Zwangssterilisation im Dritten Reich
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21. Januar 2020, 08:44 Uhr
Flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. So sollte laut Adolf Hitler jeder deutsche Junge sein. Um die "Reinhaltung des gesunden Volkskörpers" zu gewährleisten, verabschiedeten die Nationalsozialisten am 14. Juli 1933 das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Damit wurde die Grundlage für die Verfolgung, Ausgrenzung und später Ermordung von Menschen mit psychischen Krankheiten geschaffen.
Marie Stephan, 1906 in Schlesien geboren, kam Mitte der 20er-Jahre nach Dresden, wo sie ihren Mann Alfred Lange kennenlernte. Das Paar bekam zwei Töchter. 1934 zeigten sich bei Marie erste Anzeichen einer Schizophrenie. Mit diesem Krankheitsbild wurde sie ein Jahr später in die Heilanstalt Pirna-Sonnenstein eingewiesen. Nur wenige Monate später beantragte die Anstaltsleitung die Sterilisation ihrer Patientin.
Schlechte Noten als Indiz für "angeborenen Schwachsinn"
Marie Lange, geb. Stephan, war eine von rund 350.000 bis 400.000 Menschen, die als "erbkrank" galten und während der NS-Zeit zwangssterilisiert wurden. Als Erbkrank galt u.a., wer psychische Einschränkungen aufwies. Auf der Liste standen Depressionen, Schizophrenie und geistige Behinderungen. Selbst wer schlechte Noten in der Schule bekam, geriet schnell in den Verdacht, ein "Idiot" zu sein oder an "angeborenem Schwachsinn" zu leiden. Jeder, der von der "Norm" abwich, so wie sie nationalsozialistische Rassenhygiene definierte, lief ab 1934 Gefahr, Opfer der Zwangssterilisation zu werden. Egal ob Mann oder Frau.
Zielgruppe: Menschen außerhalb der Heilanstalten
"Das Hauptziel der Zwangssterilisation - und das wird oft unterschätzt - waren Menschen außerhalb der Heilanstalten, die Zugang zum anderen Geschlecht hatten", erklärt Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. “Diejenigen, die bereits in den Anstalten lebten, mussten oft nicht mehr sterilisiert werden. Hier waren Männer und Frauen getrennt. Doch wie bekamen die Ärzte Zugriff auf die Menschen im öffentlichen Leben?
Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden.
Die Nationalsozialisten machten sich ein bereits bestehendes Betreuungssystem von psychisch Kranken zu nutze. "Es gab in Sachsen oder auch in Großstädten wie Berlin vorbildliche Stellen der Sozialbetreuung, die durch die SPD zu Zeiten der Weimarer Republik initiiert wurden", erzählt Böhm. Eigentlich waren sie gegründet worden, um kranken Menschen zu helfen. Im Dritten Reich werden sie gewissermaßen zweckentfremdet. "Das haben die Nationalsozialisten ausgenutzt und die Daten von den Ämtern abgegriffen", so Böhm. Anhand der Krankenakten wurde ein Gutachten erstellt. Oft geschah das ohne persönliche Vorstellung des Patienten. Ob die "Voraussetzung zur Unfruchtbarmachung" gegeben war oder nicht, entschieden Ärzte, Psychiater und Juristen in den eigens dafür eingerichteten Erbgesundheitsgerichten.
Im Gesetz waren acht Krankheitsbilder festgeschrieben
1. angeborener Schwachsinn
2. manisch-depressives Irrsein
3. Schizophrenie
4. Epilepsie
5. Chorea Huntington
6. erbliche Blindheit
7. erbliche Taubheit
8. schwere erbliche körperliche Missbildung.
Wer sich weigert, wird von der Polizei abgeholt
Marie Lange stimmte der Sterilisation freiwillig zu, weil sie hoffte, danach nicht wieder in die Heil- und Pflegeanstalt zu kommen. "Wer sich aber geweigert hat, wurde durch die Polizei abgeholt und Zwangssterilisiert", so Boris Böhm. Die Sterilisation wurde chirurgisch, später auch mit Hilfe von Röntgenstrahlen, durchgeführt. Und zwar nicht in den Anstalten, sondern in gewöhnlichen Krankhäusern. Bei Marie fand die Operation am 8. April 1936 im Stadtkrankenhaus Pirna statt. Nach fast zweiwöchigem Aufenthalt wurde sie nach Hause entlassen.
Propaganda-Arbeit: Filme, Plakate, Briefe an Schulen
Die Sterilisationskampagne wurde von einer groß angelegten Propagandaaktion begleitet. Um schneller an Opfer zu kommen, wurden Briefe an Schulen, Behörden und sonstige Einrichtungen verschickt, die viel mit Menschen zusammenarbeiten. Darin wurden die Leitung und das Personal dazu verpflichtet, Erbkranke "anzuzeigen".
Grundidee stammt aus der Weimarer Republik
Bereits in der Weimarer Republik wurde über Sterilisation von Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen, diskutiert. 1920 erschien eine Broschüre mit dem Titel "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Herausgegeben wurde die 62 Seiten umfassende Schrift von dem Pfarrerssohn und Psychiater Alfred E. Hoche und dem Leipziger Jura-Professor Karl Binding. Die beiden Wissenschaftler schreiben von "leeren Menschenhülsen", "Ballastexistenzen" und "geistigen Toten". Diese Begriffe übernehmen später die Nationalsozialisten.
Protest in der Bevölkerung wuchs ab 1936
Zwischen 1934 und 1936 wurden fast 17.000 Menschen medizinisch unfruchtbar gemacht. Eine Änderung des Gesetzes erlaubte 1935 zusätzlich, Schwangerschaftsabbrüche bis in den sechsten Monat bei "eugenischer Indikation" durchzuführen. Doch trotz massiver Propaganda murrte die Bevölkerung. Das Thema wurde nach 1936 daher aus der Öffentlichkeit verbannt. Die Menschen sollten beruhigt werden. "Im Grunde war in irgendeiner Form jede Familie im Deutschen Reich von so einer Maßnahme betroffen", so Böhm.
Besondere Härte und Brutalität in Sachsen
Doch die Zwangssterilisation wurde weiter betrieben - und sogar ausgeweitet. Besonders Sachsen wies hinsichtlich der Vorgehensweise eine Härte und Intensität auf, die nirgendwo sonst im Deutschen Reich zu finden war. "Von der Sterilisation bis zur Euthanasie wurde mit besonderer Brutalität und vor allem frühzeitiger als in anderen Bundesländern Maßnahmen durchgesetzt", so Gedenkstättenleiter Böhm. "Es wurde sehr stringent und sehr hartherzig vorgegangen."
Ärtzliches Personal als Erfüllungsgehilfen
Neben Protesten in der Bevölkerung, gab es auch medizinisches Personal, welches die Zwangssterilisation ablehnte. Böhm berichtet, dass es besonders in den katholischen Reichsgebieten - dem Rheinland oder Bayern - Widerspruch und Verweigerung gab. "Aber es war ein Reichsgesetz, welches die Mitwirkung von Ärzten und anderem Personal eingefordert hat", so der Historiker. "Das waren Erfüllungsgehilfen. Und dass es ein Unrechtsgesetz gewesen ist, wurde auch erst 2007 vom Deutschen Bundestag anerkannt."
Euthanasiemorde ab 1939
Die Zwangssterilisation war eine Vorstufe der späteren Euthanasiemorde, sagt Böhm. "Die kontinuierliche staatsoffizielle Diffamierung und Herabsetzung von Menschen mit Behinderungen schuf Möglichkeitsräume, die ab 1939 in offenen Mord mündeten."
Das war auch bei Marie Lange der Fall. Nach ihrer Entlassung aus dem Kreiskrankenhaus Pirna dauerte es keine sechs Wochen, bis sie wieder eingewiesen wurde. Rund vier Jahre später, am 27. November 1940 wurde sie in der Gaskammer in Pirna-Sonnenstein ermordet.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Sachsen-Spiegel: TV | 23.03.2018 | 19:00 Uhr