Eine Familiendynastie Geschwister Weisheit - 120 Jahre Seiltanz aus Gotha
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19. Februar 2020, 05:00 Uhr
Sie wurden gefeiert, enteignet, des Kunstdiebstahls verdächtig und mit dem Kunstpreis der DDR ausgezeichnet. Auch das Zirkusfestival von Monte Carlo zeichnet sie aus und dennoch: Das Seil ist nicht alles für die Weisheits.
Als hätten die Weisheits nicht schon genug Widrigkeiten in ihrer langen Unternehmensgeschichte durchstehen müssen – nun auch noch das. Als 1979 fünf Gemälde von Altmeistern aus dem Gothaer Schloss verschwanden, wurden zuerst die berühmten Hochseilartisten – die auch noch aus Gotha stammten - verdächtigt. Die Diebe waren über das Fallrohr bis in den dritten Stock geklettert und dort durchs Fenster eingestiegen. Rudolf Weisheit, der Senior-Chef der "Geschwister Weisheit", erzählt: "Als die Bilder gestohlen wurden, kam die Kriminalpolizei erst einmal zu uns. Die können das, klettern das Fallrohr hoch und dann klauen sie die Bilder…".
Ein Familienunternehmen aus Gotha
Die Familie Weisheit: Das sind heute 16 Hochseilartisten, von denen der jüngste, Lenny, sechs Jahre alt ist. Es sind alles Kinder, Enkel und Urenkel von Rudi und Traudel Weisheit. Sie blicken heute auf 120 Jahre bewegte Geschichte zurück, die nicht immer einfach waren. Begründer der Dynastie im Jahr 1900 waren Friedrich Wilhelm und seine Frau Maria, aus der damals schon bekannten Artistenfamilie Traber. Ihre Show bestand aus Theater, Musik und Hochseilnummern. Damals war Seilartistik ziemlich riskant. "Die Seile waren mal war sieben, mal zwölf Meter hoch gespannt und das damals alles ohne Netz, war schon eine gefährliche Sache, das könnte man heute gar nicht mehr machen", sagt Rudi Weisheit.
Ab 1931 führte Sohn Lorenz das Unternehmen als "Arena Weisheit" weiter. Sein größtes Problem war der Personalmangel. Im Krieg waren Familienmitglieder gefallen. Mit seinen Kindern konnte er noch nicht arbeiten, weil sie noch zu jung waren. So begann er nach 1945 zunächst mit einem Zirkus; mit ein bisschen Akrobatik und Tieren.
Enteignung in der DDR
Doch die 50er Jahre waren keine gute Zeit für das Zirkusbusiness. In der DDR waren Privatinitiativen unerwünscht, viele wurden in dieser Zeit enteignet. Auch die Weisheits trifft es. Rudi Weisheit kann sich noch gut an jenen Abend erinnern: "Da waren wir in Aken an der Elbe im Winterquartier, das weiß ich noch wie heute. Da war Schnee und es war schon dunkel, so 20 Uhr rum. Und da höre ich LKW-Motoren, die wurden abgestellt. "Absitzen!", habe ich gehört, dann wurde der kleine Zirkusplatz umstellt. Der Vater wurde enteignet angeblich wegen Steuerhinterziehung und Kleingeldhortung. Ein Witz. Aber so war das eben in der DDR."
Der Vorwurf lautete "Kleingeldhortung". Rudi Weisheit erklärt, was sich dahinter verbarg: "Das war so: Wenn wir gespielt haben, im Sommer, da hat mein Vater die Pfennige und Fünfer und Groschen alle in einen Marmeladeneimer getan und gesammelt. Und im Winter, wenn er Zeit hatte, hat er die gerollt und dann Futter für die Pferde gekauft und sowas. Und das war dann Kleingeldhortung!" Und die war strafbar. Der Vater wurde für zwei Tage eingesperrt und alles beschlagnahmt: Alle Tiere und selbst die Wohnwagen. Rudi und seine älteren Geschwister hielten die Familie die nächsten Wochen mit Straßenmusik über Wasser. Wenn sie vor Gasthäusern spielten, wurden sie oft hinein gebeten und zur großen Freude der Heranwachsenden gut versorgt, freut sich Rudi Weisheit heute noch.
Neuanfang und Berufsverbot
"Und während dieser Zeit hat mein Vater dann wieder angefangen, ein paar Masten zu besorgen. So Holzmasten, die hat er abgeschält, der Förster hat uns geholfen. Und dann haben wir 1953 wieder angefangen mit der Seiltänzerei", erzählt Rudi Weisheit. Rudi selbst war damals elf Jahre alt. Für ihn war das der Beginn seiner Karriere. Er wusste von diesem Moment an, dass er das sein ganzes Leben lang machen möchte.
Zehn Jahre später, 1963, war der Fortbestand des Unternehmens wieder bedroht. Vielleicht hatte es mit dem "Bitterfelder Weg" zu tun. 1959 hatte die Partei beschlossen, dass Kultur zu sozialistischem Bewusstsein erziehen soll. Doch offenbar war das, was die "Geschwister Weisheit" präsentierten, den Funktionären nicht sozialistisch genug. Glamour und traumhafte Akrobatik hoch oben in der Luft, unabhängig, frei. Wegen "Dilettantismus" bekamen die Weisheits im Jahr 1963 Berufsverbot. "Ich habe damals auf dem Mast drei Stühle übereinander gebaut und einen Handstand gemacht, auf dem Mast, der so gewackelt hat. Meine Schwester Marlies ist ein 30 Meter hohes Schrägseil ohne Netz runter gelaufen und hat noch Spagat gemacht, da sind wir mit Fahrrädern gefahren auf dem Hochseil und haben andere tolle Sachen gemacht. Und angeblich war das Dilettantismus."
"...und von da an ging es bergauf"
Weil sie wussten, dass es in der DDR nichts Besseres gab, fuhren Rudi und seine Brüder nach Berlin und kämpften für ihr Unternehmen. Daraufhin gab es eine Art Abnahme: Die Weisheits sollten vor einer Jury auftreten. "Was seltsam war", erzählt Rudi Weisheit. Denn: Die Genehmigung war schon vor Beginn der Aufführung ausgestellt worden. Welche Hintergründe dieses dubiose Geschehen hatte, wissen Weisheits bis heute nicht. Jedenfalls durften ab 1964 wieder auftreten. Rudi Weisheit: "Von da an ging es bergauf, ging es wirklich bergauf. Das Einkommen, was im Sommer reinkam, haben wir auf 12 Monate verteilt, so dass wir immer was hatten. Das haben wir dann immer so gemacht."
Das Verhör wegen des Kunstdiebstahls mussten sie noch über sich ergehen lassen. Zum Glück klärte sich das schnell auf. "Das Material, was die gefunden hatten, die Steigeisen, das gab's in der DDR nicht. Also muss das von der anderen Seite gewesen sein, da waren wir erst einmal raus." Und dann endlich gab es für die "Geschwister Weisheit" die längst fällige Anerkennung. Rudolph Weisheit erhielt 1984 als erster Artist überhaupt den Kunstpreis der DDR – die höchste Auszeichnung für Künstler. Die Wendezeit überlebten die Weisheits mit Durchhaltewillen und wurden noch besser. Jetzt treten sie auch weltweit auf: im Oman, in Monte Carlo, Thailand.
Doppelt gesichert
Tiefe Einschnitte im Laufe des Unternehmens waren die Unfälle. Jedes Mal stellte sich die Frage, ob man weitermachen möchte. Solch einen schweren Unfall hatte Rudis Sohn André 2010. Er fuhr auf dem Hinterrad des Motorrads auf dem Seil, als es plötzlich "bockte" und so in Schwingung geriet, dass er sich nicht festhalten konnte. Aus sechs Metern Höhe stürzte André ab und brach sich Becken und Füße. Zum Glück verlief alles glimpflich. Heute führt er gemeinsam mit seinem Bruder Peter Mario das Unternehmen. Die Brüder haben diesen Unfall genutzt und die Sicherheit nochmal verbessert – auch der Motorradartist ist jetzt gesichert.
Doppelt gesichert ist man bei den Weisheits auch, was die berufliche Entwicklung betrifft. Peter Mario Weisheit: "Es hat jedes Kind bei uns seit meiner Generation die Möglichkeit, sein Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Jedes Kind hat eine abgeschlossene schulische Ausbildung. Es kriegt jedes Kind zwangsweise eine Lehre verpasst. Ich muss sagen zwangsweise, weil die Kinder das nicht wollen. Die möchten auf Tournee bleiben, endlich, wenn sie 18 sind, ihren LKW fahren und Geld mit der Artistik verdienen. Also es ist bei uns Usus, dass jedes Kind noch einen Beruf lernt und möglichst einen, den wir noch brauchen können."
Die Familienschule
Wirklich lernen kann man diesen Beruf nicht anders, als innerhalb der Familie und indem die Älteren die Kleineren trainieren. Es gibt keine Ausbildung für Hochseilartistik. Das Maximum an Ausbildung in diesem Bereich hat Natalia, die Tochter von Peter Mario. Sie ist auch die Mutter von Charly und Lenny, den Jüngsten bei den Weisheits. "Ich war in Berlin auf der Artistenschule, weil das mein Lebensweg war, den ich von klein auf wollte und das hat sich auch nicht geändert und ich hoffe, dass ich das mein Leben lang machen kann", erzählt Natalia Weisheit.
Das würden fast alle Enkelkinder von Rudi so unterschreiben. Nur eines hat das Unternehmen verlassen. Die anderen sieben sind in ihrem besonderen Beruf geblieben. Und die Lebens,- und EhepartnerInnen machen wie selbstverständlich auch mit.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: MDR Zeitreise - Die DDR Dynastien | 16.02.2020 | 22:25 Uhr