Auswanderung Im Schatten des Gulag
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19. Januar 2017, 16:42 Uhr
Stalin will Moskau in eine neue Metropole verwandeln. Facharbeiter, Spezialisten und Ingenieure sollen mithelfen, den industriellen Aufbau des Landes zu bewältigen. Viele arbeitslose Deutsche folgen dem Aufruf. Auch Kommunisten, die den Verfolgungen der Nazis ausgesetzt sind, machen sich auf den Weg. Sie haben große Ideale. Ihre Kinder sollen eine neue Zukunft erleben und schon bald die Früchte des Kommunismus ernten können.
Die deutschen Emigranten arbeiten in Betrieben, Schulen, Verlagen und in der Partei. Sie bringen ihre ganze Energie in den Aufbau des Sozialismus ein. Viele nehmen die sowjetische Staatsbürgerschaft an und holen Angehörige nach. Die Sowjetunion wird zur zweiten - vermeintlich besseren - Heimat. Ihre Kinder nutzen Bildungsangebote, besuchen vorbildliche Kindergärten und Schulen und sollen zu überzeugten Sozialisten erzogen werden.
Zeit der Großen Repression
Stalin verkündet zwar, dass das Leben schöner und fröhlicher geworden sei, in Wahrheit hält jedoch die Furcht Einzug. Nicht nur die Emigranten trifft eine grausame Welle tödlicher Repression, die so wahllos wie die Opfer zahllos ist. Vermeintliche Feinde des Sowjetvolkes werden mit grotesken Beschuldigungen konfrontiert. Verhaftungen, Verschleppungen, Exekutionen folgen - Leben werden ausgelöscht. Besonders misstraut man den vorher so begeistert aufgenommenen Kommunisten aus aller Welt. Viele der Kinder haben ihre Väter und Mütter kaum kennengelernt, als sie diese schon wieder verlieren. Aus den Kindern der kommunistischen Hoffnung werden die Kinder von Volksfeinden.
Der Große Vaterländische Krieg
1941 beginnt der deutsche Feldzug gegen die Sowjetunion. Unter dem Krieg leidet das ganze Land. Doch für die deutschen Emigranten bedeutet er eine doppelte Gefährdung. Die Verfolger, vor denen sie geflohen waren, kommen ihnen bedrohlich näher. Ihre Kinder erleben gleichzeitig, dass sie mit den Eroberern identifiziert werden: "Deutscher" und "Faschist" - dazwischen scheint es keinen Unterschied mehr zu geben. Im Kampf um das eigene Überleben und das ihrer Kinder erhalten die Frauen und Mütter keine Hilfe von denen, die sie einst ins Land holten.
Sieg und Verbannung
Isoliert und in die unwirtlichsten Lebensbedingungen gezwungen, kämpfen Väter und Mütter auf den Plantagen von Kasachstan, in den Kohlegruben von Workuta oder in den Goldminen von Magadan um ihr Überleben. Sie sollen als Arbeitssklaven Rohstoffe für den Aufbau des Kommunismus und für die Kriegsproduktion gewinnen. Das Kriegsende bringt zwar Erleichterungen, aber nicht die Freiheit.
Wer aus dem Lager entlassen wird, findet sich in der Verbannung, als sogenannter Freigänger wieder. 1953, acht Jahre nach Kriegsende und mit dem Tode Stalins, keimt die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Deutschland erneut auf. Doch wo Eltern Sehnsucht und Heimweh spüren, erscheint ihren Kindern Deutschland wie eine bedrohliche Fremde, war es doch eigentlich das Land der Feinde ihrer Eltern.
Zweite Heimat DDR
Wer rehabilitiert wird, kann in die DDR ausreisen. Mit vereinten Kräften soll nun der Sozialismus aufgebaut werden. 1956 wird erstmals offiziell über die Verbrechen der Stalin-Zeit gesprochen. Für die Repressionsopfer und ihre inzwischen herangewachsenen Kinder hat das existentielle Bedeutung. Die Kinder der zurückgekehrten Emigranten ergreifen die Chancen auf Bildung und berufliche Entwicklung. Die SED unterstützt die Überlebenden von Haft und Verbannung und entschädigt sie für ihre Leiden – allerdings nicht als Opfer Stalins, sondern als Verfolgte des Nazi-Regimes. Nachforschungen oder gar öffentliches Reden über die Leiden und Schicksale zur Stalin-Zeit sind bis zum Fall der Mauer nicht möglich. Das Schweigen ist der Preis für ein Leben ohne weitere Ausgrenzungen und Verfolgungen.
Schweigen in der DDR
In der offiziellen Geschichtsschreibung der DDR kamen die Toten und Verfolgten des stalinistischen Terrors nicht vor. Den Gulag als System der Gewaltherrschaft gab es nicht. Erst mit Glasnost und Perestroika veröffentlichten Überlebende, die bis dahin geschwiegen hatten, in den 1980er-Jahren ihre Erinnerungen. Die Archive in Moskau waren jedoch nur für eine kurze Zeit für sie zugänglich. Bis heute ist das Schicksal vieler nicht aufgeklärt.