Das Leichenhaus von Weimar

28. Oktober 2020, 11:07 Uhr

Das erste Leichenhaus Deutschlands wurde 1792 in Weimar gebaut. Wie kam es dazu? Wer steckte dahinter? Welche Folgen hatte die Einrichtung eines solchen Hauses generell für den Umgang mit den Toten?

Scheintod
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Das Leichenhaus von Weimar wurde Anfang des 19. Jahrhunderts auf Betreiben des jungen Arztes Christoph Wilhelm Hufeland eingerichtet. "Vitae Dubiae Asylum" – das "Heim für die zweifelhaft Lebendigen" nennt er das Haus. Als "höchsten Zweck nennt Hufeland "die Sicherstellung gegen die Gefahr, lebendig begraben zu werden" - denn die Angst vor dem Scheintod ist das große Thema jener Zeit.

Hufeland schafft es die Weimarer Bürgerschaft von der Sinnhaftigkeit der Einrichtung zu überzeugen und 1792 wird das erste Leichenhaus in Deutschland errichtet. Es findet bald - immer weiter modifizierte - Nachahmungen. Zum Beispiel in Berlin, in Frankfurt und München.

Die neuartige Einrichtung auf dem Jakobsfriedhof in Weimar war in mehrerer Hinsicht praktisch: Angehörige konnten ihre Toten nun bis zum Begräbnis im Leichenhaus außerhalb ihrer eigenen, oft beengten Wohnungen verwahren lassen. Durch die mehrtägige Aufbahrung unter Aufsicht eines eigens dafür bezahlten Wächters war außerdem sichergestellt, dass niemand lebendig begraben wurde, weil er fälschlicherweise ins Leichenhaus geschafft worden war.

Das erste und das zweite Leichenhaus Weimars

Das erste Leichenhaus auf dem Jakobsfriedhof hatte einen großen Raum, "worin acht Leichen bequem liegen konnten." Die Toten wurden in Weidenkörbe auf abwaschbare Wachstuchkissen gelegt, die Körbe wiederum standen in mit Pech ausgegossenen Kästen auf Tragen. Der Raum wurde über drei Ofenröhren, die unter dem Fußboden lagen, beheizt. Frischluft kam durch mehrere Zugröhren in den Raum. An den Leichensaal grenzte die Stube des Wächters, der die Toten durch ein Glasfenster beobachtete. Zum Leichenhaus gehörte auch eine Küche mit Hilfsmitteln für warme Bäder, sollte eine Leiche Lebenszeichen von sich geben. Sogar Prämien für die Entdeckung von Lebenszeichen wurden ausgesetzt. Hände und Füße waren durch Fäden mit Schellen verbunden, die durch leichteste Erschütterungen geklappert hätten. Die 24-stündige Nutzung des Totenhauses kostete die Angehörigen der Toten einen Korb Holz und ein Pfund Talglicht.

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Der Neubau und seine technischen Raffinessen

Nachdemdas Leichenhaus auf dem Jakobsfriedhof während des Krieges verfiel, diente es den Weimarern bald nur noch als Leichenkammer, in der Bürger die daheim Gestorbenen aus ihren Wohnungen entsorgten.

Bei dem Mangel an einiger Eleganz wurde es von den höheren Ständen gar nicht mehr benutzt

Dr. Karl Schwabe, 1834

schildert Schwabe rückblickend. Stattdessen wird 1818 auf einem neuen Friedhof ein neuer Totenacker angelegt und ein neues Leichenhaus geplant. Die großgherzogliche Landesdirektion gewährte im April 1823 dafür "3.000 Thaler", verbraucht wurden tatsächlich nur 2.500.

Das neue Leichenhaus, zweigeschossig gebaut, enthielt eine Reihe von Neuerungen. Zusätzlich zum Leichensaal wurde im oberen Geschoss eine Wohn- und Schlafstube eingerichtet. Neu waren auch eine Wiederbelebungsstube und eine sogenannte "Piece", ein Raum für Sektionen. Außerdem gab es einen Rettungsapparat mit Utensilien, mit denen Scheintote den Wächter hätten alarmieren können sowie ein Totenbuch, in dem jeder Leichnam registriert wurde.

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Theoretisch gut - praktisch unpraktisch

Allen Fortschritten zum Trotz - bei der Planung des zweiten Weimarer Totenhauses entpuppte sich manch gut gedachte als Flop. Der Thüringer Arzt Dr. Carl Schwabe gibt 1834 in einer Schrift die Entwicklung der Leichenhaus-Architektur. Zu vermeiden seien mehrgeschossige Bauten wie in Weimar, da die Verwesungsgerüche aus dem Erdgeschoss die Luft der oberen, privaten Räume des Leichenwächters verpesteten. Der Rettungsapparat gehöre ins Erdgeschoss, wie hätte der gerade dem Tod Entkommene die enge Treppe hochgeschafft werden sollen? Auch die Stube, die Piece, im Untergeschoss für Sektionen war zu klein und finster für solche Arbeiten. Kurios aus heutiger Sicht und später von Schwabe moniert: Bei Vollbelegung wären acht Tote - achtzig Finger - mit Schnüren an zwei Weckapparate angeschlossen. Im Falle des Falles hätte der Totenwächter suchen müssen, welcher Tote sich gerührt hatte. - Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Die Weckapparate in Weimar wurden kein einziges Mal ausgelöst.

Vertrauensstifter: Rettungsapparat und Totenbuch

Die wichtigsten, weil vertrauenschaffendsten Inventarstücke war jedoch der sogenannte Rettungsapparat und das Totenbuch. Zum Rettungsapprat gehörten neben Riechsalzen und einem Bett, auch Fingerhüte für jeden Finger eines Toten,welche über Schnüre mit Weckapparaten verbunden waren. Neu war, dass der Leichensaal mit einem Totenbuch ausgestattet war. Unter einer fortlaufenden Nummer wurde jeder eingelieferte Mensch registriert, Name, Tag und Stunde, zu der er ins Leichenhaus gebracht wurde, Zeugnis des Arztes, dass sichere Todeszeichen vorhanden waren und die Leiche begraben werden konnte. Das Datum für die Beerdigung und die Beglaubigung waren nur vom Arzt auszufüllen. So sollte verhindert werden, dass der Totenwächter eigenmächtig Tote zur Beerdigung freigab.

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Gesetze gegen das Lebendigbegraben

Dass "todtscheinende Menschen nicht zu frühzeitig begraben werden" wird inzwischen vielerorts, auch 1792 in Sachsen, zur Staatssache. Der spätere König Friedrich August gibt per Gesetz vor, dass die Toten nun "erst nach 72 Stunden" und nur mit "untrüglichen Kennzeichen" der "eintretenden Fäulnis" zu begraben sind.

Gemindert, aber nicht ausgerottet: Die Angst vor dem Scheintod

Die Einrichtung des Leichenhauses brachte eine generelle Änderung im Umgang mit dem Tod und den Verstorbenen mit sich.

Das hiesige Publikum hat wohl vorzüglich durch diese Einrichtung volles Vertrauen zu der ganzen Leichenhausanstalt gewonnen,

Karl Schwabe

stellte Carl Wilhelm Schwabe 1834 fest. Friedhofsanlagen gewannen so generell an Ansehen und der Schrecken des Todes wurde gemildert. Das Leichenhaus wurde zum Ort, an dem Angehörige in Würde Abschied nehmen und trauern konnten.

Der Angst vor dem Scheintod und dem Lebendig begraben werden, wurde von Weimar ausgehend, erfolgreich bekämpft, allerdings nicht ausgerottet. Auch heute gibt es immer wieder Meldungen über Totgeglaubte, die in Leichenhäusern erwachen. Sie rufen den gleichen Schauder hervor, wie bei den Erzählungen und Berichten aus anderen Jahrhunderten. Schließlich ist der Gedanke, scheintot begraben zu werden, zeitlos beängstigend.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im Radio: MDR THÜRINGEN - Das Radio | 03.10.2020 | 18:37 Uhr

Standort der ehemaligen Heimatschule und des KZ Nohra
Standort der ehemaligen Heimatschule und des KZ Nohra im Februar 2023. Das Gebäude wurde 1951 abgerissen und durch einen Treibstoffbunker ersetzt, der in den frühen 2000er-Jahren abgetragen wurde. Im Hintergrund ist der Glockenturm der KZ-Gedenkstätte Buchenwald zu sehen. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK