Debatte um Atomenergie DDR-Atomkraftgegner im Interview: "Kein Mensch hörte auf die Warnungen"
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12. Dezember 2021, 11:15 Uhr
Dr. Gerhard Loettel, promovierter Chemiker und Pfarrer, gehörte zu den ersten Kritikern der Atomenergie in der DDR. Er setzte sich bereits ab 1981 gegen die Nutzung der Kernkraft ein. Im Interview erzählt "Damals im Osten", wie er in der DDR den Umgang mit der Katastrophe von Tschernobyl erlebte.
Erinnern Sie sich noch an den 26. April 1986?
Dr. Gerhard Loettel: Es war Frühling. Draußen grünte alles. Wir hatten einen Garten und freuten uns darauf, die erste Petersilie zu essen.
Und dann?
Es gab Gerüchte über eine radioaktive Wolke und einen Unfall in einem Kernkraftwerk. Aber wir wussten nichts Genaues.
Wann wurde klar, dass es sich um einen Reaktorunfall handelte?
Die Informationspolitik in der DDR war katastrophal. Es gab nur ganz spärliche Informationen. Drei Tage nach dem Unfall stand in der Zeitung, dass sich eine Havarie in Tschernobyl ereignet habe. Einige Tage später hieß es: 'Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist die Strahlung unter Kontrolle.' Das war natürlich Unsinn.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe Freunden und Bekannten erzählt, wie gefährlich der Reaktorunfall ist. Nach dem radioaktiven Regen, der im Raum Magdeburg in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai herunterkam, habe ich ihnen gesagt, dass sie nicht in den Regen gehen dürfen, dass sie kein Gemüse aus dem Garten essen sollen und so weiter. Es war ja alles verseucht. Selbst ich wagte mich kaum noch aus dem Haus.
Woher wussten Sie von dem radioaktiven Regen?
Ich hatte einen Bekannten an einem Institut an dem Strahlungsmessungen vorgenommen worden waren. Dieser gehörte, wie ich, der evangelischen Kirche an. Er war eine meiner ersten Informationsquellen - obwohl eigentlich nichts nach außen durchdringen sollte. Die Messwerte waren nach dem Regen um ein Tausendfaches höher; das durfte natürlich nicht veröffentlicht werden.
Deshalb war vielen die Gefahr nicht bewusst.
Das war eine ganz schreckliche Erfahrung. Gegenüber meinem Haus gab es einen Kindergarten. Dort spielten die Kinder draußen im Sand.
Ich bin zu der Leiterin des Kindergartens gegangen und habe sie aufgefordert, die Kinder hereinzuholen. Doch sie erwiderte nur: 'Das darf ich nicht. Offiziell ist doch nichts passiert.' Kein Mensch hörte auf die Warnungen, die im Westen schon längst herausgegeben waren.
Wie reagierten die Leute aus Ihrem Umfeld?
Einige nahmen meine Warnungen ernst. Aber ich erhielt auch Antworten wie 'Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand!' Andere versuchten vor allem abzulenken. Sie fragten mich: 'Rauchen Sie? Es gibt so viele Leute, die rauchen. Das ist doch viel gefährlicher als das, was wir mit den Atomkraftwerken und den Endlagern machen.' Auch Autounfälle wurden als Vergleich herangezogen.
Haben Sie sich davon beeindrucken lassen?
Ich habe weitergemacht. Ich schrieb Leserbriefe an Zeitungen, in denen ich auf die Risiken der Kernenergie aufmerksam machte. Meine Briefe wurden allerdings nicht abgedruckt. Ich erhielt nur beschwichtigende Antworten. Später habe ich in kirchlich organisierten Gesprächskreisen Vorträge gehalten, um auf die Gefahren der AKW hinzuweisen.
Hatten Sie damals auch Kontakt zu staatlichen Stellen?
Zwei Jahre nach Tschernobyl schrieb ich einen Brief an das "Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz". Ich wollte wissen, ob es Katastrophenpläne und strahlungssichere Orte für Nahrungsmittel gab. Daraufhin haben sie mich nach Berlin eingeladen. Doch auch hier wurde wieder nur abgewiegelt.
Waren Ihre Aktivitäten trotzdem ein Erfolg?
Die Katastrophe von Tschernobyl führte dazu, dass die Leute für die Gefahren der Kernenergie sensibilisiert wurden. Tschernobyl war der Ausgangspunkt für viele, sich in Umweltgruppen zu sammeln und zu engagieren. Es gab Proteste, zum Beispiel in Stendal, wo ein neues AKW gebaut wurde. Neben der Kernenergie wurden aber auch andere Umweltthemen wie Luftverschmutzung oder Waldsterben thematisiert.
Jetzt, 25 Jahre später, droht in Japan eine nukleare Katastrophe. Wenn Sie sich heute die Reaktionen deutscher Politiker anschauen, sehen Sie Parallelen zur damaligen Zeit?
Da sehe ich ganz starke Parallelen! Damals ging es der Staats- und Parteiführung immer darum, die DDR-Wirtschaft unabhängig von der Weltwirtschaft zu machen, deshalb waren die Wirtschaftler auch in die Regierung eingebunden. Heute ist das direkte Wirtschaftsinteresse zwar von der Politik abgekuppelt, aber die Einflussnahme über Lobbykreise ist genauso groß. Damals wie heute wird abgewiegelt und beschwichtigt: 'Bei uns gibt es so etwas nicht. Unsere AKW sind sicher'."
(Interview aus dem Jahr 2011)
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Kleine Arbeiten zur Philosophie / Bd. 45 Verlag Die Blaue Eule, Essen, 2000
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