Kindertränen und seelische Schäden Wenn Eltern zu Fremden werden: Eine Kindheit in der Wochenkrippe in der DDR

21. Juni 2022, 17:00 Uhr

Mindestens einhunderttausend Kinder waren zwischen 1950 und dem Ende der DDR in sogenannten Wochenkrippen untergebracht. Die Kleinsten verbrachten Tag und Nacht in diesen Einrichtungen, damit die Eltern beim Aufbau des Sozialismus helfen konnten. Doch nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen sozialistischen Staaten wie in der Tschechoslowakei glaubte man an die kollektive Dauerbetreuung der Kleinkinder. Diese Art der Unterbringung ist heute zurecht umstritten, denn sie hinterließ bei manchen Kindern lebenslange seelische Wunden.

Die Geschichte der Wochenkrippen beginnt in den frühen Fünfzigerjahren. Noch ist die DDR jung und was sie vor allem braucht, sind Arbeitskräfte. Auch die Frauen packen in der Sechs-Tage-Woche voll an. Doch wohin mit den Säuglingen und Kleinkindern, wenn die Mütter bereits wenige Wochen nach der Geburt wieder zur Arbeit gehen? Denn der bezahlte Mutterschutz endet sechs Wochen nach der Entbindung. Besonders für Alleinerziehende ist es schwierig, die Familie und den Beruf miteinander zu vereinbaren.

"Babyjahr" in der DDR

In der DDR trat bereits 1950 das "Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" in Kraft, in dem neben dem Mutterschutz auch der Ausbau der staatlichen Kinderbetreuung und die Förderung der berufstätigen Frau festgeschrieben wurden. Frauen wurden fünf Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes freigestellt und bekamen Leistungen in voller Höhe ihres Lohnes. Erst in den 1970er-Jahren gab es in der DDR Reformen, die das sogenannte "Babyjahr" möglich machten.

Die Idee: Wochenkrippen zur Dauerbetreuung

Um auch alleinerziehende Mütter auf dem Arbeitsmarkt einsetzen zu können, schuf die DDR das Konzept der Wochenkrippe. Kleinkinder und Säuglinge im Alter zwischen sechs Wochen und drei Jahren konnten in diesen Einrichtungen am Montagmorgen abgegeben werden. Anders als in der Tageskrippe wurden sie aber erst zum Wochenende abgeholt. Die Kleinkinder und Babys verbrachten in der Regel mindestens vier Tage und Nächte in der Einrichtung, weit entfernt von familiärer Geborgenheit und ihren eigentlichen Bezugspersonen. Die Plätze in den Wochenkrippen wurden von den Betrieben zur Verfügung gestellt. 1965 gab es mehr als 40.000 Plätze dieser Art in der DDR.

Doch für die frischgebackenen Mütter war die Abgabe der Kinder eine schmerzliche Situation, die durch gesellschaftlichen Druck erzwungen wurde. Auch Christa Jahne aus Oschatz in Sachsen musste ihre Tochter Birgit notgedrungen in einer Wochenkrippe abgeben. Heute erinnert sie sich an die qualvollen Momente zurück:

Als Mutti tat dir das schon weh, wenn du das Kind montags weggeschafft hast. Aber es ließ sich nicht anders machen. Und Sonnabends? Da wollte sie nicht heim!

Christa Jahne

Nach dem Ende des kurzen Mutterschutzes, der in der DDR in den 60er-Jahren nur sechs Wochen betrug, mussten die Frauen zurück ins Berufsleben. Zusätzlicher Druck entstand für sie durch die fehlende finanzielle Absicherung und die traditionelle Haltung vieler Väter.

Frauen auf dem Arbeitsmarkt in der DDR

In der DDR stand der Großteil der Frauen im Berufsleben und das sogar in Vollzeit. Zwischen 1979 und 1989 waren rund 90 Prozent der Frauen erwerbstätig. Zum Vergleich: In Westdeutschland waren es im gleichen Zeitraum nur rund 60 Prozent der Frauen, die erwerbstätig waren. Durch die hohe Anzahl der arbeitenden Frauen in der DDR war auch das öffentliche Kinderbetreuungsangebot in der DDR stark ausgebaut.

Grafik: Mann und Frau, ausgeglichen auf einer Waage mit Video
Die volle Gleichberechtigung der Frau ist, trotz der Meilensteine in der DDR-Verfassung oder der Gleichberechtigung am Arbeitsplatz von 1980, immer noch nicht abgeschlossen. Bildrechte: Colourbox.de

Für Christa Jahne als Krankenschwester mit Schichtdienst war die Wochenkrippe ein "Rettungsanker". Und auch für viele andere Frauen war es die einzige Möglichkeit, Kind und Beruf zu vereinbaren. Auch wenn die Abgabe in die Wochenkrippe meistens freiwillig war, beeinflusste die öffentliche Meinung die Mütter in ihrer Entscheidung.

Anfang der 60er-Jahre gab es größere Diskussionen in Zeitschriften wie der "Für Dich". Wer ist die bessere Mutter? Die Hausfrauenmutter oder die arbeitende Mutter. Das klare Plädoyer war immer für die arbeitende Mutter.

Prof. Florian von Rosenberg Erziehungswissenschaftler Universität Erfurt

Eine "gute Mutter" kehrte möglichst schnell an den Arbeitsplatz zurück oder beendete ihr Studium, um gleichberechtigt Geld für die Familie zu verdienen. Dadurch wurde ihre früheste Kindheit, in der die Bindung an die Eltern für die Kinder besonders wichtig ist, abrupt unterbrochen. Allein in Dresden waren es mindestens 10.000 Kinder, die ihre Kindheit in den Wochenkrippen verbrachten. Insgesamt gehen Forscher von über 100.000 Betroffenen in der DDR aus.

Negative Folgen der Betreuung

Dabei waren die negativen Folgen der Wochenbetreuung schnell erkennbar. So sind viele "Wochenkinder" häufiger krank gewesen, hatten eine verzögerte Sprachentwicklung und motorische Schwierigkeiten. Forscher fanden das bereits in den 1950er-Jahren heraus. Die Regierung kannte diese Befunde. Das Platzangebot der Wochenkrippe wurde dennoch weiter ausgebaut. In anderen sozialistischen Staaten wurden die Entwicklungsstörungen ernst genommen und das Betreuungsmodell abgeschafft. Neben diesen frühkindlichen Problemen berichten die Betroffenen, die nun in ihren Fünfzigern sind, auch von langfristigen psychischen Störungen.

Seelische Schäden als Folge der Wochenkrippe

Die ehemaligen "Wochenkinder" berichten von Bindungsängsten, Depressionen oder psychische Zusammenbrüche. Besonders häufig treten diese Probleme zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr auf.

Die Wochenkrippe war ein enormer und massiver, man könnte sogar sagen brutaler Einschnitt in die Bindung zwischen dem Kind und ihren Eltern.

Prof. Florian von Rosenberg Erziehungswissenschaftler Universität Erfurt

Die fehlende Bindung - in Kinderjahren geprägt - bestimmt das Leben der Betroffenen bis heute. Auch Andrea aus Senftenberg in Brandenburg hat die ersten drei Lebensjahre getrennt von ihren Eltern erlebt. Wenn sie über diese Zeit spricht, kämpft sie mit Tränen. Als glückliches und freudvolles Kind würde sie sich keinesfalls beschreiben.

Ich fühlte mich verzweifelt. Meine Mutter sagte, ich war bockig. Es war dieser Konflikt, nirgends Liebe und Nähe zu erfahren. Weder im Wochenheim noch zu Hause.

Andrea aus Senftenberg Ehemaliges "Wochenkind"

Sie lebt mit Depressionen und versuchte durch Therapien die Trennung in Kindertagen aufzuarbeiten. Wie wichtig die Bindung zwischen Eltern und Kind ist, wurde in der DDR bis in die 80er-Jahre ignoriert. Eine öffentliche Diskussion über Wochenkrippen und die gesundheitlichen Folgen gab es nicht. Im Gegenteil: Regierung und die Medien propagierten die Wochenkrippen als durchweg positiv. Als "Satt, sauber und gesund" wurden die Kinder beschrieben.

Mittlerweile hat das umstrittene Konzept der Wochenkrippe ausgedient. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten konnte es sich nicht als öffentliches Betreuungsangebot behaupten. Die letzten Wochenkrippen schlossen 1992 ihre Tore. Eine richtige Entscheidung, wenn man die Ergebnisse der Studie des ifo-Institutes betrachtet. Demnach sind Menschen, deren Eltern in der DDR eine längere Elternzeit hatten, im Erwachsenenalter langfristig zufriedener.

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Dieser Artikel erschien erstmals am 4. August 2021.

Dieses Thema im Programm: Die Tränen der Kinder - Wochenkrippen in der DDR | 04. August 2021 | 16:00 Uhr