Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus Die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus

27. Januar 2023, 05:00 Uhr

Der 27. Januar ist der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Der Bundestag erinnert erstmals 2023 an eine bislang wenig beachtete Opfergruppe der Nazi-Verfolgung: Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden, meist Männer. Etwa 10.000 bis 15.000 homosexuelle Männer sind in Konzentrationslager verschleppt worden und mussten den "rosa Winkel" tragen.

Der Leipziger Walter Schwarze als Homosexueller verurteilt

Die Website rosa winkel informiert über die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus und stellt Biografien Betroffener vor. Auch die des Leipzigers Walter Schwarze: Im Mai 1940 wurde der damals 25-Jährige von der Gestapo im bei Schwulen beliebten Leipziger Lokal "Burgkeller" wegen einer kritischen Äußerung über den Krieg festgenommen. Bei der Verhandlung gab er seine Homosexualität zu und wurde inhaftiert.

Ich habe von dieser Minute an nichts mehr empfunden, gar nichts mehr. Durch die Straßen Leipzigs zu laufen, wie die Schwerverbrecher, das war entsetzlich für mich.

Walter Schwarze

Walter Schwarze wurde am 24. Dezember 1914 in Leipzig als Sohn von sozialdemokratischen Arbeitern geboren. Schon früh bemerkte er seine Homosexualität, stieß in der Familie jedoch auf wenig Akzeptanz.

Vier Jahre Konzentrationslager

Gefangene werden ins Konzentrationslager Sachsenhausen getrieben
Das Lager Sachsenhausen im Nationalsozialismus (undatiert). Bildrechte: mdr/rbb/Bundesarchiv

Im Dezember 1940 wurde er ins KZ Sachsenhausen gebracht. Er musste in unterschiedlichen Strafkommandos arbeiten: zum Beispiel im Schuhkommando elf Stunden auf einer Strecke marschieren, um Schuhe zu prüfen. Er wurde erniedrigt, indem er im Stehkommando den ganzen Tag stillstehen musste.

Im April 1941 meldete er sich während seiner Haftzeit als freiwilliger Häftling für den Aufbau des Konzentrationslagers Groß-Rosen (Nahe Breslau). Dort litt er unter Krankheiten wie Fleckfieber, Typhus, Ruhr und Cholera und entging durch die vielen Aufhalte im "Krankenrevier" der Zwangsarbeit und Vernichtung.

Die Verfolgung von sexuellen Minderheiten hat Tradition

Schon ab dem Mittelalter wurde gleichgeschlechtliche Liebe geächtet und schwule Männer verfolgt. Das zog sich in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert. In der Vergangenheit wurde Homosexualität oft mit Pädophilie gleichgesetzt und - auch durch den Einfluss der Kirche - als "Krankheit" angesehen. Der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches stellte Homosexualität von 1871/72 für fast 123 Jahre unter Strafe. Im Kaiserreich und der folgenden Weimarer Republik wurden jedoch nur "beischlafähnliche Handlungen" zwischen Männern strafrechtlich geahndet.

Homosexualität im NS-Staat

In der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" war kein Platz für homosexuelle Menschen. In den Augen der Nationalsozialisten war Homosexualität eine "widernatürliche Veranlagung".  Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nazis im Januar 1933 verschärften sich die Repressionsmaßnahmen gegen Homosexuelle: Bars, die von Schwulen und Lesben besucht wurden, mussten schließen. Ihre Vereine und Zeitungen, wie "Der Eigene" konnten nicht mehr gedruckt werden. Die nationalsozialistische "Sturmabteilung" (SA) plünderte im Mai 1933 das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin. Die Werke des jüdischen Sexualwissenschaftlers und Aktivisten gegen Paragraf 175 Magnus Hirschfeld fielen der Bücherverbrennung 1933 zum Opfer.

Der Paragraf 175 wird verschärft

1935 wird der Paragraf 175 verschärft: Ab September 1935 werden unter Paragraf 175a alle "unzüchtigen Handlungen" zwischen Männern verfolgt. Es reichte ein "begehrlicher" Blick oder die reine Vermutung, um verfolgt zu werden. Das bot alle Möglichkeiten für willkürliche Denunziationen.

Unter Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der Polizei, wurde 1936 die "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung" eingerichtet. Deren Ziel war es, der vermeintlichen Schwächung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Laut NS-Ideologie sind Homosexuelle keine "vollwertigen" Männer und leisten keinen Beitrag zum "arischen" Nachwuchs.

Die Mitarbeiter sammelten Daten über homosexuelle Männer, um die Polizei und Gestapo bei deren Verfolgung zu unterstützen. Insgesamt wurden in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Diktatur rund 100.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet, 50.000 Männer wegen homosexuellen Handlungen zu Freiheitsstrafen verurteilt.

Todesstrafen für Homosexuelle

Die Nazis hatten Angst vor Schwulen in den eigenen Reihen: Ab den 1940er-Jahren wurden homosexuelle Handlungen von SS-, Polizei- und Wehrmachtsangehörigen mit der Todesstrafe geahndet.

Schwule im KZ

Unter dem Vorwand der sogenannten "Schutzhaft" und "Vorbeugehaft" wurden schätzungsweise 10.000 bis 15.000 homosexuelle Männer in Konzentrationslager deportiert. Viele inhaftierte man dort "vorsorglich" auf unbestimmte Zeit. Das geschah oft ohne weitere konkrete Straftatbestände und Beweise. Es gab die Möglichkeit, der KZ-Haft durch eine "freiwillige" Kastration zu entgehen.

Alfred Ledermann wurde als "schwuler Asozialer" am 12.7.1942 im KZ Sachsenhausen im Rahmen der "Aktion Klinker" im Alter von 20 Jahren ermordet.
Alfred Ledermann wurde als "schwuler Asozialer" am 12. Juli 1942 im KZ Sachsenhausen im Rahmen der "Aktion Klinker" im Alter von 20 Jahren ermordet. Bildrechte: MDR/HR

In den Konzentrationslagern mussten die schwulen Männer als Kennzeichnung oft einen rosa Winkel auf der Brust tragen. In der Lagerhierarchie standen sie am unteren Ende. Denn auch der Großteil der KZ-Häftlinge teilte die in der Gesellschaft verbreitete abschätzige Haltung gegen Homosexuelle. Etwa 50 bis 60 Prozent der Inhaftierten "Rosa-Winkel-Häftlinge" überlebten die Lager nicht

Häftlingskleidung-KZ
KZ-Häftlingskleidung für Homosexuelle mit "rosa Winkel" wird im Museum in Bonn gezeigt (Foto 2014). Bildrechte: IMAGO / Danita Delimont

Walter Schwarze: spätes Liebesglück

Walter Schwarze hat die Lagerhaft überlebt, am 24. April 1944 kam er frei. Doch kurz vor Kriegsende wurde er noch an die Front geschickt und geriet dort in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Erst im Oktober 1949 sah er seine Heimat wieder und ging zurück nach Leipzig. Schwarze wollte mit seiner Homosexualität abschließen. Er versuchte ein heterosexuelles Leben zu führen: Zwei Mal war er mit Frauen verheiratet.

Ich habe gekämpft wie ein Löwe. Ich wollte es nicht mehr sein.

Walter Schwarze

Beide Ehen gingen kaputt. Mit über 50 Jahren traf er seinen Partner fürs Leben. Am 10. Mai 1998 starb Walter Schwarze im Alter von 83 Jahren in Leipzig.

Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus

Im "Dritten Reich" standen homosexuelle Handlungen zwischen Frauen nicht unter Strafe. Weibliche Sexualität wurde nicht ernst genommen. Lesbische Frauen galten außerdem als nicht so "gesellschaftsschädigend", wie schwule Männer. Geächtet waren sie dennoch und die Frauen wurden aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen.

Einige lesbische Frauen wurden unter dem diskriminierenden Sammelbegriff "Asozial" verfolgt und inhaftiert. Davon waren auch Frauen, die an Suchterkrankungen litten, als Prostituierte arbeiteten oder die Arbeit "verweigerten", betroffen. Es gab auch Frauen, die zwangssterilisiert wurden und ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück kamen. Zu lesbischen Frauen während des Nationalsozialismus gibt es große Forschungslücken, genau wie zu den Lebensrealitäten von transgeschlechtlichen Menschen.

Fotos weiblicher Häftlinge in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück
Fotos weiblicher Häftlinge in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück 2018. Bildrechte: IMAGO / Jürgen Ritter

Kriegsende 1945: Paragraf 175 gilt weiter

Das Ende des Zweiten Weltkrieges war für die Homosexuellen keine Befreiung. Denn sowohl in der DDR, als auch in der Bundesrepublik wurden sie weiter verfolgt. Es gab Fälle, in denen Verfolgte, die das KZ überlebt hatten, in der BRD aufgrund ihrer Sexualität dann wieder in Haft saßen.

In der DDR galt die abgeschwächte Version des Paragrafen 175 in der Version von vor 1935. Seit Ende der 1950er-Jahre wurde Homosexualität in der DDR zwischen Erwachsenen dann nicht mehr verfolgt. Im Jahr 1968 gab die DDR ein eigenes Strafgesetzbuch heraus, in dem der diskriminierende Paragraf 175 nicht auftaucht.

Geschichte

Eduard Stapel
Eduard Stapel war einer der Begründer des ersten Arbeitskreises Homosexualität in Leipzig 1982. In den folgenden Jahren setzte er sich DDR-weit für weitere solche Arbeitsgruppe ein und koordinierte die Homosexuellenbewegung des Ostens. Er ist Mitbegründer des heutigen LSVD. Bildrechte: MDR/Hoferichter & Jacobs

In der Bundesrepublik blieb Homosexualität bis 1969 verboten. Erst am 11. Juni 1994 wurde der Paragraf 175 endgültig abgeschafft.

Bildergalerie Der "Schwulen-Paragraf"

Ein Bild von Klaus Beer, im Hintergrund ein Bücherregal
Klaus Beer war Richter in Ulm und sprach sechs Urteile zum Paragraphen 175. Bildrechte: MDR/HR
Ein Bild von Klaus Beer, im Hintergrund ein Bücherregal
Klaus Beer war Richter in Ulm und sprach sechs Urteile zum Paragraphen 175. Bildrechte: MDR/HR
Karin Dauenheimer an einer Bushaltestelle
Karin Dauenheimer outete sich 1983 am Evangelischen Kirchentag in Dresden als lesbische Frau. Wegen Gruppenbildung wurde sie von der Stasi beobachtet. Bildrechte: MDR/HR
Ein Bild eines grünen Zettels. Auf ihm steht: Verbrechergruppe: § 175, anscheinendes 60, geb.: 25.3.1881
Verbrechergruppe: § 175. Erst 1994 wurde der Paragraph 175 im vereinten Deutschland endgültig abgeschafft. Bildrechte: MDR/HR
Günter Werner sitzend auf einem Sofa
Günter Werner war erst 16, als er mit einem amerikanischen Soldaten im Bett erwischt wurde: vier Wochen Jugendarrest in Einzelhaft wegen "widernatürlicher Unzucht": Sex mit einem Mann, zu dem es noch nicht einmal kam, weil die Polizei dem Spiel schon vorher ein Ende bereitete. Bildrechte: MDR/HR
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Erinnerung und Entschädigung

Ab den 1970er-Jahren organisierten sich Schwule und Lesben selbst und begannen ihre Geschichte aufzuarbeiten. Dadurch wurde auch die Verfolgung und Diskriminierung während des Nationalsozialismus thematisiert. Es dauerte noch über 20 Jahre, bis der Bundestag die schwulen NS-Opfer 2002 rehabilitierte. Seit 2017 können auch alle nach 1945 auf Grundlage von Paragraf 175 Verurteilten rehabilitiert werden. Der Bund gründete 2011 außerdem die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Die Stiftung soll die Verfolgung der Menschen mit nicht heterosexueller Orientierung aufarbeiten und an sie erinnern.

Homophobie in Deutschland ist auch 2023 noch gegenwärtig. Das Bundeskriminalamt verzeichnete im Jahr 2021 in den Bereichen "Geschlecht/sexuelle Identität" und "sexuelle Orientierung" rund 1.050 Straftaten. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Thüringen Journal | 22. Juni 2022 | 19:00 Uhr

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