Kriegsende 1945 Eine Liebe im Schatten der Beneš-Dekrete
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10. März 2023, 18:28 Uhr
1948 kommt ihr erster Sohn zur Welt, heiraten dürfen Annemarie Trüber und Ondřej Rácz aber nicht. Als Angehörige feindlicher Völker – sie ist Deutsche, er Ungar – haben die beiden keine Rechte, auch kein Recht auf Liebe. In der Tschechoslowakei sind sie nicht einmal Bürger zweiter Klasse, denn sie wurden für staatenlos erklärt und müssen Zwangsarbeit leisten – eine Folge der berüchtigten Beneš-Dekrete. Doch ihre Liebe war stärker!
Als Ondřej Rácz seine Nachbarin Annemarie zum ersten Mal trifft, kann er die Augen nicht von ihr lassen. "Ich sehe sie noch vor mir, sie hatte ein rotes Kleid an und eine kurze, graue Jacke aus einer umgenähten Uniform, das stand ihr sehr gut", erzählt Rácz. "Er hat mich ständig angeschaut", erinnert sich Anna Maria Rácz, damals noch Annemarie Trüber.
Liebe trotz Sprachbarriere
Miteinander reden können die jungen Leute damals noch nicht, sie verstehen einander nicht. Er ist Ungar aus der Slowakei, sie ist Deutsche aus dem Sudetenland. Es ist Frühling 1947. Die beiden 19-Jährigen sind als rechtlose Arbeitssklaven auf einem Landgut eingesetzt. Beide waren noch bis vor Kurzem Staatsbürger desselben Landes: der Tschechoslowakei. Durch die Beneš-Dekrete verloren sie aber ihre Staatsbürgerschaft und wurden zu Fremden im eigenen Land erklärt. Die meisten Deutschen und Ungarn mussten ihr Vermögen abgeben und Zwangsarbeit leisten.
Beneš-Dekrete machen Sudetendeutsche rechtlos
Am 27. Oktober 1945 unterschrieb Edvard Beneš, Präsident der nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichteten Tschechoslowakei, das letzte der 143 Dekrete, die nach ihm benannt wurden. Traurige Berühmtheit erlangten sie, weil sie die ethnischen Minderheiten der Deutschen und Ungarn in der Tschechoslowakei rechtlos machten und damit die Grundlage für ihre Aussiedlung legten.
Doch das ist nur ein Teil der historischen Wahrheit, denn die meisten der Beneš-Dekrete betrafen völlig andere Lebensbereiche. Zwischen 1940 und 1945 entstanden, sollten sie die Arbeit der tschechoslowakischen Exilregierung regeln und später den Lauf des Staates nach Kriegsende sicherstellen – in einer Zeit, als das tschechoslowakische Parlament nicht arbeitsfähig war. Und so betrifft die übergroße Mehrheit der Beneš-Dekrete relativ profane Dinge wie die Beschleunigung der Gütertransporte bei der Bahn oder die Wiedereinführung der mitteleuropäischen Zeit.
Fünf der Beneš-Dekrete sollten allerdings Geschichte schreiben. Kurz nach Kriegsende wird das Vermögen von Deutschen und Ungarn unter staatliche Verwaltung gestellt. Einen Monat später wird ihr landwirtschaftlicher Besitz konfisziert und an "Personen slawischer Nationalität" verteilt. Am 2. August 1945 verlieren die Deutschen und Ungarn die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und werden damit rechtlos im eigenen Land – denn es handelt sich um Volksgruppen, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet der Tschechoslowakei leben.
Im September folgt eine Arbeitspflicht für die Ausgebürgerten und Ende Oktober die entschädigungslose Enteignung ihres restlichen Vermögens – nur ein absolutes Existenzminimum wie Kleidung, Bettwäsche und Arbeitswerkzeug dürfen die Betroffenen behalten. Viele sehen darin bis heute eine gerechte Strafe für Deutsche, die einen der schlimmsten Kriege der Weltgeschichte angezettelt haben, und ihre Verbündeten Ungarn. Andere kritisieren aber das Prinzip der Kollektivschuld, denn die Strafe traf alle Deutschen, ungeachtet dessen, ob sie sich tatsächlich im Krieg schuldig gemacht haben.
Ondřej und Annemarie haben nicht viel abzugeben, denn beide stammen aus armen Verhältnissen. Annemarie verliert ihr Sparbuch, das sie sich dank ihrer Arbeit als Dienstmädchen zulegen konnte. Die Eltern von Ondřej lassen bei der Aussiedlung zur Zwangsarbeit ein Häuschen und zwei Kühe zurück. Kurz vor Weihnachten 1946 tauchen vier Uniformierte bei ihnen in Veľké Blahovo auf.
Deutsche und Ungarn zur Zwangsarbeit verschleppt
Draußen wartet schon ein kleiner Lkw – und auch der neue Bewohner ihres Hauses, ein slowakischer Partisan. Als die ungarischen Familien aus der ganzen Gegend am Bahnhof in Dunajská Streda in einen Güterzug verfrachtet werden, bricht Panik aus. Die Menschen haben Angst, nach Sibirien zu kommen. Erst als sie merken, dass der Zug Richtung Westen fährt, kehrt wieder Ruhe ein. Die Reise der Ráczs endet auf dem Landgut Málkov westlich von Prag, wo sie zunächst mit einem Pferdestall als Unterkunft Vorlieb nehmen müssen.
Dort kreuzen sich die Wege von Ondřej und Annemarie, denn auch ihre Familie wird fast zur gleichen Zeit aus ihrem Heimatort bei Cheb dorthin verschleppt. Kurz vor Ankunft der Deutschen können die tschechischen Landarbeiter ihre Freude kaum verhehlen: "Jetzt werden wir nicht mehr selbst arbeiten müssen, sondern nur noch die Deutschen mit der Peitsche antreiben", sagt einer zu Ondřej.
Die Arbeit ist in der Tat schwer. Annemaries Bruder ist erst 15, muss aber beim Dreschen schwere Säcke schleppen, zwei Etagen hoch. "Er sah nicht aus wie 15, er war groß, hatte Hände wie Schaufeln. Wir hatten ja keine Dokumente und er sah aus wie 17 oder 18 Jahre alt", erinnert sich Annemarie. Sie selbst kommt in die Küche. Dort kann sie regelmäßig Ondřej sehen.
Liebe ohne Worte, nur Blicke und Berührungen
Der Funke springt sofort über. Annemarie und Ondřej können sich nicht mit Worten verständigen, aber Blicke und Berührungen reichen fürs Erste vollkommen aus. Die gemeinsame Stellung als rechtlose Zwangsarbeiter am untersten Ende der sozialen Pyramide festigt zusätzlich die Beziehung.
Im April 1948 kommt ihr erster Sohn zur Welt. Heiraten dürfen die beiden aber nicht. Sie sind nach der Ausbürgerung aufgrund der Beneš-Dekrete staatenlos, haben keine Bürgerrechte und keine Ausweispapiere.
Wir hatten nur das Recht zu arbeiten und sonst nichts. Aber sie konnten uns nicht verbieten, sich zu lieben.
Zu diesem Zeitpunkt sind die meisten Deutschen und ein Teil der Ungarn bereits aus der Tschechoslowakei ausgesiedelt. Annemarie Trüber und Ondřej Rácz zählen zu den Glücklichen, die in der Heimat bleiben dürfen.
Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei
Erste, sogenannte "wilde Aussiedlungen" beginnen bereits unmittelbar nach Kriegsende im Mai und Juni 1945 und werden oft von brutalen Misshandlungen begleitet. Traurige Berühmtheit erlangen dabei der Brünner Todesmarsch und die Massaker von Postelberg und Aussig. Die Rache der Tschechen, die zuvor sieben Jahre lang deutsche Verbrechen im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren erdulden mussten, trifft nur selten die tatsächlichen Täter, meist fallen ihr unschuldige Menschen nur aufgrund ihrer deutschen Abstammung zum Opfer.
Auf der Potsdamer Konferenz geben die Siegermächte am 2. August 1945 schließlich grünes Licht für die offizielle Aussiedlung. Noch am gleichen Tag unterschreibt Präsident Beneš das Ausbürgerungsdekret. Bis Ende 1946 werden nun nach und nach rund dreieinhalb Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei des Landes verwiesen. In den wenigen Wochen und Monaten bis zum Transport müssen sie weiße Armbinden tragen, bekommen Lebensmittelrationen in gleicher Höhe wie Juden während des Protektorats, dürfen mancherorts keine Parks, Bibliotheken und Kinos betreten, keine Straßenbahnen und manchmal nicht einmal den Bürgersteig benutzen. Viele müssen Zwangsarbeit leisten.
Ein ähnliches Schicksal ist auch für die Ungarn vorgesehen, doch das scheitert weitgehend am Unwillen der ungarischen Regierung, die sich weigert, die Ausgesiedelten aufzunehmen. Nur einige Zehntausend Magyaren werden am Ende aufgrund eines Abkommens gegen Slowaken aus Ungarn getauscht. Die anderen dürfen bleiben, ebenso wie eine geringe Anzahl "vergessener" Sudetendeutscher.
1949 bekommen Annemarie und Ondřej ihre tschechoslowakische Staatsbürgerschaft zurück und können im Jahr darauf endlich heiraten. Der Verwalter des Landguts, auf dem sie arbeiten, richtet ihnen sogar eine Hochzeit aus und lässt zwei Zimmer für das frischvermählte Paar frei machen, das zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits zwei Kinder hat – zwei weitere werden noch folgen.
Folgen der Beneš-Dekrete bis heute spürbar
Mit der Aussiedlung in den Jahren 1945-1946 ist die fast 800-jährige Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern zu Ende gegangen. "Es handelte sich um den schwerwiegendsten Eingriff in die Bevölkerungsstruktur in der gesamten tschechischen Geschichte", schreibt František Emmert in seinem Buch "Neueste tschechische Geschichte".
Die Folgen dieses Eingriffs sind bis heute gravierend. Ganze Landstriche sind entvölkert – weder Kriegsheimkehrer, noch Binnenmigranten, noch zwangsweise angesiedelte Roma aus der Slowakei konnten die Lücke füllen, die durch die Aussiedlung der Deutschen entstand. 333 Orte sind im Sudetenland untergegangen, viele Gmeinden haben heute noch eine niedrigere Einwohnerzahl als vor dem Krieg.
Die Gegend zählt zu den wirtschaftlich schwächsten in der Tschechischen Republik, aber auch das soziale Kapital ist laut einer Untersuchung der Universität Brünn dort niedriger als in innertschechischen Gebieten: Die Einwohner halten weniger zusammen, Zugezogene ziehen häufiger als anderswo wieder weg. Die Beneš-Dekrete werfen bis heute einen Schatten auf das Sudetenland.
Die Zeitzeugen Ihre Geschichte schilderten Anna Maria Rácz, geb. Annemarie Trüber, und Ondřej Rácz im Rahmen des Zeitzeugenprojekts "Gedächtnis der Nation" ("Paměť národa"). Es handelt sich um ein gemeinsames Vorhaben des Instituts für das Studium totalitärer Regime, des Tschechischen Rundfunks und der Vereinigung Post Bellum. Im gleichnamigen Portal pametnaroda.cz sind inzwischen fast 6.000 Zeitzeugenberichte veröffentlicht.
Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2020 und wurde im Februar 2023 überarbeitet.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Vertreibung. Odsun – Das Sudetenland | 26. Oktober 2021 | 22:10 Uhr