Wendepunkt im Krieg? Stalingrad: Annäherung an einen Mythos
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31. Januar 2018, 09:04 Uhr
Der Mythos Stalingrad wirkt wie kaum ein anderes Kriegsereignis auf die Erinnerungskultur. Schon während der Kampfhandlungen begann die Legendenbildung auf beiden Seiten der Front und bestimmte noch im Kalten Krieg den Kampf um die Deutungshoheit über den Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges. Einen neuen Blick auf die Schlacht erlauben die 2012 veröffentlichten "Stalingrad-Protokolle", herausgegeben von Jochen Hellbeck.
Bis zur Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 galt die Wehrmacht als unbesiegbar. Die schnellen Erfolge in den so genannten Blitzkriegen ließen keinen Zweifel an der Überlegenheit der technisch hochgerüsteten Armee aufkommen. Doch brauchte die deutsche Kriegsmaschinerie auch Treibstoff, den man auf den kaukasischen Ölfeldern für sich erobern wollte. Stalingrad lag auf dem Weg der deutschen Offensive, die im Sommer 1942 begann. Von Bedeutung war die Industriestadt nicht nur wegen ihrer strategischen Lage, sondern auch wegen ihres Symbolwertes, schon wegen ihres Namens.
Vor der Schlacht
Der Vormarsch der Wehrmacht wird im vierten Kriegsjahr gestoppt. Leningrad und Moskau sind unbesiegt, um Stalingrad wird erbittert gekämpft. Großbritannien und die USA beliefern die UdSSR auf dem Seeweg mit Kriegsmaterial und Nahrungsmitteln - und die Rote Armee wird immer stärker. Nachdem Churchill und Roosevelt sich auf das Ziel einer bedingungslosen deutschen Kapitulation verständigen, beschließt Stalin, den Kampf um Stalingrad zu seinen Gunsten zu beenden. Die deutsche 6. Armee unter General Paulus wird eingekesselt, vernichtend geschlagen und weitgehend gefangengenommen.
Die Propaganda vom Heldendienst
Die Schlacht von Stalingrad sollte zu einem psychologischen Wendepunkt des Krieges werden. Mit ihr erlebte die Wehrmacht ihre größte Niederlage und der Glaube an ihre Unbesiegbarkeit war gebrochen. Der Untergang der 6. Armee wurde in der nationalsozialistischen Propaganda zum Heldendienst stilisiert. Das tatsächliche Geschehen blieb lange im Dunkeln.
Da die Nazis nicht schreiben konnten und nicht schreiben wollten, was sich in Stalingrad wirklich abgespielt hat, haben sie das ganze überhöhen müssen. Und da sind wir beim Begriff des Mythos.
Der Mythos von der "Armee auf verlorenem Posten, die um ihre Ehre kämpfte, aber die von Hitler verraten worden war", wirkte auch nach Kriegswende nach, wie der Historiker Jochen Hellbeck erklärt. Die andere Seite nutzte der Sieg der Roten Armee zur Überhöhung des Bildes von Stalin als eines weisen Lenkers und Kriegsherren.
Als einer der ersten reflektierte der im Exil lebende deutsche Schriftsteller Theodor Plievier mit seinem Roman "Stalingrad" die Schlacht. Im Auftrag der Sowjets, die ihn unmittelbar nach der Schlacht säckeweise mit Feldpostbriefen und Tagebüchern versorgten, entstand so ein Buch, dass das Elend der deutschen Soldaten im Kessel von Stalingrad vor Augen führte und die Frage nach Schuld und Verantwortung stellte. Es war alles andere als ein Heldenepos.
Es gibt bei Plievier keinerlei Ecken oder Kanten, wo man sich vielleicht überlegen könnte, ob es auch etwas Positives am Krieg gibt, ob bestimmte Verhaltensweisen durch den Krieg gestählt werden und einen besseren Menschen aus ihm machen. Das lässt Plievier bei sich nicht zu.
Plieviers Roman wurde in Ost und West verlegt und galt als das erste Buch, das über die wahren Umstände des Untergangs der 6. Armee aufklärte. In 14 Sprachen übersetzt zählt es noch heute zu den bedeutendsten Romanen über den Zweiten Weltkrieg.
Unternehmen Barbarossa
Am 22. Juni 1941 beginnt der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Bis zum Wintereinbruch soll der Feldzug beendet sein - doch es kommt anders. An den Planungen zur "Operation Barbarossa" ist maßgeblich der als brillanter Taktiker geltende General Paulus beteiligt. Im Januar 1942 erhält er den Oberbefehl über die 6. Armee - einen ursprünglich in Sachsen aufgestellten Kampfverband der Wehrmacht. Ziel Hitlers und seiner NS-Ideologie ist es, den gesamten europäischen Teil der Sowjetunion zu erobern. Das hieß für ihn, den "jüdischen Bolschewismus" zu vernichten und "Lebensraum im Osten" zu schaffen, also die Zivilbevölkerung gewaltsam zu vertreiben. An dem Feldzug nehmen auf deutscher Seite rund 3,6 Millionen Soldaten teil. Der Wehrmacht folgen die mörderischen "Einsatzgruppen", die vor allem in der Ukraine die ersten Massentötungen an der jüdischen Bevölkerung vornehmen.
Kampf um die Deutungshoheit
Mit dem Beginn des Kalten Krieges aber wurde auch der Mythos um Stalingrad ganz in den Dienst der jeweiligen Geschichtsschreibung gestellt. Als einer der ersten Filme widmete sich der sowjetische Zweiteiler "Die Stalingrader Schlacht" aus den Mosfilm-Studios 1949 dem Stoff. Filme wie dieser wurden zum Pflichtprogramm auch in der jungen DDR, standen sie doch für das Geschichtsbild vor, dass man sich in der DDR von Stalingrad machen wollte, ganz im Sinne der antifaschistischen Gründungslegende des Staates.
Die Filme hatten mit der Kriegsrealität auch sehr wenig zu tun. Und sie waren ideologisch sehr Schwarz-Weiß ausgerichtet und fanden deswegen absolut kein Publikum.
Einzelschicksale, die Geschichten von Kriegsheimkehrern fanden selten außerhalb der eigenen Familie Beachtung. Sie hatten Unglaubliches erfahren, konnten aber nicht darüber sprechen.
In der jungen Bundesrepublik entstand ein anderes, aber nicht unbedingt treffenderes Bild von Stalingrad. Die Frage vieler durch den Krieg körperlich und seelisch Gebrochener, ob ihr Opfergang einen Sinn hatte, ging ins Leere. Einfache Antworten aus "Landserheftchen" oder Memoiren ehemaliger Wehrmachtgeneräle betimmten die "Aufarbeitung". Filme wie "Hunde, wollt ihr ewig leben" aus dem Jahre 1959 zeichneten weiter das Bild vom einfachen Soldaten, der nur benutzt worden sei.
Im Kampf der Systeme wurde Stalingrad als Erinnerungsort in Ost und West vollkommen unterschiedlich aufgefasst. Für die DDR nahm dort mit der Wende des Krieges faktisch die eigene Geschichte ihren Anfang, an der Seite der siegreichen Roten Armee. In der Bundesrepublik bröckelte erst mit den kritischen Stimmen der 1968er das verklärte Stalingrad-Bild.
Es war klar, dass für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges die Faschisten verantwortlich waren - und die verortete man natürlich in Westdeutschland. Dass es auch viele Mitläufer in der DDR gegeben hatte, das scheute man sich zu thematisieren. Deswegen wollte man in DDR, glaube ich, auch keine Zeitzeugen befragen, die in der Wehrmacht gedient hatten.
So pflegten beide Seiten ihre Deutung bis zur deutschen Einheit. Auch wenn in der Bundesrepublik die Debatten in den 1970er und 1980er-Jahren für eine weitere Differenzierung sorgten, brachte erst eine Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung 1995 eine Wende im Diskurs: "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" lautete ihr Titel.
Die Dokumentation räumte endgültig mit der Legende von der sauberen Wehrmacht auf, die nur benutzt und in Stalingrad geopfert wurde. Auch Truppen der 6. Armee waren an Verbrechen beteiligt. Vom Opfermythos deutscher Soldaten in Stalingrad konnte fortan nicht mehr die Rede sein.
Stichwort: 6. Armee
In der 6. Armee kämpften viele Soldaten aus dem sächsischen Raum, denn der Stab dieser Truppe saß in Leipzig. Ursprünglich lief er unter dem Namen Heeres Gruppenkommando 4, dann wurde aus ihm noch vor dem Überfall auf Polen das Armeeoberkommando 10. Vor dem Frankreich-Feldzug erfolgte die Umbenennung in 6. Armee.
Eine neue Perspektive - Die Stalingrad-Protokolle
Auch heute, 75 Jahre nach der Schlacht von Stalingrad, ist der Mythos noch nicht vollständig ausgeleuchtet. So war bisher v.a. von den Opfern auf deutscher Seite die Rede. Auch wenn Historiker wie Wolfram Wette oder Jochen Hellbeck darauf hinwiesen, dass die Verluste auf sowjetischer Seite noch grauenerregendere Ausmaße hatten. Davon zeugt schon der Fakt, so Hellbeck, dass Stalingrad bei Kriegsausbruch knapp eine halbe Million Einwohner hatte, die Stadt bei der Rückeroberung durch die Rote Armee kaum noch 8.000 Einwohner zählte.
In russischen Archiven fand Hellbeck zudem verloren geglaubte Interviews, die er nun im Buch "Stalingrad-Protokolle" veröffentlichte und die eine erweiterte Sicht auf die Ereignisse erlauben. Angefertigt wurden diese Protokolle von einer Moskauer Historikerkommission, die noch während der Kampfhandlungen an der Schlacht Beteiligte befragte. Hunderte Zeitzeugen geben darin detailliert und sehr bewegend Auskunft über ihren Weg in den Krieg, über die Rolle, die sie in der Schlacht spielten, über ihre Eindrücke und Empfindungen.
Die große Intervention, die ich sehe, ist, dass wir jetzt die sowjetische Seite in einer solchen facettenreichen Fülle vor uns haben, dass im Grunde der Rotarmist nun vermenschlicht wird. Wir haben menschliche Stimmen, sehr, sehr viele an der Zahl, aus dem direkten Kriegsgeschehen.
So werden erst jetzt aus anonymen Kriegsteilnehmern Menschen mit Schicksalen - auf beiden Seiten.
Dieser Artikel wurde erstmals am 15. September 2015 veröffentlicht.
Die Experten
Jochen Hellbeck: Geboren 1966 in Bonn, hat in Berlin, Leningrad, Bloomington und New York Geschichte und Slawistik studiert und lehrt an der Rutgers University (USA). Veröffentlichte jetzt die "Stalingrad-Protokole".
Jens Ebert: Geboren 1959, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Moskau. Lehrtätigkeit an Universitäten in Berlin, Rom und Nairobi. Er lebt als Publizist in Berlin.
Wolfram Wette: Geboren 1940, Dr. phil., Historiker und freier Autor, 1971-1995 am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) in Freiburg i.Br.; Mitbegründer der Historischen Friedensforschung; seit 1998 apl. Professor an der Universität Freiburg; Ehrenprofessur an der russischen Universität Lipezk.