Hinter einem Stacheldrahtzaun sind Gebäude des Chemnitzer Kaßberg-Gefängnisses sichtbar.
Bildrechte: MDR/Nora Kilenyi

Chemnitzer Kaßberg-Gefängnis wird zur Gedenkstätte "Aber die Gedanken sind frei"

04. Juni 2021, 14:15 Uhr

Damit jüngere und jüngste Geschichte nicht in Vergessenheit gerät, wird das ehemalige NS- und Stasi-Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg zur Gedenkstätte ausgebaut. Es fließen Fördergelder von insgesamt 3,8 Millionen Euro. Das Gefängnis ist vor allem dafür bekannt, dass ca. 90 Prozent der Häftlinge, die durch den Westen freigekauft wurden, auch dort Station machen mussten. MDR ZEITREISE wollte aber auch wissen, was aus denen wurde, die in Chemnitz blieben. Einer von ihnen ist der Schwarzenberger Künstler Jörg Beier.

Nicola Ramminger
Bildrechte: Nicola Ramminger

Wer in der DDR politisch in Ungnade fiel oder einen "Ausreiseantrag" stellte und damit die "Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR" beantragte, musste mit Schikanen rechnen. Nicht wenige landeten im Stasi-Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg. Bislang gibt es in dem früheren Gefängnis nur einen bescheidenen Erinnerungsort. Das wird sich nun ändern.

Kaßberg-Gefängnis: die größte U-Haft-Anstalt in der DDR Das Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg wurde im Jahre 1886 errichtet. In der NS-Zeit wurde es als Haftanstalt und für Untersuchungshaft genutzt, auch von der Gestapo (Geheime Staatspolizei in der Nazi-Zeit). Das Gefängnis diente der Gestapo zur Inhaftierung politischer Gegner und der Verfolgung Chemnitzer Juden. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war es zunächst ein sowjetisches Untersuchungsgefängnis.

1952 wurde das Gefängnis an die DDR übergeben. Es war die größte Untersuchungshaftanstalt in der gesamten DDR. Nach Angaben der stellvertretenden Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur waren etwa 90 Prozent der freigekauften DDR-Häftlinge aus verschiedenen Gefängnissen auf den Kaßberg in Chemnitz verlegt worden. Das dortige Gefängnis wurde zur zentralen Drehscheibe des deutsch-deutschen Häftlingsfreikaufs. Dort blieben sie meist mehrere Wochen und wurden dann in Sammeltransporten über den innerdeutschen Grenzübergang Wartha/Herleshausen in das Notaufnahmelager Gießen in Hessen gebracht.

Das ehemalige NS- und Stasi-Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg soll nun zur Gedenkstätte ausgebaut werden. Sachsens Kulturministerin Barbara Klepsch hatte dazu am 26. Oktober 2020 in Chemnitz einen Förderbescheid über insgesamt 3,8 Millionen Euro übergeben Die Gedenkstätte soll im ehemaligen Hafttrakt B entstehen.

Kaßberg - das Tor zur Freiheit?

Für diese Gedenkstätte setzt sich auch ein ehemaliger Häftling auf dem Kaßberg, der Schwarzenberger Künstler Jörg Beier, ein. Anders als viele andere Inhaftierte, ist er nicht vom Westen freigekauft worden.

Gegen Devisen, aber auch Diamanten, Erdöl und Südfrüchte kaufte die Bundesrepublik Deutschland nämlich politische Gefangene aus der DDR heraus. Dieser Menschenhandel spülte Geld in die klammen Kassen Ostberlins. "Freikauf" lautete der Begriff für eines der geheimsten und bis heute umstrittensten aller deutsch-deutschen Geschäfte. Auf bundesdeutscher Seite wurde dieser Handel als "besondere humanitäre Bemühung" bezeichnet: Ein Deal, der jahrzehntelang im Verborgenen blieb, aber genau so lange realer Alltag im geteilten Deutschland war. Das Kaßberg-Gefängnis war die zentrale Durchgangsstation für fast alle durch die Bundesrepublik freigekauften DDR-Gefangenen. Beier erzählt im Interview, dass diese Inhaftierten auf dem Kaßberg regelrecht "aufgepäppelt worden seinen für ihre Reise in den Westen". Zwischen 1962 und 1989 waren es mehr als 30.000 Menschen.

Wenige Häftlinge blieben in der DDR: Jörg Beier

Jörg Beier
Jörg Beier war in seiner erzgebirgischen Heimat tief verwurzelt und hatte nie vor, in den Westen zu gehen. Bildrechte: Nicolá Ramminger

Doch wie hat die Zeit im Stasigefängnis geprägt? Was ist aus Menschen geworden, die eben nicht in den Westen gingen? Stellevertretend für diese Inhaftierten soll hier die Geschichte von Jörg Beier vorgestellt werden. Am 25. Juli 1969 wurde er vor einer Urlaubsreise nach Bulgarien in das Volkspolizeikreisamt Schwarzenberg bestellt und verhaftet. Der Vorwurf lautete: geplante Republikflucht. Jörg Beier war danach bis zum Mai 1970 in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit auf dem Kaßberg inhaftiert. MDR ZEITREISE sprach mit ihm darüber.

Warum wurden Sie inhaftiert?

Ich wollte nach Bulgarien in den Urlaub. Ein Freund, mit dem ich dahin wollte, der in Zwickau studierte, sagte damals unter seinen Kommilitonen irgendwo im Spaß: 'Ich schreib' eine Postkarte aus Griechenland.' - Das reichte.

Und warum wurden Sie vom Westen nicht freigekauft?

Ich wollte nicht weg, das hatte ich nie vor. Ich war und bin sehr verbunden mit meiner Familie, steckte damals mitten im Studium und hatte das gar nicht in Betracht gezogen. Ich war systemkritisch, ja, aber ich wollte hier freier leben. Ich wollte hier etwas zum Positiven verändern. Erst nach meiner Untersuchungshaft habe ich erfahren, dass Kaßberg vor allem auch ein Durchgangslager für Freigekaufte war. Ich habe nie einen Ausreiseantrag gestellt.

Wie hat die Zeit im Gefängnis Ihr Leben verändert?

Da ich nur das Leben gelebt habe, weiß ich nicht, wie es ohne den Gefängnisaufenthalt gewesen wäre. Es ist mir aber schon sehr an die Nieren gegangen und ich brauchte danach Hilfe zur Verarbeitung. Insgesamt bin ich aber recht gut durchgekommen. Ein aalglatter Lebenslauf wäre wohl nicht meiner gewesen. Ich glaube, ich kann Menschen heute besser einschätzen. Ich glaube auch, dass meine Sinne geschärft wurden, ich kritischer wurde und mehr hinterfrage und auch wesentlich sensibler wurde. Ich konnte an den Schritten im Gang hören, welcher Wärter da war. Auch die Bedeutung von Schrift oder Gedrucktem wurde mir in der Zeit des Mangels besonders bewusst.

Ich kann meine Haftzeit auf dem Kaßberg auch schwer von der in Cottbus trennen, wo ich danach inhaftiert war. Bei einem Tag der offenen Tür bin ich nach der Wende relativ frohen Mutes dort hin und habe nie geglaubt, was es mit mir macht. Ich kam am ganzen Körper zitternd wieder heraus, habe meine Videokamera verloren und sie schließlich selbst mit dem Auto überfahren. Ich war völlig von der Rolle. Also hat das schon etwas hinterlassen, das einem gar nicht bewusst ist.

Was hat Ihnen in der Haftzeit Halt gegeben?

Das war das Wissen, dass ich mir nichts vorzuwerfen hatte und die innige Verbindung zu meiner Familie. Außerdem kann ich mich gut mit mir selbst beschäftigen, kann stundenlang nachdenken. Darum haben mich auch über drei Monate Einzelhaft nicht brechen können. Wenn aber junge Frauen nach ihrer Mutter riefen, ging mir das doch sehr nahe. Auch sind mir Dinge bewusst geworden, die es in der Freiheit vielleicht nicht geworden wären: Auf den zwanzigminütigen Hofrundgängen wurde mir z.B. bewusst, wie wichtig ein Blick auf ein Stückchen grünen Baumes sein kann, wenn man sonst aus dem Gefängnishof nur in den Himmel blicken kann. Alle versuchten, einen Blick auf den Baum zu erhaschen, waren regelrecht süchtig danach. Auch dieser Baum hat mir Halt gegeben. In der Freiheit hätte ich diese Bedeutung nicht erfassen können.

Warum engagieren Sie sich für den Gedenkort Kaßberg?

Es ist mir wichtig, die Erinnerung wach zu halten. Ich habe, wenn ich in Chemnitz war, den Kaßberg über Jahre gemieden und bin einen riesen Bogen darum gefahren. Aber der Ort darf nicht das letzte Wort haben. Die Leute, die dort durchgeschleust wurden, um in den Westen zu gehen, wurden teilweise aufgepäppelt usw. Aber es gab eben auch die andere Seite: Demütigung, Erniedrigung, Nachtverhöre - das ganze Programm. Das darf nicht vergessen werden, ebenso wie die NS-Geschichte von Kaßberg. Es waren viele Künstler und Schriftsteller unter den Inhaftierten. Ich hoffe, dass wir zusammen die Geschichte aufarbeiten können und künstlerisch einen etwas anderen Gedenkort schaffen können. Das sogenannte "Tor zur Freiheit", der sogenannte "Aufpäppelknast" ist wichtig, aber eben nur die eine Seite. Auch die andere Seite mit Nachtverhören und Nackt-Ausziehen-Müssen usw. darf nicht vergessen werden. Das ist mir wichtig.

Das Interview wurde am 31.10.2020 geführt.


Jörg Beier Bemerkenswert und berührend ist der Briefwechsel Beiers aus dem Gefängnis, der im Jahr 2015 in dem autobiografischen Buch "Aber die Gedanken sind frei. Briefe durch die Gitter" erschienen ist. Darin sind Aktenauszüge und der Schriftwechsel mit seiner Familie während der politischen Haft zu lesen. Jörg Beier erzählt, dass er einer der ganz wenigen ist, der seine Briefe aus der Gefängniszeit habe. Er habe bei seiner Entlassung darauf bestanden, dass man sie ihm aushändigte. Er habe gesagt: "Sonst gehe ich hier nicht weg."

Bis zum Mai 2021 lebte und arbeitete Jörg Beier als Künstler in Schwarzenberg. Viele Jahren engagiert er sich im Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis e.V. für den Aufbau der Gedenkstätte - und fühlt sich heute tatsächlich in seinem Urlaub auf der griechischen Insel Korfu wohl. Ob er Postkarten geschrieben hat?

Über dieses Thema berichtete der MDR im: 26. Oktober 2020 | 19:00 Uhr

Mehr zum Thema