DDR-Verkehr in der Wendezeit Anarchie auf den Straßen der DDR
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28. Juli 2022, 11:16 Uhr
Nach der Wende herrschte auf den ostdeutschen Straßen Narrenfreiheit: Jeder fuhr, wie er wollte – Gesetze waren außer Kraft und die Polizei sah hilflos zu.
Bis zum Herbst 1989 war es auf den Straßen der DDR wohlgeordnet und vor allem gemächlich zugegangen. Im Land der schwindsüchtigen Trabis (24 PS und 110 Stundenkilometer Spitze) und der heulenden Wartburgs (50 PS und knapp 130 Spitze), in dem ein russischer Lada bereits als flotte Luxuskarosse galt, waren Geschwindigkeitsüberschreitungen und Raserei trotz niedriger Tempolimits (80 km/h auf Landstraßen, 100 km/h auf Autobahnen bei strikter Null-Promille-Grenze) kein übermächtiges Problem der Ordnungshüter gewesen. Auch war das Verkehrsaufkommen einigermaßen gering – in den Abendstunden konnte man selbst auf den Hauptstraßen größerer Städte gefahrlos Federball spielen.
Verrückt auf Westautos
Mit dieser Beschaulichkeit auf den Straßen des kleinen Landes war es mit dem Fall der Mauer ein für allemal vorbei. Die Zeit der großen Motorisierung brach an. Die DDR-Bürger konnten sich nun ohne die üblichen und bis zu zwölf Jahre währenden Wartezeiten Trabis und Wartburgs zulegen oder gleich schnelle Modelle aus dem Westen, bevorzugt dabei: Audi, BMW, VW Golf. Bereits im ersten Halbjahr 1990 wurden mehr als eine Million Fahrzeuge in der DDR neu angemeldet.
Damals machten westdeutsche Gebrauchtwagenhändler im Osten den Reibach ihres Lebens. An Dorfrändern und auf Trümmergrundstücken richteten sie ihre Märkte ein und verklingelten den auf "richtige Autos" versessenen ostdeutschen Landsleuten ihre auf Tiefladern eilig heran gekarrten Karossen. "Autos unter 8.000 Mark gehen wie geschmiert", jubelte die "Deutsche Automobil Treuhand". Darunter war auch so manche Rostlaube, die im Westen gar nicht mehr durch den TÜV gekommen wäre. Aber in der DDR kümmerte sich niemand um den technischen Zustand der importierten Gebrauchtwagen. Und so machten unentwegt Geschichten von Autokäufern die Runde, deren neu erworbene Westautos nach wenigen hundert Metern einfach stehen blieben und nur noch heftig qualmten.
Freie Fahrt für freie Bürger
Aber auch solch niederschmetternde Erfahrungen konnten den Drang der Ostdeutschen nach Mobilität nicht nachhaltig dämpfen. Und wenn sich Ministerpräsident Lothar de Maizière von der CDU den künftigen Straßenverkehr in seinem Territorium ausmalte, klang er schon ganz so wie seine Parteifreunde aus der Bundesrepublik: "Wir sind für höhere Geschwindigkeiten auf sicheren Autobahnen mit sicheren Fahrzeugen." Dass nach der deutschen Einheit das Tempolimit fallen und es auch keine Null-Promille-Grenze mehr geben werde, war auch Bundesverkehrsminister Friedrich Zimmermann (CSU) sonnenklar: "Ich sehe keine Veranlassung, wegen der Verkehrsunion mit der DDR ein Tempolimit und ein striktes Alkoholverbot in der Bundesrepublik einzuführen."
Anarchie im DDR-Straßenverkehr
In der DDR begannen nun aber erst einmal die Tage der Gesetzlosigkeit – der vollkommenen Anarchie im Straßenverkehr. Jeder fuhr so schnell wie er konnte, Verkehrsschilder galten als reine Dekoration des Straßenrands und auch ein paar Bier oder eine halbe Flasche Wodka waren kein ernsthafter Grund, das Auto stehen zu lassen. Hinzu kam, dass mancher ehemalige Trabant- oder Wartburg-Fahrer die Kraft seines neuen Golf GTI oder Audi Quattro unterschätzte und gefährlich ins Schlingern geriet. Aber es galt halt die Devise: Wer bremst, hat verloren. "Die Autofahrer legen seit der Wende einen unglaublich aggressiven und rücksichtslosen Fahrstil an den Tag", klagte Steffen Lorenz von der Chemnitzer Polizei. TÜV-Psychologen erklärten dieses Phänomen folgendermaßen: "Die Verkehrsdisziplin wird von den Autofahrern bewusst ignoriert, da sie so ihre neu gewonnene Freiheit auch im Straßenverkehr zum Ausdruck bringen wollen."
Schwere Unfälle mehren sich
Die Gesetzlosigkeit auf den ostdeutschen Straßen hatte freilich ernste Folgen: Im Bezirk Leipzig etwa gab es im ersten Halbjahr 1990 insgesamt 4.006 Unfälle, 40 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Dabei kamen 116 Menschen ums Leben, mehr als doppelt so viele wie in den ersten sechs Monaten 1989. Und so wie in Leipzig verhielt es sich überall in der Republik. Die Unfallzahlen schossen in die Höhe. Doch die Verkehrspolizei konnte das Treiben auf den zu Todespisten mutierten Straßen Ostdeutschlands nur mehr oder weniger hilflos registrieren.
Die Polizei ist machtlos
Schnell hatten die Autofahrer bemerkt, dass Verkehrskontrollen kaum noch stattfanden. "Mir fehlen die Leute", befand der Leipziger Verkehrspolizist Helmut Büschke. Und wenn die Polizei tatsächlich mal einen Raser verfolgen wollte, hatte der allerdings keine Mühe, die Ordnungshüter in ihren Wartburgs oder Ladas locker abzuhängen. "Es herrscht Narrenfreiheit", resümierte Büschke traurig. Aber die Volkspolizisten besaßen auch keine Autorität mehr, galten sie doch als Repräsentanten des alten Systems. Zudem mussten sie in einer Art rechtsfreiem Raum agieren – was gestern noch galt, konnte schon morgen ganz anders sein. Und dieser Umstand vergrößerte noch ihre Verunsicherung. Und so kam es, dass sie das anarchische Geschehen auf den Straßen der untergehenden DDR nur noch still beobachteten und im Übrigen auf bessere, sprich geordnete Zeiten warteten.
(Alle Zitate aus: "Der Spiegel", Januar, Juli 1990 und Februar 1991)
Zuerst veröffentlicht am 31.03.2011.
Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV: Damals nach der DDR | 01.11.2011 | 22:05 Uhr