April 1945 Kriegsende in Halle: Wie ein gewiefter Schachzug die Stadt rettete
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15. April 2020, 14:12 Uhr
Am 15. April 1945 um 8 Uhr beginnt der Kampf um Halle. Er wird vier Tage dauern, weil es in der Stadt immer noch Menschen gibt, die an Nazideutschland glauben. Andere wiederum haben Angst, sich dem Führerbefehl zu widersetzen, die deutschen Städte bis zum Schluss zu verteidigen. Dass Halle dennoch der totalen Vernichtung entgeht, ist einem guten Einfall einiger Einwohner sowie der Milde der Amerikaner zuzurechnen.
Halle ist im April 1945 die größte noch nicht zerstörte Stadt im Deutschen Reich. Die 104. amerikanische Division unter Führung von Generalleutnant Terry de la Mesa Allen nähert sich von Nordwesten entlang der Saale. Sie findet gesprengte Brücken vor und errichtet Provisorien, um mit ihrer schweren Technik über die Saale zu kommen.
Kommandant lehnt Kapitulation ab
Währenddessen schwelt in der Stadt ein Interessenkonflikt. Der Kampfkommandant von Halle, Generalleutnant Anton Rathke, hat Befehl, die Stadt um jeden Preis zu halten. Um sicherzugehen, dass er den Befehl auch wirklich ausführen wird, stellt ihm die Führung der Heeresgruppe Rundstedt einen "Sonderbeauftragten" zur Seite, "einen fanatischen jungen Generalstabsoffizier, der jede Beeinflussung von außen verhindern sollte", schreibt Professor Dr. Erwin Könnemann in seinem Aufsatz "Die Bewahrung Halles vor der totalen Vernichtung".
Am 11. April versucht eine kleine Abordnung aus der Bevölkerung trotzdem, Rathke die ausweglose militärische Situation klarzumachen. Dabei sind der Universitätsprofessor Dr. Theodor Lieser, Polizeipräsident Rheins, Kommandeur der Schupo, Polizeioberst Baltersee, sowie mehrere Lazarettärzte. Der 57-jährige General "verschloss sich diesen Argumenten durchaus nicht, verbat sich jedoch 'jede Beeinflussung unter Androhung schwerster Strafen'", schreibt Könnemann.
Gauleiter fährt persönlich nach Berlin
Der Gauleiter von Halle-Merseburg, Joachim Albrecht Eggeling, versucht am 12. April auf höchster Ebene, eine friedliche Übergabe Halles genehmigt zu bekommen. Eigens dafür fährt er ins brennende Berlin – nur um von Reichsleiter Martin Bormann unter Androhung der Todesstrafe an den Führerbefehl erinnert zu werden, jede Stadt wie eine Festung zu verteidigen. Zurück in Halle, nimmt sich Eggeling drei Tage später das Leben.
SS-Streifen beschießen weiße Flaggen
Am 13. April versucht Professor Lieser, die Aufgabe Halles auf eigene Faust zu erreichen. Mit einer Gruppe von Mitstreitern verteilt er in der Nacht zum 14. April 2.000 Flugblätter und zwei Tage später noch einmal 10.000 Stück. Darin wird die Bevölkerung aufgerufen, weiße Laken aus den Fenstern zu hängen. Der Plan geht allerdings nicht ganz auf. Zwar hängen viele Bürger, vor allem in der Innenstadt, weiße Betttücher aus den Fenstern oder legen sie aufs Dach. Doch sie gefährden sich damit auch, denn SS-Streifen schießen auf diese Fenster. Seit März gilt der so genannte "Flaggenerlass" von Heinrich Himmler, wonach die erwachsenen männlichen Einwohner eines Hauses zu erschießen sind, in dem die weiße Fahne der Kapitulation gehisst wurde.
Häuserkampf in Halle-Trotha
Am frühen Morgen des 15. April gelingt es den amerikanischen Truppen, über eine Pontonbrücke an die nördliche Stadtgrenze zu kommen. Im nördlichen Stadtteil Halle-Trotha erwarten sie aber nicht weiße Fahnen an den Fenstern, sondern erbitterte Häuserkämpfe. Scharfschützen, Wehrmachtssoldaten, Hitlerjungen und Volkssturm-Angehörige haben sich auf Dächern und in den Häusern verschanzt. Die Zivilbevölkerung gibt den deutschen Scharfschützen sogar noch Hinweise auf amerikanische Soldaten.
US-General droht, Halle zu vernichten
General Terry de la Mesa Allen will die verlustreichen Kämpfe nicht fortführen und fordert Unterstützung aus der Luft an. Aber eigentlich haben die Amerikanern nicht vor, die Stadt zu bombardieren. Sie wissen, dass sich unter den 25.000 Verwundeten in den Lazaretten auch amerikanische Soldaten befinden, neben 35.000 Flüchtlingen und Zwangsarbeitern. So sollen Flugblätter die Deutschen zum Umdenken bewegen: Ergebe sich die Stadt nicht, werde sie am Morgen des 16. April bombardiert.
Die amerikanischen Streitkräfte stehen vor Halle. Amerikanische Geschütze sind auf Halle gerichtet. Amerikanische Jabos und Schwerkampfflugzeuge stehen startbereit, um, falls notwendig, Halle dem Erdboden gleichzumachen. (…) Es ist nicht unsere Absicht, uns an der Zivilbevölkerung zu vergreifen oder unnötig Menschenleben zu opfern. Der Krieg steht bereits kurz vor dem Ende und die Entscheidung ist gefallen. Amerikanische Einheiten haben die Elbe überschritten, die Front ist zusammengebrochen. Ihr Widerstand kann daher weder der Stadt, der Bevölkerung, noch der allgemeinen militärischen Lage helfen. Es gibt keinen Mittelweg. Entweder Sie übergeben die Stadt mit ihrem jetzigen Bestand bedingungslos und vermeiden dadurch den sinnlosen Verlust an deutschem Leben und Eigentum, oder Sie weigern sich und sehen der völligen Vernichtung entgegen.
700 Bomber und 260 Jagdbomber stehen am 16. April bereit. Das Ultimatum ist abgelaufen. Erst am Nachmittag jedoch feuern die Amerikaner ein Artilleriegeschütz zur Warnung ab. Sie treffen auch den Roten Turm, ein Wahrzeichen Halles. Die Turmspitzen und Glocken krachen brennend zu Boden. In Angst und Verzweiflung stürmen viele Menschen, vor allem die Frauen aus dem Arbeiterviertel Glaucha, auf den Markt, wo der Kampfkommandant seinen Gefechtsstand hat. Sie fordern die Kapitulation. Rathke lässt den Platz räumen.
Gewiefter Schachzug: Teilübergabe
Aus vielen Fenstern hängen weiße Fahnen, aber es gibt noch immer keine offizielle Antwort. Nun kommt eine Idee auf, die sowohl Rathkes Hals, als auch die Stadt Halle retten kann: Der Kampfkommandant solle sich in den Süden zurückziehen und den Amerikanern den Norden und die Innenstadt überlassen. So könne er es aussehen lassen, als würde die Stadt heldenhaft verteidigt, und gleichzeitig den größten Teil kampflos an die Amerikaner übergeben. Rathke ist nicht abgeneigt und verhandelt diese Idee mit seinem Stab. Es wird beschlossen, dass sich die deutschen Truppen hinter die Linie Lange Straße-Waisenhausring-Königstraße zurückziehen.
Der Oberbürgermeister beauftragt nun Felix Graf Luckner und Major a.D. Karl Huhold, den Vorschlag und die Karte zu überbringen. Beide fahren mit einem Rotkreuzwagen durch die amerikanischen Linien. Als sie zu Terry Allen kommen, ist der wütend – und das nicht nur, weil er 36 Stunden warten musste.
Ich habe gestern zur Warnung an die Bevölkerung Flugblätter abwerfen lassen. Ich habe ferner meinen Soldaten verboten, in die Straßen und Häuser zu schießen. Dafür haben Fensterschützen, hinter Gardinen versteckt, meinen besten Freund und tüchtigsten Offizier erschossen. Frauen haben auf Zuruf angezeigt, wo sich meine Soldaten befanden. Für diese Taten hat einer Ihrer Generale in Frankreich zwei Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Ich bin verbittert, meine Geduld ist am Ende.
Die Bombardierung der Stadt ist beschlossen. Die Bomber sollen um Mitternacht in drei Wellen fliegen und ein zweites Dresden anrichten. Doch der rhetorisch versierte Luckner kann Allen umstimmen, und einen 12-stündigen Aufschub des Angriffsbefehls zu erreichen. Die Verhandlungen sollen mit reichlich Whisky besiegelt worden sein.
Amerikaner nehmen Halle ein
In der Nacht zum 17. April verlegt General Rathke im Einvernehmen mit dem Hauptmann, der zu seiner Überwachung abkommandiert wurde, den Gefechtsstand nach Süden. Die Amerikaner verzichten auf den Fliegerangriff und nehmen vor allem mit Panzern die hallesche Innenstadt ein. Dabei verlieren sie jedoch weitere Soldaten: Zum einen muss Rathke einen Kampf vortäuschen, zum anderen gibt es noch genug fanatische Hitlerjungen, die die vorrückende US-Armee bekämpfen wollen. Am 17. Und 18. April gibt es noch zahlreiche Tote und Verwundete auf beiden Seiten.
Erst am 19. April verlässt Kampfkommandant Anton Rathke die Stadt mit 600 Soldaten. Sie wird vollständig von amerikanischen Truppen besetzt. Um 10.55 Uhr schweigen die Waffen.
Epilog: Übergabe an Sowjettruppen
Im Juli 1945 haben die amerikanischen Truppen Halle an die rote Armee übergeben. Felix Graf Luckner folgte ihnen in den Westen. Theodor Lieser wurde schon im Mai zum Oberbürgermeister ernannt, ging aber nach heftigen Auseinandersetzungen mit den sowjetischen Behörden 1946 nach Darmstadt. Anton Rathke starb im Dezember 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 1945 – Unsere Städte: Der Bombenkrieg | 04. Februar 2020 | 22:05 Uhr