Kollektives Trauma Von der Leipziger Völkerschlacht zum Wiener Kongress
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von Dr. Daniel Niemetz
19. Oktober 2023, 09:30 Uhr
Nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 herrscht ein Bild des Grauens. Über 100.000 Tote liegen auf dem Schlachtfeld. Ganze Ortschaften sind verwüstet. Die bislang größte Schlacht der Geschichte wird zum kollektiven Trauma. Für den Leiter des Leipziger Völkerschlachtdenkmals, Dr. Steffen Poser, sorgen Leipzig und die anderen furchtbaren Schlachten der Napoleon-Kriege auch für einen Sinneswandel bei Feldherren und Monarchen. Beim Wiener Kongress 1815 finden sie eine neue Friedensordnung.
Nach dem Ende der Kämpfe in der Völkerschlacht bei Leipzig am 19. Oktober 1813 bietet sich den zeitgenössischen Beobachtern in und um die sächsische Messestadt ein Bild des Grauens und unbeschreiblichen Elends. Mehr als 100.000 Soldaten beider Seiten sind in den vier Tagen der bis dahin größten Schlacht der Menschheitsgeschichte getötet oder derart schwer verwundet worden, dass sie in den Folgetagen ihr Leben aushauchen. Allein der Sturm der verbündeten Österreicher, Preußen, Russen und Schweden auf Leipzig und der verlustreiche Rückzug der Franzosen am letzten Schlachttag lassen Abertausende Gefallene und Schwerstverwundete im Stadtgebiet zurück.
Tote auf Straßen und in Flüssen
Der Leipziger Bürger Ludwig Hußel erinnert sich später: "Die Toten bedeckten alle Straßen und namentlich in der Vorstadt. […] Der Raum, den Leipzig mit all seinen Vorstädten einnimmt, wird nicht viel weniger als eine Quadratmeile ausmachen. Hier war selten ein Platz, wenn er nicht mit Häusern besetzt war, wo man nicht gefochten hatte. Überall stieß man auf Tote."
Als besonders "grässlich" und "furchterregend" beschreiben Hußel und andere Zeitzeugen Richters Garten, eine Gartenanlage im Westen Leipzigs, durch welche die Franzosen am 19. Oktober über die Elster fliehen. Der Leipziger Ferdinand Grautoff erinnert sich an die apokalyptischen Bilder, die sich ihm dort tief ins Gedächtnis eingraben: "Der schwarze moorige Fluss war wie gedämmt von Leichen der Menschen und Pferde. Längs beiden Rändern des schmalen Flusses hoben sich bald über das Wasser viele tausend Arme, die zum Teil schon mit den Händen in das Gras des hohen Ufers fassten."
Leichen-Stapel und Verwundeten-Massen
Zu "vielen Hunderten" werden die Leichen "auf Haufen" aufgestapelt und später vergraben. Neben einer Unzahl Gefallener sind die Straßen und Plätze Leipzigs von einer Vielzahl Schwerstverwundeter übersät, die – sofern sie zu Napoleons Armee gehören – hungernd und frierend ihrem Ende entgegen sehen. Hinzu kommen nach Angaben Grautoffs zahlreiche französische Gefangene, die unversorgt den "greulichen Hungertod" sterben. Dem Zeitzeugen Maximilian Poppe zufolge werden "die französischen schwer Blessierten" gar nicht erst versorgt, sondern gleich "erschlagen".
Immerhin, so der Zeitzeuge Grautoff, retten "die Sieger noch so manches Leben" ihrer eigenen verwundeten Soldaten. Aber selbst deren Schicksal ist häufig alles andere als beneidenswert, wie eine Beschreibung des in preußischen Diensten stehenden Arztes Johann Christian Reil offenbart: "In Leipzig fand ich ohngefähr 20.000 verwundete und kranke Krieger von allen Nationen." Mit Grausen schildert Reil in seinem Bericht über das Lazarettwesen anno 1813 die katastrophale medizinische Behandlung, die den Verwundeten in Leipzig zuteilwird: "Einer Amputation sah ich mit zu, die mit stumpfen Messern gemacht wurde. Die braunrote Farbe der durchsägten Muskeln, die fast schon zu atmen aufgehört hatten, des Operierten nachmalige Lage und Pflege gaben mir wenig Hoffnung zu seiner Erhaltung."
Verbrannte Orte und geplünderte Tote
Kein bisschen besser sieht es auf dem riesigen Schlachtfeld außerhalb der Stadtmauern von Leipzig aus. Das Terrain, dass mehr als 200 Quadratkilometer umfasst, ist übersät von Toten und Verwundeten. Ferdinand Grautoff berichtet von einem Gang, der ihn am zweiten Tage nach der Völkerschlacht auf die endlosen Totenfelder vor Leipzig führt: "Die nackten [von Leichenfledderern ausgeplünderten und entkleideten, D.N.] Leichen lagen noch alle unbeerdigt, und aus dem Schutte der Dörfer stieg noch hin und wieder der Rauch."
Den "furchtbarsten Anblick" habe das Dorf Schönefeld geboten, das nach den Beschreibungen des Pfarrers Seyfart aus dem benachbarten Taucha während der Schlacht "in Schutt und Graus begraben" ward. Auch nach Grautoffs Bericht liegt Schönefeld nach mehreren Besitzerwechseln im Zuge des Schlachtgeschehens "bis auf wenige abgedeckte Häuser ganz in Schutt" und bietet "in der nächsten Umgebung von der Stadt den furchtbarsten Anblick". Weiter schreibt er: "Ringsum hatte der Tod reiche Ernte gehalten; wohl 3.000 bis 4.000 Leichen lagen hier ausgestreut, oft 20 bis 30 in einer Reihe, wie sie im anstürmen von den Kartätschen niedergeschmettert waren."
Kannibalismus und Massengräber
Doch nicht nur Massen an Toten, auch viele Schwerstverwundete liegen noch Tage nach der Schlacht völlig unversorgt auf dem Leipziger Schlachtfeld, vor allem dann, wenn es sich um Angehörige von Napoleons Armee handelt. Grautoff berichtet von einem französischen Gardisten, dem eine Kanonen-Kugel beide Beine zerschmettert hat: "Schon fünf Tage und Nächte lag er hier im regnicht kalten Herbstwetter; doch konnte er noch erzählen, wie er an dem schon mehr als halb verzehrten Arme einer neben ihm liegenden Leiche sich bis heute genährt und unter dem wenigen Stroh, das unterlag, kümmerlich erwärmt habe." Es ist ein Fall von Kannibalismus, wie er vom Schlachtfeld bei Leipzig mehr als einmal berichtet wird.
Wohl ahnend, dass zehntausende tote Soldaten und Pferde eine Gefahr für die Gesundheit der Bewohner von Leipzig und seinem Umland bedeuten würden, bemüht man sich um eine zeitnahe "Bestattung". Auf dem Leipziger Johannisfriedhof werden hunderte gefallene Soldaten kurzerhand auf den Hauptwegen der Gräberabteilung IV verscharrt. Auf dem Schlachtfeld vor den Toren Leipzigs werden zehntausende Krieger beider Seiten – von Kalk bedeckt – in gemeinsamen Massengräbern unter Feldern und Feldrainen versenkt.
Berge toter Pferde und Menschen
Außerhalb besiedelter Räume bleiben die Toten nicht selten noch Wochen nach der Schlacht unbestattet. So berichtet die aus dem zehn Kilometer südöstlich von Leipzig gelegenen Seifertshain stammende Auguste Vater in ihren Kindheitserinnerungen für Anfang November 1813 von grauenhaften Eindrücken auf dem Weg nach Leipzig: "Pferde und Menschen lagen noch überall in größter Menge herum und hemmten geradezu den Weg mit den schaudervollsten Anblicken. Der Kolmberg war wie übersät von toten Pferden und dunkelte grauenhaft herüber. Wir Mädchen waren außer uns und wollten nicht weiter. Doch der Vater trieb uns fort mit der Vorstellung, dass die Not gebiete, sich darüber hinwegzusetzen."
Trotz aller "Gleichgültigkeit des Krieges", die Auguste Vater später anführt, bleiben der Zeitzeugin "einzelne Bilder des mörderischen Kampfes" zeitlebens unvergesslich: "So sah man auf einer Wiese unfern des Fußsteiges nach Zweinaundorf zu eine ganze Reihe noch völlig montierter französischer Infanterie liegen, die eine einzige Batteriesalve auf einmal niedergeschmettert zu haben schien; denn sie lagen und standen zuletzt fast ganz regelmäßig aneinandergelegt, als wenn sie schliefen."
"Blut, Gehirn und Gedärme" bei Möckern
Dabei gehört Auguste Vaters Heimatort Seifertshain zu den Dörfern im Leipziger Umland, die der Furor des Krieges noch einigermaßen verschont hat. Ganz anders sieht es im – bereits erwähnten – Schönefeld oder den ebenfalls schwer zerstörten Orten Liebertwolkwitz, Wachau, Paunsdorf oder Lindenau aus. Zu den Dörfern um Leipzig, die nach dem Zeitzeugnis des Leipzigers Ferdinand Grautoff "nächst der um Schönefeld den traurigsten Anblick" bieten, gehört auch das nordwestlich von Leipzig gelegene Möckern. Dort verhindert am 16. Oktober 1813 der Angriff der Schlesischen Armee des späteren Generalfeldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher auf Napoleons Reserven den Gesamtsieg des Franzosen-Kaisers in der Völkerschlacht bei Leipzig.
Das Schlachtfeld bei Möckern ist ungeachtet dessen nicht weniger schrecklich. Ein Zeitgenosse Blüchers nennt das Gefecht bei Möckern den "schrecklichsten Tag". Der preußische General Ludwig Yorck von Wartenburg, dessen Korpskavallerie bei Möckern die entscheidende Attacke reitet, schreibt später: "Das Gefecht wurde mörderisch." Allein von der 16.000 Mann starken Infanterie der Preußen gehen 7.000 verloren.
Wie mörderisch das Schlachtgeschehen bei Möckern ist, bekommt ein Einwohner aus dem benachbarten Gohlis zu spüren, dessen Heimweg ihn in der darauffolgenden Nacht über das Schlachtfeld führt: "Ich musste über die Toten hinweg treten und auf ihnen hinlaufen und trat ins Blut, Gehirn und Gedärme der Franzosen, die da niedergehauen, zerrissen und niedergeschossen dalagen, dass mir schaudert, ich fror und mir ekelte, als ich nach Hause kam."
Blücher: "Morden bis zum Überdruss satt"
Auch Blücher selbst lassen die schauderhaften Eindrücke von Leipzig und anderen Schlachtenorden der Napoleonischen Kriege nicht unbeeindruckt. Knapp zwei Jahre später schreibt der preußische Generalfeldmarschall angesichts des Schlachtfeldes bei Waterloo 1815 seiner Frau: "Ich habe dieses Morden bis zum Überdruss satt." Der Leipziger Historiker und Leiter des Völkerschlachtdenkmals Leipzig, Dr. Steffen Poser, glaubt, dass diese unter den damaligen europäischen Feldherren und Monarchen weit verbreitete Haltung auch ganz stark von der Völkerschlacht bei Leipzig mitbeeinflusst war: "Es ist, glaub ich, kein Wunder, dass die sich dann eben in diesem Wiener Kongress getroffen haben [...], einfach weil keiner der Beteiligten mehr wirklich irgendetwas mit Krieg zu tun haben wollte. Die hatten es einfach alle miteinander satt und wollten nicht mehr."
Die waren alle fertig, die waren alle erschöpft bis zum Gehtnichtmehr.
Wiener Kongress bringt Jahrzehnte des Friedens
Dies, so sagt Poser, sei schon deshalb bemerkenswert, weil zum ersten Mal in der Geschichte so viele Länder erfolgreich versucht hätten, "Streitigkeiten und Konflikte mit Reden beizulegen und nicht, indem man sich gegenseitig den Schädel einschlägt". Und er glaube, so erklärt Poser weiter, "dass das diese furchtbaren Schlachten der vorangegangenen Jahre gewesen sind, die zu diesem Sinneswandel geführt haben". Und da habe "Leipzig auf alle Fälle einen Spitzenplatz inne".
Der Wiener Kongress, der zwischen dem 18. September 1814 und dem 6. Juni 1815 in der österreichischen Hauptstadt tagt und an dem die Vertreter von etwa 200 europäischen Staaten, Herrschaften und Städten teilnehmen, ordnet die politischen Verhältnisse in Europa nach der Niederlage Napoleons neu. Auch wenn einiges dabei an einen "Kuhhandel" erinnert, so habe die in Wien ausgehandelte neue europäische Friedensordnung doch für Jahrzehnte gehalten, so das Fazit Posers. Das auf dem Schlachtfeld von Leipzig erlebte Grauen, das über Jahrzehnte die Erinnerungskultur Leipzigs, Deutschlands und Europas prägte, hatte daran zweifelsohne einen großen Anteil.
Literaturhinweise
- Poser, Steffen: Die Völkerschlacht bei Leipzig. "In Schutt und Graus begraben", Leipzig 2013.
- Thamer, Hans-Ulrich: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Endkampf gegen Napoleon, München 2013.
- Die Völkerschlacht in Augenzeugenberichten. Vor Leipzig 1813. Hrsg. von Karl-Heinz Börner, Husum 2012.