Von Torpedos versenkt "Wilhelm Gustloff": Massensterben in der Ostsee
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30. Januar 2022, 05:00 Uhr
1938 wurde die "Wilhelm Gustloff" in Betrieb genommen. Am 30. Januar 1945 sank sie in der Ostsee. Es war die größte Seefahrtstragödie der Geschichte. Das Wrack liegt noch heute zwölf Seemeilen vor der polnischen Küste. In polnischen Seekarten ist es als Navigationshindernis Nr. 73 verzeichnet.
Am 30. Januar 1945 - genau zwölf Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten - sank die "Wilhelm Gustloff". Das Schiff war auf dem Weg von Gotenhafen nach Kiel, als es von drei sowjetischen Torpedos getroffen wurde. Um 21:16 Uhr schlug der erste ein. 9.343 Menschen starben - sechs Mal mehr als beim Untergang der "Titanic". Nur 1.239 Passagiere überlebten.
"Wilhelm Gustloff": Anfänge als Kreuzfahrtschiff
Nichts deutete auf das tragische Ende hin, als das Schiff am 5. Mai 1937 in Hamburg vom Stapel lief. Ein Luxusliner der Organisation "Kraft durch Freude", der 25 Millionen Reichsmark kostete. Es war für 417 Besatzungsmitglieder sowie 1.463 Passagiere ausgelegt. Sonnendeck, Bäckerei und Metzgerei, Krankenstation und ein Friseur - an alles wurde gedacht. Adolf Hitler war beim Stapellauf anwesend, ebenso wie die Witwe von Wilhelm Gustloff, einem Naionalsozialisten, der 1936 erschossen wurde.
Das Schiff war für Kreuzfahrten gebaut worden, aber auch eine mögliche Nutzung als Hospitalschiff war berücksichtigt worden. Die Aufzüge waren für Krankenbetten ausgelegt und in den Kabinen waren Rohre für die Sauerstoffversorgung verlegt worden. Auf seiner ersten regulären Fahrt lief das Schiff am 2. April 1938 London an, um den in England lebenden Deutschen und Österreichern Gelegenheit zu geben, über den bereits erfolgten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich abzustimmen. Nach dem Kriegsbeginn wurde die "Wilhelm Gustloff" der Kriegsmarine als Lazarettschiff übergeben und lag als Wohnschiff in Gotenhafen (heute Gdynia).
Der Untergang der "Wilhelm Gustloff"
Die letzte und todbringende Reise des Schiffes beginnt Ende Januar 1945. Die Rote Armee rückt näher. Die "Wilhelm Gustloff" soll Flüchtlinge aus Ostpreußen über die Ostsee nach Westen bringen. Sie ist inzwischen militärisch grau gestrichen, obwohl für neutrale Schiffe die Farbe Weiß vorgeschrieben ist. 7.956 Menschen werden an Bord offiziell registriert, doch es wird geschätzt, dass weitere 2.500 Flüchtlinge den Weg auf die Decks fanden. Das Schiff konnte nur vier seiner 18 Motorrettungsboote für je 96 Personen mitnehmen. Vier Kapitäne sind an Bord. Sie ringen stundenlang miteinander um eine Antwort auf die Frage, wie und wann das Schiff seinen gefahrvollen Weg nehmen soll. Am Ende entscheidet einer der vier, dass das Schiff wegen seiner Überladung durch tiefere Gewässer fahren soll. Weil deutsche Minenleger unterwegs sind, werden Positionslichter gesetzt, um Kollisionen zu vermeiden. Die "Wilhelm Gustloff" ist nun leicht auszumachen. Am Abend des 30. Januar, kurz nach 21 Uhr wird sie schließlich von drei sowjetischen U-Boot-Torpedos getroffen.
Grauenvolle Szenen im Unterdeck
Der Treffer mittschiffs hat das leer gepumpte Schwimmbad im Unterdeck getroffen, Notunterkunft vieler Marinehelferinnen. Dort spielen sich grauenvolle Szenen ab. "Unter den Füßen der Flüchtenden waren Menschenleiber, meist Frauen und Kinder, gefallen, niedergerissen, totgetrampelt", erinnert sich der Augenzeuge Heinz Schön, damals ein 18-jähriger Zahlmeister-Assistent. "Willenlos werde ich nach oben getragen, eingeklemmt in ein tobendes schreiendes Menschenbündel, in dem sich einer an den anderen klammert." Nur eine Hand voll Menschen entkommen der Todesfalle. "Auf den zwei Meter breiten Treppen hoch zu den Decks bildete sich schnell ein Teppich aus Toten", so Schön. Es starben Schwache, es starben Kinder, und es starben diejenigen, die den Gestrauchelten aufhelfen wollten.
Der Kampf um die Boote
Der Kampf um die Boote beginnt, berichtet Schön. Vor ihnen stehen zwei Offiziere der Kriegsmarine mit entsicherten Pistolen: "Nur Frauen und Kinder!" Ein alter Pfarrer drückt Heinz Schön ein Baby aus der Entbindungsstation in die Hand, er selbst trägt die Mutter. Ein Leutnant schafft ihnen Platz. Die Katastrophe zeugt Helden. Marine-Oberstabsarzt Dr. Hellmut Richter räumt Krankenrevier und Geburtshilfestation nach rechtzeitig vorbereitetem Plan. Die Schwerverwundeten haben Vorrang. Eine junge Frau, die schon auf dem Tisch liegt, bekommt eine Spritze, die die Geburt stoppt, und wird in Decken nach oben getragen. "Gott hilf mir - bitte - Gott hilf mir", betet sie.
Fahrt durch ein Leichenfeld
Per SOS wird Hilfe herbeigefunkt. Torpedoboote nehmen Schiffbrüchige auf. Spätere Helfer fahren durch ein Leichenfeld. 10.582 Menschen waren an Bord: 8.956 Flüchtlinge aus Ostpreußen, Westpreußen, Danzig und Pommern, davon rund 5.000 Kinder. 918 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften der 2. Unterseeboot-Lehrdivision Gotenhafen. 373 Marinehelferinnen. 162 Schwerverwundete des Heeres. 173 kriegsverpflichtete Besatzungsmitglieder der Handelsmarine. 9.343 Menschen kommen um, 1.239 werden gerettet. Und am Ende geschieht noch etwas Unfassbares: Mit einem Schlag springt die ganze Beleuchtung an, in vollem Glanz erstrahlt das Schiff und sinkt innerhalb einer Stunde.
War die Versenkung ein Kriegsverbrechen?
Viele Überlebende hielten den Angriff für ein Kriegsverbrechen, weil hauptsächlich Frauen und Kinder an Bord waren. Aber Hitlers Reichsregierung selbst hatte die Ostsee am 11. November 1944 zum sogenannten Operationsgebiet erklärt. Deutsche Kriegsschiffe sollten auf alles feuern, was schwimmt. Und damit, da sind sich die Experten einig, galten für den Gegner die gleichen Rechte. Außerdem hatte die Sowjetunion nie eine der Konventionen zur Seekriegsführung unterzeichnet. Zudem hatten Matrosen kurz vor dem Auslaufen notdürftig ein paar Flakgeschütze auf das oberste Deck der "Gustloff" montiert. Sie war also bewaffnet und galt damit als Kriegsschiff.
Heute liegt das Wrack zwölf Seemeilen vor der polnischen Küste in 48 Metern Tiefe. In polnischen Seekarten ist es als Navigationshindernis Nr. 73 verzeichnet.