal um die "Hitler-Tagebücher"
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21. April 2023, 05:00 Uhr
1983 erhofft sich der "Stern" mit exklusiven Veröffentlichungen aus den "Hitler-Tagebüchern" eine Sensation. Angeblich waren diese am 21. April 1945 bei dem kleinen sächsischen Ort Börnersdorf vom Himmel gefallen. Doch was steckt wirklich hinter dem Absturz der Regierungsmaschine und deren eilig geborgener Fracht?
Am Morgen des 21. April 1945 stürzt in Börnersdorf, einem kleinen Dorf am Rande der Sächsischen Schweiz, eine Transportmaschine vom Typ Junkers 352 ab und explodiert. Doch es ist nicht einfach nur irgendein Flugzeug. Die Ju 352 gehört zum letzten Flugaufgebot der Reichskanzlei und soll kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs den persönlichen Stab von Adolf Hitler und sein Hauptquartier von Berlin ins südliche Bayern zum Obersalzberg evakuieren.
Absturz einer Regierungsmaschine
Auch im Krieg ist ein Flugzeugabsturz schon ein Ereignis. Die Bilder von den zur Unkenntlichkeit verbrannten und verschrumpelten Leichen aus dem Flugzeug gehen den Zeitzeugen, vor allem denen, die damals Kinder sind, nicht mehr aus dem Kopf. Doch so einiges ist den Börnersdorfern von Anfang an suspekt. Das Spekulieren und Fantasieren hört die nächsten Jahrzehnte auch nicht wieder auf …
Wer an diesem Aprilmorgen zur Unglücksstelle eilt, wird bald von Uniformierten wieder verjagt. Die in Börnersdorf stationierte Flak-Einheit sichert hektisch die verstreut umherliegende Fracht, holt zwei Überlebende aus dem Wrack und birgt die Toten. Schnell wird bekannt, dass die Junkers eine Regierungsmaschine war. Das dann, obwohl sich das nationalsozialistische Reich schon längst in Auflösung befindet, auch noch eine Untersuchungskommission eingesetzt wird, nährt das Misstrauen der Bevölkerung. Fragen stellt aber niemand.
War Adolf Hitler an Bord?
Von den beiden Überlebenden stirbt wenige Tage später einer. Er wird mit den anderen Absturzopfern auf dem Friedhof von Börnersdorf beigesetzt. Die Toten aus dem Flugzeug konnten bis auf einen Soldaten anhand von Erkennungsmarken und mitgeführtem Gepäck identifiziert werden. Drei Jahre später stellt sich heraus, dass die beiden Frauen, die man unter den Opfern vermutet hatte, noch am Leben sind, weil sie zu einem anderen Berliner Flugplatz gebracht worden waren. Damit sind drei der Toten in der Gräberreihe nicht identifiziert. Das gibt Spekulationen noch mehr Raum. Wider besseres Wissen reißen die Gerüchte nicht ab, dass Adolf Hitler und Eva Braun an Bord waren, dass sie die unbekannten Toten sind.
Komisch kommt den Börnersdorfern auch der Umgang mit der Fracht vor. Viele Kisten werden unmittelbar nach dem Absturz abtransportiert und gelten bis heute als verschwunden. Die Kinder von Börnersdorf haben diese Kisten und ihre Verladung aber gesehen. Was darin war? Die Vermutungen reichen von Munition über Schmuck und Gemälde zu Gold und Geld. Die Geschichten über die Kisten werden sich fast 40 Jahre, später auch für westdeutsche Journalisten, als verlockend und irreführend erweisen.
Es waren Holzkisten dabei und meines Erachtens sind die anderen Stahlkisten gewesen. Zwei Mann mussten eine Kiste schleppen.
Sind Hitlers Tagebücher unter der Fracht?
Die Börnersdorfer sprechen viel über den Flugzeugabsturz – untereinander, nicht mit Fremden. Die Bauern und ihre Familien entwickeln ihre eigene Methode, das Geschehen zu verarbeiten. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn das Wrack wird ihr Ersatzteillager. Einer der Flugzeugmotoren dient bald zum Gaudi. Das schwere Ding wird Brautpaaren in der Nacht vor der Hochzeit vor die Tür gestellt, gewissermaßen als erste gemeinsame Bewährungsprobe. Aus den Scheibenresten des Wracks werden Fenster für den Hühnerstall. Die Kinder suchen immer wieder nach kleinen Gegenständen, spielen mit verschmortem Plexiglas.
Mit der Ruhe und dörflichen Idylle ist es dann plötzlich ab 1980 für Jahre vorbei. Die beiden "Stern"-Journalisten Gerd (Gerhard) Heidemann und Thomas Walde besuchen Börnersdorf im November 1980 zum ersten Mal. Dass in diesem Börnersdorf wirklich eine Reichsmaschine abgestürzt ist und die Todesopfer dort auf dem Friedhof begraben sind, elektrifiziert beide. Sie sind auf der Suche nach Hitlers Tagebüchern, gehen einem Hinweis nach, wonach die Aufzeichnungen in der abgestürzten Ju 352 ausgeflogen werden sollten.
Auch die Stasi interessiert sich für den Absturz
Eine seltsame Zeit in Börnersdorf beginnt. Begleitet vom DDR-Geheimdienst Stasi, der von den Recherchen aus Westdeutschland aufgescheucht ist, sieht sich Heidemann im Dorf um, gibt sich als Enkel bzw. Neffe eines Absturzopfers aus – darüber gehen die Erinnerungen auseinander. Parallel versucht die Stasi, aus den Dorfbewohnern mehr zum Flugzeugabsturz von 1945 herauszubekommen – mit wenig Erfolg. Neue Gerüchte entstehen: Die Stasi soll den Friedhof umgegraben haben. Nachgewiesen werden kann eine solche Aktion nicht. Was nach der Wende an Stasiakten zu den Börnersdorfer Vorgängen erhalten bleibt, zeugt davon, dass die Stasi genauso wenig durchblickte wie alle anderen.
West-Geschenke gegen Geschichten
Der "Stern"-Reporter Heidemann kommt mit typischen West-Geschenken wie Bohnenkaffee und Feinstrumpfhosen. Im Gegenzug gibt es Geschichten wie die von den abtransportierten Kisten. Es ist ein Geben und Nehmen: Horst Elbe, der den Absturz der Ju 352 als Sechsjähriger erlebte, erinnert sich:
Heidemann wollte ja etwas von dem Flieger. Und da hat mein Vater eben die Seitenscheiben, die zum Drehen waren, angeboten und gesagt, die sind aus dem Flugzeug! Die stammten aber von meinem Auto. Naja, ihm hat’s ein Päckchen Kaffee eingebracht.
Im Frühjahr 1983 ist es dann so weit. Das Magazin "Stern" kündigt am 25. April an, Dutzende Bände von Hitlers Tagebuch zu haben. Mehr als neun Millionen D-Mark bezahlt der Verlag "Gruner + Jahr" dafür. Am 28. April kommt die berühmte Ausgabe mit den ersten Auszügen daraus an die Kioske – trotz nicht ausgeräumter Zweifel an der Echtheit der schwarzen Kladden. Redaktions- und Verlagsleitung wollen ein Gutachten des Bundeskriminalamtes nicht abwarten. Bereits am 6. Mai steht fest, dass Hitlers vermeintliche Tagebücher eine Fälschung sind. Der Skandal ist perfekt und Börnersdorf gerät mit ins Lampenlicht der Weltöffentlichkeit.
"Hitlers Tagebücher" - statt Sensation Gefängnisstrafen
Die Tagebücher hat der Maler und Kunstfälscher Konrad Kujau, 1938 im sächsischen Löbau geboren und 1957 in den Westen gegangen, fabriziert. Und auch Kujau bedient sich – indirekt und unter falschem Namen – der geheimnisumwobenen Absturzgeschichte aus Börnersdorf hinterm Eisernen Vorhang. Er webt eine Herkunftsgeschichte, in der seine Brüder die Tagebücher aus der DDR schmuggeln müssen. Kujau sitzt letztlich wegen Betrugs drei von viereinhalb Jahren Haft ab. Der Skandal macht ihn berühmt, seine Fälschungen erreichen Original-Status und sind gefragt. Kujau stirbt im Jahr 2000.
Der Reporter Gerd Heidemann wird nach dem Skandal beim "Stern" entlassen und zu fast fünf Jahren Haft verurteilt, die er im offenen Vollzug verbringt. Die Karriere des einst weitgereisten und erfahrenen Journalisten ist beendet. "Stern"-Ressortleiter Thomas Walde, der den Deal maßgeblich mit eingefädelt hat, muss zwar auch gehen, kann aber später bei einem privaten Radiosender Fuß fassen und wieder aufsteigen.
Die Verwicklungen im Fall der gefälschten Tagebücher werden 1992 in der Filmkomödie "Schtonk" zugespitzt. In den Hauptrollen: Götz George als Reporter, Harald Juhnke als Ressortleiter, Uwe Ochsenknecht als Kunstfälscher und Christiane Hörbiger als Nichte eines der obersten Nazis. Die gefälschten Hitler-Tagebücher übergibt der "Stern" 2013 – 30 Jahre nach dem Skandal – an das Bundesarchiv in Koblenz.
Sächsisches Dorf wird zum Ziel von Sammlern
Und das sächsische Örtchen Börnersdorf? Das wird zu einem neuen Ziel für Jäger und Sammler von Nazi- und Wehrmachts-Devotionalien. Im Dorf müssen die Grabkreuze für die Absturzopfer vor ihnen in Sicherheit gebracht werden. Auf dem Friedhof erinnert inzwischen ein großer Gedenkstein an die Toten vom Flugzeugabsturz sowie an weitere Kriegsopfer.
Große Schätze sind den Börnersdorfern am 21. April 1945 offenbar nicht vom Himmel in den Wald gefallen. Aufgesammelt und gefunden werden im Laufe der Jahre vor allem Glasflaschen, darunter viele 4711-Fläschchen, Porzellanscherben, geschmolzenes Silber – alles Dinge, die eher auf einen privaten Umzug hindeuten. Ebenfalls zu den Fundstücken gehört ein Zahnarztbesteck, vom Leib-Zahnarzt der Nazi-Oberen auf den Weg geschickt.
Unterm Strich bleiben den Börnersdorfern sieben Jahrzehnte Aufregung im Schatten eines Flugzeugabsturzes, ausgelöst von Menschen, die an dessen geheime Fracht glauben wollten. Zeitzeuge Helmut Friebel schlägt deshalb wohl nach dem 30-jährigen Jubiläum des Skandals um die gefälschten Hitler-Tagebücher vor:
Lass ma’s so. Lass ma's ruhen.
Dieser Artikel erschien erstmals im April 2018.